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# taz.de -- No-go-Area für Schwule und Lesben: Homophobie gilt als ansteckend
> In Jamaica und anderen Teilen der englischsprachigen Karibik ist
> Schwulenhass sehr verbreitet. Das hat komplexe Ursachen.
Bild: Wenn die Dämmerung kommt, wird es gefährlich ...
Fast 22 Jahre wohne ich nun in Jamaika, bin also „Germaican“ mit zwei
Pässen. Über die Hälfte dieser Jahre habe ich hier, auf dem Lande, direkt
am Meer lebend, keine aktuelle Homophobie erlebt. Schwule wurden in Ruhe
gelassen, manchmal von Männern veräppelt und von kichernden Frauen nach
ihren Praktiken gefragt.
In einem Land, in dem es heißt: „Pum-Pum ah rule“ (Muschis regieren die
Welt), ist es verständlich, dass Homosexualität unverständlich ist. Dann
aber traten einige Scharfmacher aus der DJ-Szene (Sprechgesangskünstler)
auf, die ihren Schwulenhass laut verkündeten und dabei Erfolg hatten.
Männer wie Beenieman, Capleton, Buju Banton, TOK, Bountykiller und andere
kochten etwas latent Vorhandenes hoch. Mit entsetzlichen Folgen.
Aber erst als Ulli Güldner als Journalist des deutschen Reggaemagazins
riddim 2003 die Meinung vertrat, Homophobie sei Teil jamaikanischer Kultur,
entschied ich mich, diesem Blödsinn zu widersprechen. Ich hatte mich mit
diesem Phänomen sehr beschäftigt. Es hat mehrere Ursprünge und Stränge. Da
ist einmal die Tradition der Aschantis in Westafrika, von denen der größte
Teil der nach Jamaika verschleppten Sklaven abstammt: Dort wird ein Mädchen
oder eine Frau erst geheiratet, nachdem es oder sie ein Kind gekriegt hat.
Und „Muli“ ist hier nach wie vor das schlimmste Schimpfwort für ein
weibliches Wesen. Zudem ist Kindersegen in einem Land, in dem es so gut wie
keine funktionierende Rentenversicherung gibt, die einzig zuverlässige.
In den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts erfolgte das Great Revival,
eine christliche Erwachensbewegung. Auch die Anglikanische Kirche, bislang
die der Sklavenhalter, schloss sich ihr an. Waren vorher Sklaven weniger
als Tiere und hatten keine unsterbliche Seele, setzte sich die Meinung
durch, ein tüchtiger Pfaffe könne 100 Polizisten oder 50 Soldaten ersetzen:
Jede Obrigkeit, so Paulus im Neuen Testament, ist „gottgegeben“. Luther war
derselben, Thomas Müntzer entschieden anderer Meinung.
Heute ist die englischsprachige Karibik die einzige Gegend der Welt, in der
Frauen und Mädchen eine bessere Erziehung haben als Jungen und Männer. 76
Prozent der Absolventen der University of the West Indies sind weiblich. So
diskutiert man seit über zwanzig Jahren über die „Marginalisierung des
schwarzen Mannes“.
86 Prozent der Kinder sind unehelich geboren, 12 Prozent wachsen ohne
Mutter und Vater auf, 57 Prozent der Eltern haben keine Beziehung mehr
zueinander, wenn ein Kind 11 Jahre alt geworden ist; 14 Prozent der Kinder
zwischen 11 und 14 Jahren haben Selbstmordgedanken, Kindesmissbrauch und
-vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Und welche Traumatisierung die
etwa 1.400 Morde, die in einem Jahr gezählt werden, und das jährliche
Abknallen von 140 Personen pro Jahr durch die Polizei (nie in der
Oberstadt!) verursachen, kann jeder Psychologe oder Psychiater erklären.
Wechselnde Liebhaber der Frauen, ihre Lebensgefährten oder „babyfaadas“,
die am Horizont der Jungs vorbeiziehen, fallen als Vorbilder völlig aus.
Mädchen dagegen wuchsen oder wachsen - wie auf dem Lande - in einer Art
erweiterter, nahezu hundertprozentig weiblicher Großfamilie auf, in der sie
Vorbilder finden und ihre sexuelle Identität, Zuverlässigkeit, Ehrgeiz und
Solidarität. So entstand das von der jamaikanischen Kulturbotschafterin
Loise Bennett (“Miss Lou“) oft zitierte Sprichwort: „Es mag sein, dass der
Herrgott die Frau aus Adams Rippe gemacht hat; heute aber sind wir Frauen
das Rückgrat der Gesellschaft.“
Wie reagieren Jungen und Männer darauf? Mit Minderwertigkeitskomplexen,
Aggression, hoher Unsicherheit über ihre sexuelle Identität, Machismus,
Bandenbildung und geborgten Ideologien. Letztere bestehen zumeist aus den
reaktionärsten Tendenzen frauen- und schwulenfeindlicher, monotheistischer
Religionen, dem Judentum, Christentum und Islam. Jamaika ist das Land mit
den meisten Kirchen pro Quadratmeile. Die meisten von ihnen sind
evangelikale, die jedes Wort des Alten wie Neuen Testaments wortwörtlich
nehmen, „ fire & brimstone“ (Feuer & Schwefel) predigen und nach
US-amerikanischem Vorbild ihre Schäfchen abzocken. Es gibt hier keine
Kirchensteuer, also ist es dem HErrn wohlgefällig, wenn der Pastor eine
riesige Villa bewohnt und Benz, Bimmer (BMW) oder Volvo fährt. Aber selbst
die Rastas halten sich an die Sexual- und Ernährungsvorschriften aus dem
Alten Testament, die vor etwa 3.000 Jahren, als sie entstanden, ihre
Berechtigung gehabt haben mögen, heute aber völlig obsolet sind. Damals gab
es keine Hygiene, keine Antibiotika, keine Gesundheitsinspektoren, keine
moderne Medizin, dafür aber eine erschreckende Kinder- und
Müttersterblichkeit. Da hieß es für das primitive, halbnomadisierende Volk
der Israeliten: Zeugen, zeugen, zeugen!
