| # taz.de -- Familie und Freundschaft: Wenn wir zu Hause sind | |
| > Zuhause ist nicht ein einziger Ort. Gerade in der Kindheit bewegen wir | |
| > uns im Zuhause von Freunden selbstverständlich. Und lernen dabei fürs | |
| > Leben. | |
| Bild: In der Kindheit bewegen wir uns in vielen Zuhauses | |
| Ein Drogeriemarkt. Leere Gänge. Zwei Jungs drücken sich darin herum. Ein | |
| Kaufhausdetektiv würde sie vielleicht observieren, ob sie etwas mitgehen | |
| lassen. Vielleicht ist ja gerade auch eine Kamera auf sie gerichtet. Beide | |
| haben etwas fettiges Haar. Sie sind vielleicht elf, zwölf Jahre alt. Sie | |
| stecken kurz vor der Pubertät und in Klamotten, die ihnen nicht ganz zu | |
| passen scheinen. Aus denen sie herausgewachsen sind oder noch hineinwachsen | |
| müssen, sie sind irgendwo dazwischen. Der eine ist groß und etwas mollig, | |
| der andere klein und weniger weit in der körperlichen Entwicklung. | |
| „Wenn wir zu Hause sind“, sagt der Kleine. „Wenn wir in deinem Zuhause | |
| sind“, korrigiert er sich dann. Er schaut kurz abwartend, wie der andere | |
| drauf reagiert, was er sich da angemaßt hat. Dass er das Zuhause des | |
| anderen für sich benannte, sich mit einbezog. Der große Junge schweigt. Er | |
| gibt überhaupt den Ton an mit seiner Stille. Aber er braucht den Kleinen. | |
| Der Kleine spricht für den Großen. Er plappert unaufhörlich, während sie | |
| durch die Gänge gehen, anhalten, Artikel in die Hand nehmen und wieder | |
| zurücklegen. Sie sind in ihrer Welt[1][, eine Jungs-Freundschaft:] zwei, | |
| die sich die Zeit vertreiben. Die einander haben. Der Kleine streicht um | |
| den anderen herum. Immer wieder berühren sich die beiden zufällig, streifen | |
| sich flüchtig an den Schultern, so vertraut wie Geschwister. | |
| Die beiden umgibt ein diffuses Gefühl von gemeinsam gemeistertem | |
| Verlorensein. Es könnten vielleicht zwei Außenseiter sein. Zwei, die nicht | |
| zu den sogenannten Coolen in der Schule gehören. Denen, mit den angesagten | |
| Klamotten und dem hineingeborenen Selbstbewusstsein. „Wenn wir zu Hause | |
| sind“, hat der Kleine gesagt und den anderen gemeint. Zuhause. Eine | |
| Verortung, ein sicherer Ort, der auch zu seinem geworden ist, vielleicht, | |
| weil er dort viel Zeit verbringt. Weil sie gleich zusammen dorthin gehen | |
| werden, mit irgendetwas, was sie hier von ihrem zusammengelegten Geld | |
| gekauft haben. | |
| ## Die Zuhauses meiner Kindheit | |
| Ich denke an die Häuser der anderen. Die Zuhauses meiner Kindheit. | |
| Merkwürdig, von Zuhause gibt es keinen Plural. Dabei gibt es sie: Die | |
| anderen Zuhauses, in denen ich wie der kleine Junge auch zu Hause war. In | |
| denen ich mich irgendwann zwanglos aufgehalten habe. Durch die ich so viel | |
| gelernt habe. Ich kenne sie immer noch, die Winkel und die Zimmer in den | |
| Häusern meiner Freundinnen und Freunde. | |
| Die Räume ihrer Geschwister, die Arbeitszimmer der Eltern, die Zimmer der | |
| Großeltern, die Kammern, in denen wir etwas zu essen stibitzten. Ihre | |
| Haustiere, wo sie schliefen und was sie zu essen bekamen. Ich erinnere mich | |
| an Übernachtungen bei den anderen. Nächte vor dem Fernseher. | |
| Zuhause ist nicht nur der Ort daheim. Der Raum meiner Kindheit ist auch | |
| durch die Häuser geprägt, wo ich übernachtet habe, wo ich andere Eltern | |
| kennengelernt habe, Rituale, Regeln und Freiheiten. Was ist Familie? Was | |
| kann Familie auch sein? Das habe ich in den Zuhauses der anderen erfahren | |
| und bin dadurch geprägt worden. Ich schaue die Jungs an, wie sie zusammen | |
| durch die Gänge streifen. „Wenn wir zu Hause sind.“ | |
| Ich denke daran, dass [2][in Zeiten der Pandemie Drinnen und Draußen] zwei | |
| grundlegende Paradigmen geworden sind. Wir treffen uns mit Freundinnen und | |
| Freunden draußen, weil das das Ansteckungsrisiko reduziert. Das Drinnen ist | |
| jetzt umso mehr das eigene Schutzreich, in das die, die nicht zum | |
| allerengsten Kreis gehören, nicht mehr hinein können. Das ist wichtig, um | |
| das Virus zu bekämpfen. | |
| Und doch, als ich die Jungs anschaue, spüre ich, dass es wichtig bleibt, | |
| sich das bewusst zu machen: Die anderen einzuladen, sie in den eigenen Raum | |
| zu lassen, in die Winkel, in denen wir uns mit unserer Seele zurückziehen, | |
| ist ein Zeichen von Vertrauen, es stärkt Beziehungen. Es prägt und | |
| strukturiert die Gesellschaft mit. Die Jungs sind beim anderen zu Hause. | |
| Sie werden damit groß, entwickeln sich. Und ich hoffe, dass wir das Zuhause | |
| wieder für den Plural öffnen, wenn es wieder geht. Die beiden Jungs holen | |
| schließlich zwei Packungen Spaghetti aus dem Regal. Sie legen sie auf das | |
| Band, kichern, tuscheln und zahlen mit Münzen aus ihrer Faust. Dann gehen | |
| sie hinaus, nach Zuhause. | |
| 16 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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