| # taz.de -- #meTwo-Debatte: Jammern auf hohem Niveau | |
| > #meTwo ist ein Elitendiskurs, geführt aus einer privilegierten Position | |
| > heraus. Verteilungsfragen werden einfach ignoriert. | |
| Bild: Armut ist, was viele Diskriminierte tatsächlich verbindet | |
| Ja, ich habe einen deutlich sichtbaren Migrationshintergrund. Nein, ich | |
| habe nicht mitgetwittert, als unter dem Hashtag #meTwo Menschen mit | |
| Zuwanderungsgeschichte ihre [1][Diskriminierungserfahrungen schilderten]. | |
| Hunderte Twitter-Nutzer berichteten in den vergangenen Wochen von | |
| rassistischen Sprüchen, Racial Profiling durch die Polizei und | |
| Diskriminierung bei der Wohnungssuche. Diese Schilderungen haben auch mich | |
| bewegt und zeigen die Realität eines [2][ebenso verbreiteten wie | |
| alltäglichen Rassismus] in diesem Land. | |
| Aber dann gibt es noch die zahlreichen anderen Äußerungen, die bei allem | |
| Verständnis für die persönliche Kränkung eher trivial anmuten und die Frage | |
| aufwerfen, ob der Kampagne nicht etwas mehr Differenzierung und etwas | |
| weniger moralisches Pathos guttun würden. | |
| Mehrere Nutzer beschweren sich etwa darüber, für ihr gutes Deutsch | |
| Komplimente zu bekommen oder nach der „wahren“ Herkunft gefragt worden zu | |
| sein. In solchen Schilderungen zeigt sich – wie bereits bei der | |
| #meToo-Debatte um sexuelle Belästigung – ein stellenweise bedenkliches | |
| Unvermögen zur kritischen Bewertung und Einordnung der eigenen Erfahrung. | |
| Ein ignorantes „Kompliment“ der oben beschriebenen Art ist nicht | |
| notwendigerweise Ausdruck eines oppressiven gesellschaftlichen Rassismus. | |
| Trotzdem trendeten Beiträge, die bestenfalls Banalitäten beschreiben. Wer | |
| auf solche Unterschiede hinweist, wird mit dem Argument abgebügelt, als | |
| Weißer könne man nicht wissen, was Migranten erdulden müssten. Bei #meToo | |
| [3][lief die Debatte ähnlich]. Damals hieß es, Männer sollten sich nicht | |
| äußern. | |
| ## Bestenfalls banal | |
| Doch wenn die subjektive Wahrnehmung zum alleinigen Maßstab für | |
| tatsächliche oder nur gefühlte Diskriminierung wird, ist nicht nur jegliche | |
| sachliche Differenzierung, sondern letztlich der Diskurs selbst | |
| gescheitert. Worüber soll man noch reden, wenn das subjektive Erfahrene | |
| nicht mehr in Frage gestellt werden darf? Und was sind dann #meToo und | |
| #meTwo: Beiträge zu einer echten Debatte oder trotzig in die Welt | |
| hinausgeschrie(b)ene Abrechnungen mit jedem, der einem einmal unrecht tat? | |
| Wie auch immer man zu diesen Fragen stehen mag, der immanenten Logik von | |
| #meTwo folgend darf ich mich zum Thema Diskriminierung äußern. Denn, wie | |
| bereits erwähnt: ich habe einen deutlich sichtbaren Migrationshintergrund. | |
| Mein Vater stammt aus Sri Lanka und hat mir schwarze Haare und einen | |
| entsprechenden Teint vererbt. Auch ich habe Erfahrungen mit Rassismus | |
| gemacht. In der Schule nannten mich Mitschüler „Affe“, Racial Profiling | |
| habe ich mehrfach erlebt. Joviale Komplimente für mein gutes Deutsch kenne | |
| ich, den schon fast klassischen Sprengstoff-Test am Flughafen, dem ich mich | |
| (Security: „Zufallsprinzip“) bei fast jeder Reise unterziehen muss, auch. | |
| Dennoch habe ich nicht das Bedürfnis, mich darüber öffentlich zu | |
| beschweren. Denn all diese Erfahrungen haben mich nicht daran gehindert, | |
| mein Leben so zu leben, wie ich es möchte. Es würde mir nicht plausibel | |
| erscheinen, mich selbst per Twitter als „Opfer“ zu stilisieren, und sei es | |
| „nur“ als Opfer von Rassismus, denn das bin ich nicht und das möchte ich | |
| auch nicht sein. | |
| ## Kleiner Zirkel, gut vernetzt | |
| Ich verdiene zwar (wie alle taz-Mitarbeiter) wenig Geld, aber habe das | |
| Privileg, Redakteur einer überregionalen Tageszeitung zu sein. Ich kann | |
| selbstbestimmt arbeiten, komme mit vielen interessanten Menschen in | |
| Kontakt, habe schon in Ländern auf mehreren Kontinenten recherchiert und | |
| bekomme ständig kostenlose Bücher zugeschickt. Kurz gesagt: Mir geht es | |
| eigentlich ziemlich gut. Den meisten Menschen, die mich in meinem Leben | |
| rassistisch beleidigt haben, bin ich in meiner gesellschaftlichen Stellung | |
| sowie mit Blick auf die mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, meine | |
| Kritik zu artikulieren, vermutlich deutlich überlegen. Und das gilt, | |
| zumindest dem Anschein nach, auch für die meisten Menschen, die sich unter | |
| #meTwo äußern. Es sind Journalisten, Buchautoren, Politiker – Menschen, | |
| die zu einem erheblichen Teil über Privilegien verfügen, von denen viele | |