Onan etwa, der nach damaligem Brauch die Witwe seines Bruders heiraten und
schwängern musste, hat nicht onaniert, sondern einen Koitus interruptus
gemacht. Prompt schmiss der HErr ihm einen Blitz in die Birne! Also mussten
Schwule gesteinigt werden! Auf diese Vorschrift berufen sich die
christlichen und Rasta-Eiferer. Bob Marleys erste Schallplatte (er war 17
Jahre alt) hieß „Judge not“, später wies er darauf hin, dass „Rastaman
vibration positive“ sei. Der berühmte Sänger Junior Reid sagte im
riddim-Interview 2003: „Unser Orden (die Bobodreads, ppz) steht für
positive Texte. Emanuel hat Liebe gepredigt! Aber manche Menschen predigen
nichts als Negatives.“
Die militantesten Anhänger jener DJs sind natürlich in den entsetzlichen
Slums („ghettoes“) zu finden. In einer rauen Umgebung mit strengster
Hierarchie tut es der Seele jener, die in Bodennähe angesiedelt sind, gut,
wenn man jemanden findet, der völlig unten ist, einen Sündenbock. Wenn es
diesen nicht gibt, muss man ihn erfinden: die Juden, die Araber, die
Hippies, die Kommunisten, die Nigger, die Pakistaner und, klar, die
Schwulen. Letztere sind zwar in jedem Land als etwa vier- oder
fünfprozentige Minderheit zu finden, aber selbst in der klassischen
Arbeiterbewegung Europas galt Homosexualität als typisches Laster der
herrschenden Klassen. In Jamaika, das von einer völlig reaktionären
Theologie versifft ist, verwandelt sich der DJ in einen bigotten Pfaffen,
der jedweden sündigen Lebenswandel geißelt und dabei Hölle, Feuer und
Schwefel predigt. Da wurden Capleton, Beenieman, Sizzla und andere zu
Zwillingsbrüdern von US-amerikanischen Tele-Evangelisten: Kondome?
Verboten. Interruptus? Sünde! Oralsex? Eine Todsünde. Familienplanung?
Wider den göttlichen Plan!
So verwandelt sich der eine wortmächtige DJ in einen Benedikt (“Gottes
Rottweiler“, Wayne Brown, Sunday Observer), der andere in einen Chomeini
oder in einen Mullah Dubyah Bin Bush. Mutabaruka, der berühmte Dub-Poet,
der eine eigene Rundfunksendung hat, grillte kürzlich Beenieman, der
wiederum reiche Schwule aus der Oberstadt, die sich in Downtown kleine
Kinder für ihre Gelüste suchten, nicht pädophil nannte, sondern eben
Battymen, Schwule. Ich gewann einmal einen Kasten Bier, als ich mir in
einem Gedicht wünschte, jeder zweite Mann wäre schwul. Beim
Literaturfestival Calabash las ich 2006 das Gedicht „Living in the
Glasshouse“ vor etwa 2.000 Anwesenden, sie sollten mal den nächsten Vers im
gleichen Kapitel der Bibel lesen, wo es heißt, Ehebrecher müssten
gesteinigt werden; und da jeder dritte Mann in Jamaika sich brüstet, „ a
oman pon de side“ zu haben, diese 200.000 Herrschaften von den besten
Cricket Fast Bowlers umbringen zu lassen. Zudem liebte ich die Schwulen,
weil sie meine Oma, meine Tante, meine Mutter, meine Schwestern, meine
Töchter etc. nicht vergewaltigen. Und im Senegal und in Südafrika gäbe es
eine swingende Schwulenszene - unter Mandelas ANC wurde Homosexualität
entkriminalisiert. Ich wünschte mir, „80 Prozent der jamaikanischen Männer
wären schwul, dann gibts mehr Frauen für dich und dich und mich ...“
Ich erhielt rauschenden Beifall. Aber jene 3.500 Menschen, die zum größten
kleinen Literaturfestival im größten kleinen Landkreis im größten kleinen
Land der Welt kommen, sind eben aufgeklärt. Sie haben bei Freud erfahren,
dass wir „am schlimmsten verfolgen, was am tiefsten in uns selbst steckt“.
Aufklärung führt zu Toleranz, religiöser Wahn zu Mord und Totschlag,
Scheiterhaufen und Verfolgung. Als Schwuler würde ich auf gar keinen Fall
meinen Urlaub dort verbringen, wo ich nicht willkommen bin, sondern von
einem verblendeten Mob mit Steinen verfolgt werde.
28 Jul 2007
## AUTOREN
Peter-Paul Zahl
## TAGS
Reggae
Islam
Äthiopien
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