# taz.de -- Kolumne Zwischen Menschen: Ungeschützte Tränen | |
> Es ist merkwürdig, Menschen in der Öffentlichkeit weinen zu sehen. Die | |
> Hülle ist zerbrochen, die sonst im öffentlichen Leben die Emotionen | |
> verbirgt. | |
Bild: Wo Tränen selbstverständlich dazu gehören: HSV-Fan im Fußballstadion | |
Mitten in der Fußgängerzone steht eine Familie und weint. Eine Mutter, ein | |
Vater und zwei Söhne, die beiden sind vielleicht zwölf und acht Jahre alt. | |
Der ältere Junge steht bei seinen Eltern und weint mit, als würde er etwas | |
besser verstehen. Der Kleine steht etwas abseits und schaut auf den Boden. | |
Er ist verlegen, als könnte er nicht einsortieren, was gerade geschieht. | |
Der Vater weint, er hält sich ein Taschentuch vor die Augen und schluchzt, | |
die Mutter weint auch. Sie umarmen sich. Der Junge hält seine Arme um die | |
Eltern. Sie weinen da mitten im Trubel, ein privater Schmerz im Lärm der | |
Öffentlichkeit. | |
Es wirkt, als hätten sie gerade eine plötzliche Nachricht bekommen, die sie | |
alle gleichermaßen umhaut. Sie beweinen etwas zusammen als Familie. Ich | |
schaue hin, ich schaue weg. Ihr Schmerz muss schlimm genug sein. Und jetzt | |
stehen sie damit auch noch schutzlos mitten im Draußen. Die Hülle ist | |
zerbrochen, die sonst im öffentlichen Leben die Emotionen verbirgt. | |
Ich breche gleich am Bahnhof zu einer Reise auf und will nur noch schnell | |
an der Bank Geld abheben. Kurz bereue ich es, diesen Weg genommen zu haben, | |
dass ich die traurige Familie als letztes Erlebnis vor der Abfahrt sehe. | |
Ich ahne, dass dieses Bild noch in meinem Kopf bleiben wird. Und dann | |
schäme ich mich für dieses Gefühl. | |
Es ist merkwürdig, Menschen in der Öffentlichkeit weinen zu sehen. Doch | |
warum eigentlich? Es gehört doch zum Leben dazu. Warum sehe ich Menschen so | |
selten draußen weinen? Wir lachen draußen, aber das Weinen spielt sich eher | |
im Drinnen ab. Zumindest in Deutschland. | |
Kinder weinen draußen, aber irgendwann, wenn sie größer werden, hören sie | |
auf damit. Es gibt Orte, an denen das Weinen selbstverständlich ist: | |
Flughäfen, Bahnhöfe, Konzerthallen, Fußballstadien. Da wird das Weinen als | |
Teil von Freude und Abschiedsschmerz akzeptiert. Aber sonst draußen an den | |
zufälligen Orten, das traurige, einsame Weinen, das aus dem innersten Ich | |
kommt, das findet kaum statt. Und wenn es doch passiert, scheint es eine | |
Blase um die Weinenden zu geben. Als würde man den Traurigen einen | |
höflichen Schutzraum lassen, ein weiß-rotes Absperrband um sie ziehen. Auch | |
um die Familie in der Fußgängerzone liegt gerade diese imaginäre | |
Absperrung. | |
Ich schaue ein letztes Mal zu ihnen, frage mich kurz, ob ich hingehen, | |
etwas sagen soll. Sie wirken wie Touristen, die sich die Stadt anschauen, | |
die hier eigentlich fremd sind. Diese Nachricht, die in ihr Leben geplatzt | |
ist, wird nun in ihrer Erinnerung mit diesem Ort, dieser Stadt verbunden | |
sein. Nein, ich traue mich nicht, in ihre Blase zu treten. Ich weiß auch | |
nicht, ob ich dazu berechtigt bin. | |
Ich laufe zum Bahnhof. Als ich an der Ampel warte, denke ich an die anderen | |
Fremden, die ich einmal draußen weinen sah und wundere mich, dass sich alle | |
in mir so eingebrannt haben. Da war ein Mann in der Fußgängerzone eng an | |
die Glasfassade eines großen Kaufhauses gedrückt. Er weinte bitterlich, saß | |
eng zusammengekauert in der Hocke, als hätte ihn etwas in die Knie | |
gezwungen. | |
Da war letzten Sommer der Junge, der allein durch die Allee ging, mit | |
langen Haaren, sein Gesicht nass vor Tränen. Um ihn lag auch etwas Freies. | |
Hatte er Liebeskummer? Er ging ganz offen in der Mitte der Allee. Und | |
kürzlich der Mann am Shisha-Laden. Er weinte laut, ohne jede Hemmnis, ein | |
dunkles Schluchzen, das aus ihm brach. Selbstverständlich saß er da auf dem | |
Bürgersteig und weinte. Zwei andere Männer saßen um ihn. Vielleicht hielten | |
sie mit ihm den Schmerz. Vielleicht hielten sie auch höflich Abstand. | |
Und dann denke ich daran, dass das Absperrband nicht die Traurigen ziehen. | |
Es kommt auch von außen. Es sind eher die anderen, die Angst vor dem Weinen | |
haben. Wer einmal angefangen hat zu weinen, hat die Angst losgelassen. Ich | |
denke an eine Busfahrt vor Jahren, als ich weinte. Da hat sich eine Frau | |
umgedreht und mir ein Taschentuch gegeben. Ganz lieb und | |
selbstverständlich. Ich weiß noch heute, wie da jemand einfach kein | |
Absperrband sah. | |
21 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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