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# taz.de -- 40 Jahre taz: Hamburger Verkehrspolitik: Eine Stadt fährt verkehrt
> Irreale U-Bahn-Pläne und surreale Feinstauboptimierung ersetzen noch
> immer eine moderne Verkehrspolitik. Dabei gab es einst revolutionäre
> Ideen.
Bild: So könnte die Stadtbahn aussehen, wenn sie denn von der Politik gewünsc…
Hamburg taz | 1978 ist für den Stadtstaat an der Elbe ein medien- wie
verkehrspolitisch wegweisendes Jahr: Mit der ersten Nullnummer der taz
kündigt sich eine kleine Medienrevolution an, die nur drei Jahre später mit
der taz hamburg zu einem erfrischend anderen täglichen Lokalteil in der
bundesdeutschen Medienhauptstadt führen wird.
Dem Neubeginn stand ein großer Abgang gegenüber: Am 30. September 1978
flitzt die Straßenbahn der Linie 2 zum letzten Mal auf ihrer Strecke von
Niendorf zum Rathausmarkt. Zehntausende nehmen Abschied als Hamburg die
nach dem Bau der Ost‑West-Straße (1953-1963) wichtigste Etappe seines
radikalen Umbaus zur Autostadt vollzieht.
Mitgeholfen hat dabei der Betriebsrat der Hamburger Hochbahn AG, dessen
Straßenbahnfahrer lieber ans Steuer eines Mercedes-Stadtbusses wollten.
Pikant zudem: Nur wenige Jahre zuvor hatte der HVV-Ingenieur Peter Fechner
1975 in der Fachzeitschrift Nahverkehrspraxis den Aufbau eines modernen
Stadtbahnschnellnetzes für Hamburg empfohlen. Sein Fazit: „Für einen
eingesparten U-Bahn-Kilometer ließe sich das von mir vorgeschlagene
Stadtbahngrundnetz mit 30 Kilometer Streckenlänge neu erstellen.“ Während
in den folgenden Jahrzehnten Metropolen weltweit auf Fechners Spuren
wandeln, wurde der Vordenker in Hamburg gefeuert.
40 Jahre später gehört Hamburg immer noch zu den verkehrspolitisch
rückständigsten Metropolen Europas. Während andernorts der Rückbau und die
Stilllegung innerstädtischer Hauptverkehrsachsen auf der Tagesordnung
stehen, etwa in Paris, London, Oslo, Helsinki und München, fahren auf der
B4 (früher Ost-West-Straße) täglich mehr als 70.000 Fahrzeuge quer durch
die Stadt. Das entspricht dem Aufkommen einer sechsspurigen Autobahn.
Während seit mehr als drei Jahrzehnten die Stadtbahn weltweit eine
beeindruckende Renaissance feiert (u. a. in Paris, Marseille, Lyon, Berlin,
St. Petersburg, Manchester, Edinburgh, Dublin, Florenz, Aarhus, Wien), hat
Ex-Bürgermeister Olaf Scholz ein umsetzungsreifes Stadtbahnprojekt 2011
beerdigt.
Scholz’ Entscheidung in der Endphase des Bürgerschaftswahlkampfs 2011 ist
ein herausragendes Beispiel für den irrationalen Populismus des heutigen
Vizekanzlers. Obwohl alle Hamburger Parteien für die Stadtbahn votierten,
verordnete Scholz urplötzlich ihr Ende.
Grund für seinen Schwenk war eine Winterhuder Bürger-Gang unter Führung
eines Aktivisten, dessen Schwiegermutter einen Modeladen betrieb, der
inzwischen längst eingegangen ist. Der Aktivist und seine Handvoll
Mitstreiter hatten laut ZEIT einfach „keine Lust, eine Stadtbahn vor ihrer
Haustür zu haben“ und drohten mit einem Volksentscheid.
Scholz reagierte sofort und schrieb wenig später mit Zustimmung der Grünen
das Stadtbahnaus im Koalitionsvertrag fest. Wenn der grüne Umweltsenator
Jens Kerstan als Duftmarke grüner Verkehrspolitik heute einräumt, die
Sperrung eines Teils der Max-Brauer-Allee für Dieselfahrzeuge sei natürlich
leider nur eine innerörtliche Umverteilung von Stickoxiden, ist die Farce
rotgrüner Verkehrspolitik perfekt.
Dabei hatte es 1988, nur zehn Jahre nach der letzten Fahrt der Linie 2,
noch ganz anders ausgesehen. Auch hier gab die Bauchentscheidung eines
SPD-Politikers den Anstoß: Ingo Uttech, Verkehrsplaner bei der Baubehörde,
wurde von seinem Senator Eugen Wagner zum bezahlten Nichtstun verdonnert.
## Ingo Uttech und die Fahrradstreifen
Der Grund: Uttech, in einer privaten Lebens- und Sinnkrise, hatte eines
Tages begonnen, in alle seine Straßenprojekte unverlangt breite
Fahrradstreifen einzubauen. Bei seiner Strafversetzung bekam er die
Aufgabe, sich dem Thema Stadtverkehr und Luftreinhaltung zu widmen. Uttech
bildete sich weiter, entdeckte das Thema Stadtbahnrenaissance und entwarf
ein neues Grundnetz für Hamburg.
