# taz.de -- Kolumne Zwischen Menschen: Die Geschichte der „St. Louis“ | |
> Seitdem so viele Flüchtlingsboote auf dem Meer umherirren und nicht | |
> anlegen dürfen, muss ich immer wieder an die „St. Louis“ denken. Und an | |
> ihren Kapitän. | |
Bild: Durfte nicht anlegen: Das Flüchtlingsschiff „St. Louis“ im Juni 1939… | |
Menschen winken, voller Vorfreude auf die weite Welt. Sie stehen auf einem | |
Kreuzfahrtschiff, das gerade aus Hamburg ausläuft. Ich stelle mir vor, wie | |
hier die Elbe entlang auch die „St. Louis“ fuhr. Auch sie war ein | |
Kreuzfahrtschiff mit einem fernen Ziel – Havanna. Doch ihre Passagiere | |
waren Flüchtlinge. Sie verließen ihre Heimat, um nicht ermordet zu werden. | |
Ich laufe hinauf nach Othmarschen, zum früheren Haus des Kapitäns, der die | |
„St. Louis“ steuerte. Seine Geschichte erscheint mir wichtig in diesen | |
Tagen. Seitdem so viele Flüchtlingsboote auf dem Meer umherirren und nicht | |
an Land dürfen, muss ich immer wieder an die „St. Louis“ denken. Und an | |
ihren Kapitän: | |
„Er war eher so ein leiser Mensch“, sagt sein Großneffe Jürgen Glaevecke. | |
Im Zimmer, wo er alle Dinge seines Großonkels aufbewahrt, legt er mir ein | |
Modellschiff in die Hand. „Das ist die ,St. Louis'“, sagt er. „Das Schiff | |
der Heimatlosen auf hoher See“, wie Kapitän Gustav Schröder sie in seinen | |
Memoiren nannte. | |
1939, ein halbes Jahr nach der Pogromnacht, fuhr Schröder mit neunhundert | |
Juden an Bord nach Kuba. Für viele war es die letzte Chance zur Flucht vor | |
dem Konzentrationslager. Schröder war in der NSDAP. Aber er beauftragte die | |
Besatzung, die Juden wie alle Gäste bei einer Kreuzfahrt zu behandeln. Die | |
Flüchtlinge schwammen im Pool. Die Stimmung war gut. | |
Doch als sie Kuba erreichten, durfte die „St. Louis“ nicht anlegen. Dabei | |
hatten die Passagiere zuvor 500 Reichsmark für ein kubanisches Visum | |
bezahlt. „Innenpolitische Störungen“, hieß es. Fünf Tage lag das Schiff … | |
Land. Schröder verhandelte mit der Regierung, ohne Erfolg. Ein Passagier | |
unternahm einen Suizidversuch. Schließlich erhielt Schröder den Befehl, den | |
Hafen zu verlassen, ansonsten werde das Schiff mit Gewalt hinausgetrieben. | |
„Kapitän, wohin fahren Sie uns?“, fragten ihn die Menschen. Er konnte keine | |
Antwort geben. Das erste Mal in seinem Leben fuhr Schröder ohne Ziel. Die | |
Passagiere hatten Todesangst: „Lieber springen wir ins Meer, als dass wir | |
ins KZ zurückgehen“, sagte eine Dame zu ihm. | |
Eigenmächtig steuerte er die USA an, Florida Beach. Doch auch dort durfte | |
er nicht anlegen. Er schrieb an Präsident Roosevelt. Aber es war Wahlkampf | |
und die Arbeitslosigkeit hoch. Die Menschen hatten Angst, dass die | |
Migranten ihnen ihre Jobs wegnehmen. Auch Kanada lehnte ab. Die | |
europäischen Länder verwiesen auf Aufteilungsquoten. Niemand nahm sie auf. | |
Die Parallelen zum Heute, die ich hier in Schröders Zimmer höre, sind fast | |
unheimlich. Weltweit wurde damals die Presse auf die Irrfahrt des | |
Flüchtlingsschiffes aufmerksam. Alle wussten Bescheid, aber keiner griff | |
ein. | |
## Nach fünf Wochen wurden Proviant und Öl knapp | |
Schröder ließ Wachen aufstellen, damit die Menschen nicht ins Meer | |
sprangen. Er gründete ein jüdisches Bordkomitee, hielt Vollversammlungen | |
ab. Er musste Trost sprechen. Doch auch er war deprimiert. | |
Nach fast fünf Wochen wurden Proviant und Öl knapp. Schließlich kam von der | |
Reederei Hapag die Anweisung umzukehren. „Bestimmungsort: Cuxhaven.“ Von | |
dort fuhr ein Gestapo-Boot den Flüchtlingen entgegen, um sie abzufangen. | |
Schröder war aber entschlossen, „dorthin nicht zurückzukehren“. Er wollte | |
die Passagiere an der englischen Küste nachts illegal an Land lassen. Doch | |
soweit kam es nicht. Inzwischen hatte das jüdische Hilfskomitee einen Hafen | |
für die Passagiere verhandelt: Antwerpen. Dort wurden sie auf Frankreich, | |
Großbritannien, Belgien und die Niederlande aufgeteilt. Ihre Dankbarkeit | |
„war rührend und bewegte mich tief und unvergesslich“, schrieb Schröder. | |
Umso mehr betrauerte er, dass fast ein Drittel der Passagiere später im | |
Holocaust starb. | |
„Was ließ ihn so handeln?“, frage ich seinen Großneffen. Er hebt die Hän… | |
in die Höhe. „Gerechtigkeit“, sagt er. „Dass Menschen die gleichen Chanc… | |
haben. Nicht nur immer ich.“ Schröder hat nicht viel Aufhebens um seinen | |
Mut gemacht. Doch er endet seine Memoiren eindringlich: „Dass das Schicksal | |
dieses Emigrantenschiffs als Mahnung gesehen werden sollte: Damit sich | |
Grausamkeit und Unmenschlichkeit, wo es auch immer sei, nie wieder breit | |
machen können.“ | |
31 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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