# taz.de -- Kolumne Zwischen Menschen: Der Effekt der passiven Zustimmung | |
> Offene Grenzen sind die größte Errungenschaft der europäischen Idee. An | |
> der Grenze zu Dänemark wird sie mit jeder Passkontrolle aufgegeben. | |
Bild: Seit zweieinhalb Jahren kein Schengen mehr: Dänische Polizisten bei der … | |
Der Himmel über dem Bahnhof ist milchig, trüb. Möwen fliegen. Erste Bettler | |
richten sich auf dem Vorplatz ein. So früh ist es noch still. Der Bahnhof | |
erscheint ohne Menschen wie ein Ort, dessen Wesen man in Ruhe kennenlernen | |
kann. Der Zug fährt ein, in Weiß und Schwarz, mit einem einzelnen warmen | |
Licht an der Spitze, mehr wie ein Zug aus einem Kinderbuch als ein | |
Transportmittel. | |
„Hamburg til Koebenhagn“ steht in der Leuchtanzeige im Zug. In Puttgarden | |
wird er für die Überfahrt nach Dänemark in einen Schiffsbauch fahren. Ein | |
ganzer Zug in einem Schiff. Auch das wirkt wie eine romantische Erzählung. | |
Schräg vor mir sitzt eine Frauengruppe im Viererabteil und unterhält sich | |
gut gelaunt auf Dänisch. Neben mir telefoniert eine Frau mit Dauerwelle in | |
einer osteuropäischen Sprache. | |
Wir fahren an Birken und Feldern vorbei, der Himmel wird weit und blau. In | |
mir steigt Vorfreude auf das Meer und Dänemark auf. | |
Dann, unmerklich, spüre ich vorn im Zug eine Veränderung, als wäre eine | |
neue Luft in die Gänge geweht. Die Gesichter der Menschen spannen sich an, | |
einige schauen höflich, andere verärgert. In den Zug sind deutsche | |
Zollbeamte gestiegen: | |
Sie sind zu zweit, vorn läuft einer in Zivil, dahinter einer in Uniform: | |
Bad Cop, Good Cop. Als sollte der in Zivil auflockern, der in Uniform | |
einschüchtern. Sie suchen nach Verbotenem. Der Zivilbeamte sagt immer | |
wieder den gleichen Satz: „Welches Gepäck?“ Alle Reisenden müssen auf ihr | |
Gepäckstück zeigen. Ein Blick ins Gesicht, einer zur Tasche. Meistens sagt | |
der Zivile „Okay“, manchmal will er hineinsehen. Es ist undurchsichtig, | |
nach welcher Ordnung dies geschieht. | |
Bei mir nicken sie, die Frau neben mir muss ihren Koffer öffnen. | |
Umständlich holt sie einen rosa Hartschalenkoffer herunter. Vor den Augen | |
aller soll sie ihn in den Gang legen und aufklappen. Ich schaue weg, dann | |
wieder kurz hin. Auch den anderen geht es so. Augenpaare auf ihrer Wäsche, | |
auf Schokolade, einem Parfüm-Flacon, den sie öffnen muss. „Okay“, sagt der | |
in Zivil schließlich. Sie schließt den Koffer und wuchtet ihn hoch. Sie | |
flucht dabei, als sollten die Beamten das hören. Etwas Unabhängiges, | |
Starkes geht von ihr aus. | |
„Nach welchen Kriterien suchen Sie eigentlich?“, frage ich den Beamten, | |
bevor er geht. | |
Er lächelt; „Stichproben“, als würde das alles erklären. Als sie weg sin… | |
sehe ich, dass die Frau rote Flecken im Gesicht hat. Sie wirkt jetzt | |
verletzt, aufgewühlt. Auf einmal spüre ich eine Distanz von ihr zu uns | |
Reisenden, die wir nicht verdächtigt wurden. | |
Sie ruft jemanden an und spricht so aufgelöst, als wäre sie überfallen | |
worden, als sollten sie alle hören: Hört her. Das bin ich. | |
Bevor wir Puttgarden, die letzte Station vor dem Meer erreichen, laufen | |
wieder Männer durch die Gänge. Diesmal sind es Polizisten. Sie tragen | |
schwarze Uniformen mit gelben Zeichen auf den Parkas. „Passports“, sagen | |
sie unfreundlich. | |
## Dänemark hat 2016 wieder Grenzkontrollen eingeführt | |
Ich ziehe meinen Personalausweis heraus, die Frau neben mir zeigt einen | |
bulgarischen Pass. Erst als sie weiter sind, setzt die Irritation ein: Das | |
ist doch Europa. Hier sind doch Schengen-Abkommen, offene Grenzen. Nein: | |
Die dänische Regierung hat Anfang 2016, als die Geflüchtetenzahlen stiegen, | |
wieder Grenzkontrollen eingeführt. Seit zweieinhalb Jahren wird nun | |
kontrolliert. Ich sehe durch das Fenster, wie die Beamten auf dem Bahnsteig | |
einen dunkelhaarigen Jungen abführen. Er schaut starr auf den Boden. Ein | |
Schicksal hinter Glas. | |
Der Zug rollt weiter, fährt quietschend über Schienen auf die Fähre. Die | |
Reisenden werden gebeten, den Zug während der Überfahrt zu verlassen. Durch | |
enge Treppen laufen wir in das Schiff hinauf, strömen auf das | |
Aussichtsdeck, hinein in die Restaurants und Duty-Free-Shops. Vergessen, | |
wer nicht mit konnte. Verdrängt, was unbehaglich stimmte. Was, wenn wir | |
Gewollten auch nicht mehr wollen würden, wenn wir sitzen blieben bis alle | |
mit dürften. Wenn ein ganzer Zug ins Schiff passt, dann muss es doch auch | |
Platz für die geben, die eben aussteigen mussten. Auf einmal wird mir der | |
Effekt meiner passiven Zustimmung bewusst. Jede neue Grenze stärken wir | |
mit, wenn wir sie übertreten. | |
Das Schiff fährt los. Um uns Wellen und Wolken, vor uns das europäische | |
Nachbarland, das, statistisch betrachte, eines der glücklichsten Länder der | |
Welt ist. Dort ist Wohlstand und Frieden. Dort ist Europa. Das ist nicht | |
Europa. Die größte Errungenschaft der europäischen Idee wird hier mit jeder | |
Passkontrolle aufgegeben. | |
25 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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