Hier kommt die taz ins Spiel. Ich bekam einen Hinweis auf Uttech, besuchte
ihn mehrfach in seinem Minibüro im Treppenhaus der Behörde an der
Steinstraße – und veröffentlichte seine Vorschläge. Eine regelrechte Lawine
kam ins Rollen. Die GAL nahm sich seiner Vorschläge an, selbst die FDP und
der CDU-Nachwuchsstar Ole von Beust mutierten zu Stadtbahnfreunden.
Von der SPD war zunächst nur Umweltsenator Jörg Kuhbier an Bord, später
folgten Bürgermeister Henning Voscherau und der lange widerspenstige
Hochbahn-Vorstand um Günter Elste. Es dauerte allerdings noch mehr als zwei
Jahrzehnte bis am 22. November 2010 Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk
(Grüne) und Hochbahnchef Günter Elste gemeinsam die „Einführung einer
Niederflurstadtbahn“ ankündigten. Mit den ersten beiden Bauabschnitten
sollte eine rund 20 Kilometer lange Strecke von Altona bis Bramfeld
entstehen.
## Stichhaltige Argumente
Die damaligen Argumente sind noch heute stichhaltig: „Die Stadtbahn ist
ökonomischer als U- und S-Bahn, ökologisch sinnvoll, komfortabel, schnell
und leistungsfähig.“ Dies gilt ganz besonders in Hamburg: Von 1860 bis in
die 1960erJahre gehörte die Stadt zu den führenden Straßenbahnmetropolen
der Welt. Mit ihrer geringen Siedlungsdichte, Straßen mit dem historischen
„Pferdebahnquerschnitt“, der Platz für einen eigenen begrünten Gleiskörp…
bietet, verfügt Hamburg über ideale Voraussetzungen für die Einführung
einer modernen Stadtbahn.
Scholz und seine politischen Nachfolger kümmern in Sachen Stadtbahn die
ökonomischen Grundrechenarten genauso wenig wie Donald Trump. Hätte der
Einstieg in ein neues Stadtbahnnetz Hamburg lediglich 57 Millionen Euro
gekostet (bei Gesamtkosten von 338 Mio. Euro) wird der Einstieg in die neue
U‑Bahnlinie U5 auf zwei bis sechs Milliarden Euro veranschlagt. Während ein
Streckenkilometer Stadtbahn für 10 bis 20 Mio. Euro zu haben ist, wird die
U5 voraussichtlich mehr als 200 Mio. Euro für jeden einzelnen Kilometer
verschlingen. Hoch wahrscheinlich bleibt deshalb, dass die U5-Pläne an der
Kostenfrage scheitern werden.
## Irrationale Verkehrspolitik
Jahrzehntelange verkehrspolitische Aufklärung der taz hamburg, der Aufstieg
und die Regierungsbeteiligung der Grünen und mutige verkehrspolitische
Schritte einer wachsenden Zahl europäischer Städte haben nicht verhindern
können, dass Hamburg weiter eine irrationale, umweltfeindliche und
gesundheitsgefährdende Verkehrspolitik exekutiert. Stattdessen setzt sie
weiter auf die Totengräber einer Verkehrswende: Die überteure U-Bahn und
den Bus.
Auf der letzten Straßenbahnstrecke von Niendorf durchs Univiertel zum
Rathausmarkt stellen derzeit die längsten Gelenkbusse Europas täglich unter
Beweis, was längst zum Einmaleins normaler Verkehrsbetriebe gehört: Ab
einer bestimmten Fahrgastmenge stößt das System Bus an seine
Leistungsgrenzen und geht zudem betriebswirtschaftlich in die Knie.
Besserung ist nicht in Sicht. Zum Glück hat keinE taz-LeserIn im Juni 1994
die von mir in einem Kommentar angebotene Wette angenommen, bis spätestens
2005 werde die Stadtbahn in Hamburg doch noch fahren.
Dabei wäre eine verkehrspolitische Wende machbar und bezahlbar: Die
Einführung einer City-Maut wie in London, Oslo, Stockholm, Mailand und
Bologna bringt Geld und verringert die Zahl der Privat-PKWs um 20 bis 30
Prozent. Die Einführung einer Stadtbahn führt in der Regel zu einer Zunahme
von 20 bis 30 Prozent des Fahrgastaufkommens. Mit Tempo 30 statt Tempo 50
Regelgeschwindigkeit verflüssigt und beschleunigt sich der Straßenverkehr,
auch Lärm und Feinstaubemissionen gehen zurück. Würde dann noch der
Verkehrsraum effizienter genutzt, indem Platz für Fußgänger und Radler
umgewidmet wird: Hamburg würde endlich wieder mobil und könnte durchatmen.
Wetten, dass?
27 Sep 2018
## AUTOREN
Florian Marten
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