# taz.de -- Don Letts über den Einfluss von Dub: „Reggae war jamaikanischer … | |
> Reggae war in England mehr als nur ein musikalischer Einfluss. Für | |
> jamaikanische Musiker bedeutete er auch Identitätsfindung, erzählt DJ Don | |
> Letts. | |
Bild: Lernte durch Musik etwas über seine Kultur: Don Letts | |
taz: Don Letts, die britische Popkultur wäre um vieles ärmer, hätte es | |
nicht die Einflüsse aus Übersee gegeben. Die erste große Gruppe karibischer | |
Einwanderer nach Großbritannien [1][wurde „Windrush Generation“ genannt]. | |
Weshalb? | |
Don Letts: Ach, das ist einfach fauler Journalismus. Die Windrush war ein | |
Schiff, das Einwanderer über den Atlantik brachte. Aber es war beileibe | |
nicht das einzige. Aus der Karibik kam in den fünfziger Jahren ein massiver | |
Zustrom schwarzer Einwanderer. In England hatte man die Kolonien dazu | |
aufgerufen, das Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen. Meine | |
Eltern waren ein Teil dieser ersten Welle. | |
Und sie brachten ihre Schallplatten mit. | |
Nun, sie kamen, um zu arbeiten. Aber ironischerweise war es ausgerechnet | |
ihre Kultur, die ihnen half, sich in einer vollkommen weißen Gesellschaft | |
zu integrieren. Als der Politiker Enoch Powell seine „Rivers of | |
Blood“-Rede hielt, in der er die britische Einwanderungspolitik als | |
tödliche Gefahr geißelte, schrieb man das Jahr 1968. Er spielte mit den | |
Ängsten älterer Wähler, ganz so, wie es heute geschieht. Bei den Jüngeren | |
war es damals genau umgedreht: sie liebten die Musik und den Style der | |
Jamaikaner. Im selben Jahr wurde Trojan Records gegründet, das vielen | |
Engländern erst beibrachte, das Wort Reggae zu buchstabieren. | |
Trojan Records feiert also in diesem Sommer 50-jähriges Bestehen. Das Label | |
machte Songs wie „Red Red Wine“ und „You Can Get It If You Really Want“ | |
bekannt. Warum war es für Sie wichtig? | |
Trojan war der Soundtrack meiner Teenager-Jahre. Bis dahin waren Style und | |
Mode meine Hauptinteressen gewesen. Die große Ära des Labels war zwischen | |
1968 und 1975. Ohne Trojan kein Dub! Ohne Trojan kein Ska! Sie brachten die | |
Leute dazu, das Mixing-Desk als Instrument zu betrachten. Das Label ist | |
jetzt fester Bestandteil britischer Kultur: die Musik einer kleinen, von | |
den Briten kolonisierten Insel. Mittlerweile hat Jamaika Großbritannien | |
kulturell kolonialisiert! Reggae hat die Vorstellung des Britischseins | |
verändert, jetzt gehören auch Sounds wie Dubstep und Grime dazu. Grime ist | |
die derzeit beliebteste Musikrichtung bei uns, das einzige neue Genre, das | |
im 21. Jahrhundert in England entstanden ist. Und diese Richtung geht | |
Jahrzehnte zurück, bis zu jamaikanischen Soundsystems und DJs. | |
Auch Ihr Vater war ein DJ, richtig? | |
Mein Vater hatte ein Soundsystem, das er sonntags nach der Kirche | |
anschmiss. So blieb man im Kontakt und lenkte sich nach einer harten | |
Arbeitswoche ab. Das kann man nicht mit den heutigen Anlagen vergleichen. | |
Es hatte noch nichts mit dunklen Clubs zu tun, in denen Hasch geraucht | |
wurde. | |
Sonst waren Sie nicht von karibischer Kultur umgeben? | |
Ich wurde in England geboren, war auf einer komplett weißen Schule. Da | |
lernte man nichts über schwarze Kultur. Ich hätte gerne etwas über die | |
Geschichte Jamaikas vor der Sklaverei erfahren. So brauchte ich die Musik, | |
um etwas über meine Kultur zu lernen. | |
Ihre Eltern haben Sie dazu ermutigt? | |
Im Gegenteil! Für sie war Kunst keine Möglichkeit, über die Runden zu | |
kommen. Jetzt machen große Firmen damit viel Geld, aber damals konnte | |
niemand ahnen, welchen Einfluss afrokaribische Kultur auf das UK haben | |
sollte. Meine Eltern verleugneten diese Kultur, sie versuchten, so englisch | |
wie möglich zu werden. Das konnte natürlich nicht funktionieren. | |
Man sagt, dass ihre Musik-Besessenheit Mitte der Siebziger im | |
Klamottenladen Acme Attractions begann. | |
Unsinn, Don Letts’ Geschichte beginnt Jahre früher. Als ich 14 Jahre alt | |
war, ging das Gerücht um, dass um die Ecke von meiner Schule eine bekannte | |
Rockband auftreten sollte – umsonst. Es war das Jahr 1971. Wir gingen also | |
in unseren Schuluniformen hin und kamen in einen Saal, in dem ein Gitarrist | |
