| # taz.de -- Kolumne Zwischen Menschen: Eine Orchidee und viele Zettel | |
| > Jürgen hat es in seinem Leben geschafft, dass viele Menschen glücklich | |
| > darüber waren, dass es ihn gab. Aber wusste er das, als er noch lebte? | |
| Bild: Für einen, der fehlt: Zettel am Schaufenster von Jürgens Laden auf St.P… | |
| Ob Jürgen das wusste? Was Jossi schreibt. In wackligen Buchstaben, mit | |
| Filzstift fest aufgedrückt: „Lieber Jürgen, Bitte komm bald wieder auf die | |
| Erde, Deine Jossi.“ Und ob Jürgen das wusste? „Jürgen, ich bin sehr | |
| traurig, dass Du nicht mehr da bist. Es ist sehr langweilig ohne Dich. | |
| Deine Büsra.“ Daneben auf dem Blatt hat jemand mit Kuli dazu gequetscht: | |
| „Danke Jürgen, du hast mich groß erzogen und meine vier Kinder. Gottes | |
| Segen sei mit Dir mein Engel. Dein Ahmet.“ | |
| Wie hat Jürgen das geschafft? Dass hier soviel Liebe hängt: An seinem Laden | |
| in der Clemens-Schultz-Straße in St. Pauli, gegenüber den Sozialwohnungen. | |
| Sein Schaufenster voll Kram: Gebrauchte Kleidung, Bücher, Technik, | |
| Plastik-Spielzeug. Vor der Ladentür stehen Kerzen und Blumen. Fast sieht es | |
| aus, als hätten die Menschen hier versucht, noch einmal reinzukommen, als | |
| würden sie nicht verstehen, dass diese Tür nicht mehr aufgeht. Als wollten | |
| sie die Klinke drücken, wie immer. Aber Jürgens Tür bleibt zu. Jürgen ist | |
| tot. | |
| Jürgen hat etwas geschafft in seinem Leben – dass viele Menschen glücklich | |
| darüber waren, dass es ihn gab. Vor Jürgens Laden auf dem Bürgersteig | |
| sitzen drei Männer um die 30 Jahre in der Sonne. Sie haben Stühle | |
| zusammengestellt, rauchen. Neben ihnen hinter Jürgens Schaufenster wackeln | |
| die Solarenergie-Püppchen noch mit den Köpfen. | |
| „Mein Kind liebte ihn“, sagt ein Mann. „Alle Kinder liebten ihn. Das | |
| Spielzeug im Laden war billig: Zwei, drei Euro. Das konnten sich die Kinder | |
| von ihrem Taschengeld leisten. Oder die Eltern, die hier nicht soviel | |
| verdienen. Alle Kinder sind traurig.“ | |
| Eine Barbie-Puppe steht im Fenster, kein Original, aber dafür für zwei Euro | |
| fünfzig. Man merkt, hier wurden kleine Schätze herausgetragen. Jürgen war | |
| ein Ort, wo sich Kinder ein paar Wünsche selbst erfüllen konnten. „Er war | |
| immer hier. 30, 35 Jahre. Solange muss man erstmal durchhalten“, sagt der | |
| Mann. „Ich kannte ihn, mein Vater kannte ihn, mein Kind.“ | |
| „So sah er aus.“ Sein Freund zeigt auf seinem Handy ein Bild vom | |
| grauhaarigen Mr. Burns aus der „Simpsons“-Serie, dem das Atomkraftwerk | |
| gehört. „Das ist nicht höflich“, sagt der andere Mann. “Ja, aber ein | |
| bisschen sah er ihm ähnlich.“ „Er war da für die Menschen, aber die | |
| Menschen waren nicht für ihn da“, sagt sein Freund auf einmal. „Das schät… | |
| man nie, das schätzt man immer erst, wenn einer nicht mehr ist. Ich habe | |
| das auch nicht genug geschätzt.“ | |
| Nebenan im Gebrauchtmöbel-Laden schauen sie skeptisch, als Jürgens Name | |
| fällt. Hier kämen gerade so viele rein und fragten. Menschen, die hilflos | |
| sind, weil nebenan keiner mehr aufmacht. | |
| „Von morgens bis abends stand der im Laden“, sagt eine ältere Anwohnerin. | |
| „In der Woche und am Samstag. Der war immer da.“ | |
| Ein größeres Bild entsteht: Zu Jürgen kamen die Menschen mit wenig Geld und | |
| die mit viel Zeit. Kinder vielleicht nach der Schule, Rentner mit leeren | |
| Vormittagen. Doch vielleicht war der Laden ja auch für Jürgen selbst eine | |
| Zuflucht. Vielleicht war er hier nicht allein? | |
| „Ein Kunde hat sich gewundert“, erzählt die Anwohnerin dann. „Dass der | |
| Laden zu hatte, dass er nicht öffnete nach Neujahr. Dann hat er die Polizei | |
| gerufen und sie haben Jürgens Wohn-Adresse rausbekommen.“ | |
| Sie überlegt, dann sagt sie: „Er lag da schon mehrere Tage, als sie ihn | |
| gefunden haben. Ja, so ist das.“ | |
| Jürgen hatte den Laden für viele geöffnet und die Menschen so an sich | |
| herangelassen. Jetzt Tage später stehen vor dem Laden frische Blumen, eine | |
| Orchidee ist dazugekommen. Und die Zettel sind da. Wie ein Mosaik setzen | |
| sie Jürgens Persönlichkeit zusammen oder das, was die Menschen bei ihm | |
| gesucht haben. | |
| Ein Blatt mit St.-Pauli-Sticker: „Ich habe seit eben eine tiefe Trauer in | |
| mir, solch einen witzigen Zeitgenossen verloren zu haben. Dein Jearald“. | |
| Und in kleiner Schrift, als sollte Jürgen das sicher wissen: „Irgendwo, | |
| Irgendwann, Lieber Jürgen, sehen wir uns wieder. 'Deine Oberschwester’“. | |
| Wusste das Jürgen, als er noch lebte? Dass er hier wichtig war? | |
| 25 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
| ## TAGS | |
| St. Pauli | |
| Tod | |
| Liebe | |
| Einzelhandel | |
| Spielzeug | |
| Trauer | |
| Familie | |
| Flüchtlinge | |
| Kleinkind | |
| Hamburger Hafen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Zwischen Menschen: Ungeschützte Tränen | |
| Es ist merkwürdig, Menschen in der Öffentlichkeit weinen zu sehen. Die | |
| Hülle ist zerbrochen, die sonst im öffentlichen Leben die Emotionen | |
| verbirgt. | |
| Kolumne Zwischen Menschen: Im unsortierten Teil des Lebens | |
| Wenn man Gebrauchtes kauft, bekommt man eine Geschichte geschenkt. Diese | |
| hier führt über einen Keller zu einer Verzauberung. | |
| Kolumne Zwischen Menschen: Die Geschichte der „St. Louis“ | |
| Seitdem so viele Flüchtlingsboote auf dem Meer umherirren und nicht anlegen | |
| dürfen, muss ich immer wieder an die „St. Louis“ denken. Und an ihren | |
| Kapitän. | |
| Kolumne Zwischen Menschen: Verborgene Bedürfnisse | |
| „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber es sind zu viele“, sagte die Frau im | |
| Regionalzug. Und dann kam ein Kleinkind und veränderte alles. | |
| Kolumne Zwischen Menschen: Ein Tischchen für jeden Gott | |
| In der Seemannsmission Duckdalben im Hamburger Hafen gibt es einen | |
| Gebetsraum, in dem die Insignien aller Weltreligionen nebeneinander stehen. |