| der „alten weißen Männer“, denen sie mangelnde Empathie für | |
| Rassismuserfahrungen vorwerfen, nur träumen können. | |
| Ständig verlangen progressive Linke (mit und ohne Migrationshintergrund) | |
| von diesen „alten weißen Männern“, die eigenen Vorrechte zu hinterfragen, | |
| ohne dass sie selbst das täten. Stattdessen wird der Diskurs bei Twitter | |
| vor allem von der Verabsolutierung der eigenen – tatsächlichen oder | |
| vermeintlichen – Diskriminierungserfahrungen geprägt. Dabei lohnt ein Blick | |
| auf das Netzwerk selbst, um die soziale Exklusivität der Nutzer zu | |
| verdeutlichen. Fast zwei Drittel der deutschen Twitter-Nutzer hatte laut | |
| einer Umfrage 2017 Abitur oder sogar studiert. Ein großer Teil ist in der | |
| Medienbranche, der Politik oder im PR-Bereich tätig und besitzt bereits aus | |
| diesem Grunde eine hohe öffentliche Artikulationsfähigkeit. Unter #meToo | |
| und #meTwo twittern nicht etwa Menschen, die im Diskurs nicht zu Wort | |
| kommen: es sind Menschen, denen man ohnehin schon zuhört. | |
| Es ist mit wenigen Ausnahmen eben nicht der arabischstämmige Jugendliche, | |
| der wegen Diskriminierung durch Lehrer mit Hauptschulabschluss in die | |
| Leiharbeit gedrängt wird, der seine Erfahrungen schildert – sondern | |
| vornehmlich ein kleiner Zirkel gut artikulierter und vernetzter | |
| Medienmenschen. Was als breite gesellschaftliche Kampagne verkauft wird, | |
| ist tatsächlich zu erheblichen Teilen ein Elitendiskurs, dessen Bedeutung | |
| jenseits von Twitter vermutlich gering ist – zumal ohnehin nur etwa 5,7 | |
| Prozent der deutschen Bevölkerung auf Twitter unterwegs sind und sich nicht | |
| einmal dort alle Nutzer mit #meTwo beschäftigen. | |
| Anstatt sich auf die Suche nach den schwächsten Mitgliedern der | |
| Gesellschaft zu machen und ihre Geschichten zu erzählen, verbreiten viele | |
| #MeTwo-ler lieber ihre eigenen vermeintlichen Traumata. Ist das wirklich | |
| die Aufgabe von Personen des öffentlichen Lebens, speziell von | |
| Journalisten? Oder wäre es nicht vielmehr vonnöten, über den eigenen | |
| Tellerrand hinauszublicken und auch denjenigen Gehör zu verschaffen, die | |
| sich nicht auf Twitter äußern können oder möchten? | |
| ## Überhöhter Opferstatus | |
| Womöglich würden sie von ärmeren Menschen mit Migrationshintergrund auch | |
| ganz andere Klagen zu hören bekommen als die über peinliche „Komplimente“. | |
| Etwa über die Aussicht auf schmale Rente (über 40 Prozent der Migranten | |
| waren 2013 von Altersarmut bedroht), niedrige Löhne (35 Prozent arbeiten im | |
| Niedriglohnsektor) und Hartz IV (die Hälfte der ALG-II-Empfänger hat einen | |
| Migrationshintergrund). Doch für solche Verteilungsfragen interessiert sich | |
| die Twitter-Elite kaum – etwa weil sie selbst nicht betroffen ist? Ist das | |
| der Grund dafür, warum sich Linke für Menschen mit Migrationshintergrund | |
| stets nur als Opfer von Rassismus interessieren und nur selten als Opfer | |
| der herrschenden Wirtschaftsverhältnisse? Womöglich auch deshalb, weil sie | |
| selbst Nutznießer dieser Verhältnisse sind? | |
| Die Überhöhung des Opferstatus bestimmter Minderheiten sorgt jedenfalls | |
| nicht dafür, dass antirassistische Forderungen gesellschaftlich | |
| anschlussfähig werden – höchstens bei einer vermeintlich progressiven | |
| wohlsituierten Mittelschicht, die sich längst von Verteilungsfragen | |
| abgewendet hat und ihren Wohlstandsscham affirmativ auf Minderheiten | |
| projiziert, anstatt gegen Hartz IV und für gerechtere Löhne ins Feld zu | |
| ziehen. Die Leiharbeiter jeglicher Hautfarbe fragen sich vielleicht, warum | |
| man in den Altbauvierteln deutscher Großstädte über die Ausbeutung Afrikas | |
| durch Westeuropa diskutiert, dabei aber die Verteilungsfragen weitgehend | |
| ignoriert, die Schwarze und Menschen ohne sichtbaren Migrationshintergrund | |
| vor der eigenen Tür gleichermaßen betreffen. | |
| Nicht weiße Männer, die migrantische Perspektiven nicht verstehen, sind das | |
| hervorstechendste Problem dieser Gesellschaft, sondern dass viele wenig und | |
| wenige viel besitzen. Die gemeinsame Erfahrung, sich die Miete nicht mehr | |
| leisten zu können und keine Rente, von der man leben könnte, erwarten zu | |
| dürfen, verbindet Millionen Menschen – Schwarze und Weiße, Homos und | |
| Heteros, Männer und Frauen. Es ist Zeit, wieder stärker Verteilungsfragen | |
| in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt lediglich die identitätspolitische | |
| Anerkennung des eigenen Leids einzufordern. #allOfUs | |
| 9 Aug 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jörg Wimalasena | |
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