| # taz.de -- Kolumne Zwischen Menschen: Verborgene Bedürfnisse | |
| > „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber es sind zu viele“, sagte die Frau | |
| > im Regionalzug. Und dann kam ein Kleinkind und veränderte alles. | |
| Bild: Ein magischer Moment: Kind ist ruhig, Frau gibt Ruhe | |
| Jeder will irgendwohin und nicht mehr hier sein. Es ist einer der heißen | |
| Tage im Regionalzug. Alle Menschen zeigen sich jetzt von ihrer | |
| anstrengenden Seite. Die meisten sind mit einem günstigen Überland-Ticket | |
| unterwegs und schon mehrmals umgestiegen. | |
| Für mich ist es der vorletzte Abschnitt von Magdeburg nach Hamburg. Schräg | |
| nebenan sitzt ein Mann mit Reichsadler-Tätowierung auf dem Unterarm. Um | |
| mich im Vierer-Abteil sitzen zwei blonde Mitvierzigerinnen mit bayerischem | |
| Dialekt und ein schwerer LKW-Fahrer. | |
| Er erzählt, dass er in Hamburg seine nächste Fahrt antreten muss. Seitdem | |
| die Bayerinnen erste Sätze mit ihm gewechselt haben, redet er ohne | |
| Unterbrechung, als wollte er die einsamen Fahrten in seinem LKW mit dieser | |
| Zugfahrt aufholen. | |
| Ich bewundere die Frauen, die ihm geduldig zuhören. Ich habe innerlich | |
| abgeschaltet, sitze an der Seite, an der die Sonne durch das Fenster | |
| knallt, und habe bohrende Kopfschmerzen. Das Abteil durchdringt seit Beginn | |
| der Fahrt das Schreien eines dicken, etwa eineinhalbjährigen Jungen. Er | |
| thront auf dem Tisch eines Vierer-Abschnitts. Um ihn sitzen zwei Arabisch | |
| sprechende Frauen mit Kopftüchern und ein Junge und ein Mädchen im | |
| Schulalter. | |
| Die Frau neben mir schaut auf sie und sagt plötzlich mit harter Stimme zu | |
| mir: „Was mir stinkt: Eben war da am Bahnhof eine türkische Familie mit so | |
| vielen Kindern. Alle laufen in einer Reihe und versperren einem Mann den | |
| Weg, der vorbei will.“ „Vielleicht ging das mit den Kindern nicht anders“, | |
| sage ich. „Ja, aber nicht mal zur Seite gehen“, sagt sie. Das Kind vor uns | |
| schreit jetzt noch eine Stufe lauter. Sein großer Bruder lächelt uns an. | |
| „Und da vorne geht es weiter“, sagt sie zu ihrer Freundin und nickt hinüber | |
| zu den Frauen mit Kopftuch. „Ich verstehe dich nicht“, ruft die Freundin | |
| demonstrativ laut gegen das Schreien des Kinds an. | |
| Ich stöpsele mir jetzt Kopfhörer in die Ohren. Hinter der Musik höre ich | |
| nun, wie der LKW-Fahrer und die Frauen über Menschen reden, die nicht aus | |
| Deutschland sind: „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber es sind zu viele.“ | |
| Ich frage mich, ob mich die Kopfhörer noch berechtigen, mich in dieses | |
| Gespräch einzuklinken und ob mich überhaupt jemand hören will. Die Bayerin | |
| vor mir schaut sich immer wieder kritisch nach dem schreienden Kind um. | |
| Dann scheint es plötzlich einen Blick zu geben, eine Veränderung im Gesicht | |
| des Kindes oder der Frau. | |
| ## Alle sind erschrocken | |
| Auf einmal nimmt der ältere Bruder aus dem Abteil das Kind hoch. Er | |
| stolpert mit ihm durch den Gang. Das Kind ist so schwer, dass es ihm fast | |
| aus seinen Armen rutscht. Pulli und Hose des Kindes ziehen sich | |
| auseinander, sodass Po und Bauch nun nackt freiliegen. | |
| Der Bruder lächelt, zielstrebig läuft er auf die Bayerin zu. Dann wuchtet | |
| er das fast nackte Kind hoch und setzt es ihr mit einem entschiedenen | |
| Schwenk auf den Schoß. Für einen Moment scheint alles zu verstummen. Das | |
| Kind schaut erschrocken, die Frau ist erschrocken. Wir anderen erschrecken | |
| auch: Was wird sie nun tun? Wird sie sich beschweren, das Kind von sich | |
| stoßen? Ich kann mir alles vorstellen. | |
| Die Frau schaut verwundert auf ihren Schoß. Dann ruft sie plötzlich: „Da | |
| ist es ja! Da habe ich ja endlich ein Kind. So einfach ist das also, ein | |
| Kind zu bekommen! Endlich habe ich es. Ein Kind, mein Kind.“ Freimütig ruft | |
| sie dem ganzen Abteil ihren Kinderwunsch zu. Sie lacht. Vorsichtig wiegt | |
| sie den Jungen auf ihrem Schoß. | |
| ## Zwei Puzzleteile rasten ineinander | |
| Er ist auf einmal ganz ruhig, zufrieden sitzt er auf ihrem Schoß, fasst mit | |
| seinem pummeligen Händchen nach ihrer Hand. So sitzen die beiden da. Sie | |
| lachen, als würden sie zueinandergehören. Als würden zwei Puzzleteile | |
| ineinanderrasten, die die Lösung für alles sind. Dass er ruhig ist und sie | |
| Ruhe gibt. | |
| Und mit ihnen lockert sich auch die ganze Energie im Abteil. Die Menschen | |
| lachen und schauen erstaunt. Und ich denke, dass hinter der Unzufriedenheit | |
| der Menschen immer verborgene Bedürfnisse liegen. Als das Kind etwas | |
| unruhig wird, nimmt der Bruder es der Frau kurz weg und gibt es ihr dann | |
| gleich wieder zurück. Als würde ihm ein tieferes Wissen sagen, dass es so | |
| sein muss. Und ich hoffe, dass dieser Junge immer so bleiben wird, dass er | |
| einfach denen, die es brauchen, ein Kind auf den Schoß setzt. | |
| 17 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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