# taz.de -- Neuer Neuköllner Integrationsbeauftragter: „Wir brauchen positiv… | |
> Seit dem Mord an Nidal R. wird über kriminelle Clans geredet. Doch die | |
> organisierte Kriminalität sei nicht der Normalfall, sagt Neuköllns | |
> Integrationsbeauftragter Jens Rockstedt. | |
Bild: Polizeiwagen vor dem mittlerweile entfernten Wandbild des ermordeten Nida… | |
taz: Herr Rockstedt, nach vielen Medienberichten konnte man zuletzt den | |
Eindruck bekommen, ganz Neukölln sei quasi in der Hand von „arabischen | |
Großfamilien“. Ist das so? | |
Jens Rockstedt: Nein, das ist übertrieben. | |
Wenn ich auf der Sonnenallee zu einem arabischen Bäcker gehe – wie groß ist | |
die Wahrscheinlichkeit, dass der Schutzgeld bezahlen muss? | |
Der Bäcker wird Ihnen sagen, er muss nichts zahlen – vielleicht nur aus | |
Angst. Ich glaube aber schon, dass das an der Tagesordnung ist. | |
Nidal R. hat als Kind, als Jugendlicher mit kleinen Delikten angefangen und | |
wurde dann zum Intensivtäter. Wie wird eigentlich der Nachwuchs für die | |
„Großfamilien“ rekrutiert, kann man überhaupt von gezielter Rekrutierung | |
sprechen? | |
Eine Vermutung von mir: Das ist ein Familiending. Die Eltern leben es vor, | |
die Kinder haben Bruder, Cousins, Ältere, die alle dieses Vorbild leben. | |
Sie streben danach, ihren Vorbildern zu folgen und so Anerkennung zu | |
bekommen – und schlagen dann dieselbe kriminelle Karriere ein. Ich glaube, | |
dass das einfach normaler Einfluss von Erziehung oder fehlender Erziehung | |
ist. Das sind ja Werte, die da vermittelt werden – nur eben andere. | |
Was halten Sie von der Idee, solchen Familien die Kinder wegzunehmen? | |
Ich halte das für rechtlich schwierig. Wenn der Tatbestand der | |
Kindeswohlgefährdung erfüllt ist, kann man das natürlich machen. Aber das | |
gerichtsfest zu begründen ist nicht leicht. | |
Was kann der Staat denn dann machen? Wenn es Familien gibt, die niemanden | |
an sich ranlassen? | |
Wir haben in Neukölln ja eine AG Kinder- und Jugendkriminalität. Und da | |
höre ich schon, dass die in die bekannten Familien reinkommen. Nicht im | |
großen Maßstab, aber immerhin: Es gibt die Möglichkeit, dass man mit den | |
Kindern sozialarbeiterisch tätig wird und versucht, sie aus den kriminellen | |
Strukturen herauszulotsen in eine andere Richtung. Dafür haben wir ein | |
Projekt beim Deutsch-Arabischen Zentrum, das sich mit straffälligen | |
Jugendlichen beschäftigt. Da kommen die Sozialarbeiter tatsächlich an die | |
Kinder und über sie an die Eltern ran – teilweise auch in den bekannten | |
Familien. Im Moment ist der Druck auf die Familien relativ hoch. | |
Sie meinen, weil polizeilich viel passiert? | |
Ja, und weil das Geldverdienen darum auch nicht mehr so einfach ist. Bisher | |
war das ja ein Selbstläufer: Man hat sein Geld verdient, ist vielleicht mal | |
eineinhalb Jahre in den Knast gegangen, aber das gehörte dazu. Aber wenn | |
man jetzt Probleme hat, damit sein Geld zu verdienen, sind vielleicht | |
Alternativen denkbar, lassen Eltern ihre Kinder vielleicht eher aus solchen | |
Strukturen raus. | |
Was macht die AG mit den Kindern konkret? | |
Die Sozialarbeiter konfrontieren die Kinder mit dem, was sie tun, wie sie | |
in der Schule, auf der Straße auftreten, wie andere sie wahrnehmen. Sie | |
arbeiten mit den Jugendlichen, spiegeln deren Verhalten – und zeigen | |
Alternativen auf. | |
Ihr Vorgänger hatte die These, dass solche kriminellen Clans auch Ergebnis | |
einer verfehlten Integrationspolitik sind – weil viele Palästinenser, die | |
geduldet waren, über Jahrzehnte gar nicht arbeiten durften. | |