die Windmühle machte. Es war Pete Townshend und seine Band hieß The Who. Es | |
gab Laser, Musik in ohrenbetäubender Lautstärke, und drei Meter von mir | |
entfernt trommelte ein Irrer namens Keith Moon. Dieser Tag hat mein Leben | |
verändert. | |
Sie wollten Musiker werden? | |
Nein, aber ich wollte ein Teil dieser Welt werden! Bis dahin war ich ein | |
guter, strebsamer Schüler gewesen. Zu dem Zeitpunkt beschloss ich, die | |
Schule zu schmeißen, und fing an, bei Acme Attractions zu arbeiten. In der | |
King’s Road gab es nur zwei coole Läden. Da war Acme und ein Laden namens | |
Sex, der von Vivienne Westwood und dem Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren | |
geführt wurde. | |
Genau wie Westwood verkauften Sie Klamotten im hippen Chelsea. Sie waren | |
das, was man heute einen Influencer nennen würde. | |
Wissen Sie, was am meisten Einfluss hatte? Unsere Unterschiede zu | |
verstehen! Die Weißen hatten ihre Gitarren. Die Kinks, die Beatles, die | |
Stones – fantastisch. Aber wir hatten Reggae. Die fetten Basslines! Nicht | |
zu vergessen: das Weed. Das war eine kulturelle Konversation. Ist das nicht | |
der wahre Sinn von Kultur: die Leute zusammenbringen? | |
Sie jedenfalls brachten die Leute mit Ihren eklektischen DJ-Sets zusammen, | |
die Sie ab 1976 im Club The Roxy spielten. | |
Das Roxy war der erste Laden, im dem Punkrock gespielt wurde. Aber ich | |
hatte nie geplant, das mit anderen Styles zu mischen. Ich legte nur | |
amerikanische Sachen auf: New York Dolls, Patti Smith und später | |
Television. Aber es gab kaum mehr Punk-Platten, die man hätte spielen | |
können! Also spielte ich das, was ich mochte: Dub-Reggae. Die Punks liebten | |
es. Und als die ersten britischen Bands wie The Damned aufkamen, riefen | |
sie: „Keep playing Reggae!“ Die fanden das erfrischend nach dem ganzen | |
Noise. | |
Sie waren auch Manager der kurzlebigen weiblichen Punkband The Slits. | |
Erinnern Sie sich noch an diese Zeit? | |
Nun, ich muss mich nicht erinnern, ich ließ ja immer meine Super-8-Kamera | |
laufen. Meine erste Aufgabe war, die Gruppe auf die White-Riot-Tour mit The | |
Clash zu schicken. Aber ich merkte bald: die Slits sind nicht zu managen. | |
Also ließ ich es sein und konzentrierte ich mich auf meine Karriere als | |
Filmemacher. | |
Wie kam es, dass Sie alle Musik-[2][Videos für The Clash] drehten? | |
Ich kannte die Band ja schon lange, Joe Strummer hatte eine Weile bei mir | |
gewohnt. Ich machte für sie „London Calling“ und plötzlich gingen sie dur… | |
die Decke. Sie hätten mit jedem Künstler der Welt arbeiten können, aber sie | |
blieben bei mir. Dafür bin ich ihnen heute noch dankbar. Später haben sie | |
dann ein Foto, auf dem ich einer Gruppe Polizisten gegenüberstehe, für das | |
Cover des Albums „Black Market Clash“ genommen. | |
Sie haben mal gesagt: „HipHop ist eigentlich schwarzer Punkrock.“ Das hört | |
doch wahrscheinlich nicht jeder Rapper von heute gern. | |
Nun, Reggae war der Punk der Jamaikaner, HipHop war der Punk des schwarzen | |
Amerika. Es geht dabei nicht um laute Gitarren und Irokesen-Frisuren. Punk | |
ist ein Spirit, der lange vor 1977 existierte. Diese Einstellung findet | |
sich in allen Bereichen der Kunst, sie ist Tausende von Jahren alt. Ich | |
finde, man kann sogar ein Punkrock-Arzt sein! Ganz sicher braucht die Welt | |
mehr Punkrock-Politiker. Punk begann nicht in den Siebzigern, sondern dort, | |
wo jemand Mut und eine gute Idee hat. Es ist das Geburtsrecht aller jungen | |
Menschen. Es ist nichts Totes, es ist etwas Lebendiges, in die Zukunft | |
Gerichtetes. Punk ist kein Ramones-T-Shirt. | |
Aber zurück zum HipHop. Heute steht diese Kunstform für eine | |
kapitalistische Rachefantasie: Rapper aus einfachen Verhältnissen sammeln | |
so viel Status und Reichtum wie möglich. | |
HipHop begann als Protest gegen das Establishment, wie Punk. Das nutzen, | |
was man zur Verfügung hatte: „two turntables and a microphone“! Es ging um | |
Empowerment, Individualität und Freiheit. Heute ist HipHop eigentlich | |
HipPop. Aber das ist ja eine normale Entwicklung: Der Underground wird zum | |
Overground. Also musst du wieder dagegen angehen. Das hält die Dinge am | |
Laufen. | |
3 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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