Ich teile diese Ansicht. Stellen Sie sich die Situation dieser Menschen | |
vor: Sie kommen aus einem Land, Libanon, wo sie meistens staatenlos waren, | |
also staatliche Autorität nicht positiv erlebt haben. Dann kommen sie | |
hierher, erhalten immer nur Duldung, Duldung, Duldung, dürfen die Sprache | |
nicht lernen, nicht arbeiten. Trotzdem haben die Menschen ja Bedürfnisse | |
und Talente und wollen weiterkommen. Und wenn der Staat dieses Weiterkommen | |
systematisch verhindert, durch diese Dauerduldungen und fehlende | |
Arbeitserlaubnis, ist es manchmal verständlich, dass dieser Weg gewählt | |
wurde. Das kann ich durchaus nachvollziehen. | |
Sind wir an dieser Art von Kriminalität also selbst schuld? | |
Ach, ich weiß nicht. Meine These ist, dass Kriminalität in einem gewissen | |
Grad Bestandteil einer Gesellschaft ist. Wenn es nicht die Clans wären, die | |
diese Felder bedienen würden, würde es eben jemand anderes tun – vielleicht | |
auch Deutsche. Solange jemand Drogen nimmt, wird es jemanden geben, der sie | |
verkauft. Aber die verfehlte Integrationspolitik der Vergangenheit ist | |
schon schuld daran, dass es jetzt diese Personen sind: weil wir sie immer | |
hoffnungslos gelassen haben. Hinzu kommt: Wenn staatliche Autoritäten nie | |
als solche erlebt und nie respektiert werden, ist es noch leichter, in | |
diese Richtung abzudriften. | |
Wie meinen Sie das? | |
Wenn Sie schon in Beirut staatliche Autorität nie als helfend und positiv | |
erlebt haben, immer nur negativ und Ihnen dann der Staat auch hier alles | |
verbietet, was wichtig wäre, um hier anzukommen, dann ist die Sichtweise: | |
Warum soll ich mich an staatliche Regeln halten, wenn ich von diesem Staat | |
nichts bekomme und nichts erwarten darf? | |
Was hat die Politik daraus gelernt? | |
Es hat sich viel geändert, Integrations- und Sprachkurse sind verpflichtend | |
für die Neuen. Und man sieht ja auch, dass es bei ihnen deutlich schneller | |
geht, sich zu integrieren, sprachlich, auf dem Arbeitsmarkt. | |
Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund machen viele Erfahrungen mit | |
Alltagsrassismus. Lehrkräfte äußern sich rassistisch gegenüber arabischen | |
Schülern, Mädchen mit Kopftuch bekommen keine Lehrstellen … Führt das nicht | |
auch zur Bildung von „Parallelgesellschaften“, wenn man als Deutscher | |
abgelehnt wird? | |
Das spielt sicher eine Rolle. Ich habe in den drei Monaten, die ich nun in | |
diesem Job bin, viele Gespräche mit Migrantenorganisationen geführt, wo ich | |
Ähnliches gehört habe – wie es im Sommer ja auch in der Özil-Debatte zum | |
Tragen kam. Da kann ich schon nachvollziehen, dass man sich irgendwann | |
wieder zurückzieht und sagt: Die Gesellschaft will mich ja nicht. | |
Und was kann man dagegen tun? | |
Es ist wichtig, den anderen zu kennen. Dass „die mit Kopftüchern“ nicht | |
selbstbestimmt seien, „Schwarzköpfe“ immer kriminell – solche Vorurteile | |
kann man nur aus dem Weg räumen, wenn die Leute miteinander reden. Und wenn | |
jetzt viel über kriminelle arabische Großfamilien geredet wird, ist das ja | |
auch nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus dieser Gesellschaft, die | |
allermeisten Araber gehören nicht dazu. Aber medial nimmt dieser Ausschnitt | |
95 Prozent ein. Da kann man als Biodeutscher, bei dem Integration am | |
Dönerstand endet, schon den Eindruck bekommen, das sei alles ganz | |
furchtbar. Man sollte viel mehr positive Geschichten über arabische | |
Familien erzählen. | |
16 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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