# taz.de -- Ziviler Ungehorsam in Ellwangen: Für die Freiheit, gegen Abschiebu… | |
> Geflüchtete standen schon häufig füreinander ein – und bekamen oft | |
> nachträglich recht. Warum sich Widerstand gegen Abschiebung lohnt. | |
Bild: Die Pfeife war zeitweise das Symbol selbst organisierten Widerstands von … | |
Berlin taz | Ein Morgen im April 1995: Zwei Polizisten kommen in ein | |
Flüchtlingsheim in Rothenstein, südlich von Jena. Sie suchen den Nigerianer | |
Osaren Igbinoba. Die Ausländerbehörde in Eisenberg hat sie geschickt, | |
angekündigt hatten sie sich nicht. Sie sollten Igbinoba zum Flughafen | |
Düsseldorf bringen. Der Oppositionelle soll nach Nigeria geschickt werden, | |
wo der General Sani Abacha zu jener Zeit ein blutiges Militärregime | |
errichtet hatte. | |
Die anderen Flüchtlinge im Heim stammen aus der Türkei, Togo, Iran, Kongo, | |
aus vielen Ländern. Sie wollen Igbinoba nicht kampflos aufgeben. Einer | |
weckt ihn, andere sammeln in aller Eile 200 D-Mark und drücken sie ihm in | |
die Hand. Andere stellen sich in den Flur, der zu seinem Zimmer führt. | |
„Warum“ ist eines der wenigen deutschen Wörter, das viele von ihnen kennen. | |
Immer wieder fragen sie das die Polizisten: „Warum wollt ihr ihn holen?“ Es | |
ist ein Vorwand, um sie nicht vorbei zu lassen. Igbinoba kann den Tumult | |
hören, er öffnet das Fenster und springt hinaus. Er läuft durch den Wald, | |
schlägt sich durch in die nächste Stadt. Nach einer Weile versteckt ihn | |
eine befreundete Sozialarbeiterin bei Leuten, die ein autonomes Zentrum in | |
Oldenburg betreiben. | |
Später stellt sich Osaren den Behörden. Er kämpft um sein Asyl, dass er | |
nach einigen Jahren auch bekommt. Die Nacht in Rothenstein aber hat sein | |
Leben verändert. Sie macht Igbinoba klar, dass die Flüchtlinge verlieren, | |
wenn sie in ihren ethnischen Communitys bleiben und keine Solidarität | |
untereinander zeigen. Er gründet die erste Flüchtlingsorganisation in | |
Deutschland: [1][das bis heute existierende The Voice Refugee Forum], das | |
vor allem darauf setzt, Flüchtlinge bei ihrem Kampf um Rechte zusammen zu | |
bringen. „Die Gesetze betreffen alle Flüchtlinge gleichermaßen“, sagt | |
Igbinoba. Gemeinsam ungehorsam zu sein, das sei „ein Schrei nach Freiheit, | |
aber schon ein Teil der Freiheit selbst“. | |
Immer wieder wehrten sich Flüchtlinge seitdem gemeinsam, wenn die Polizei | |
in der Nacht zur Abschiebung anrückt. Vorwürfe, dabei sei gegen Polizisten | |
mit Gewalt vorgegangen worden, wie nun in Ellwangen ([2][die sich nicht | |
bestätigten]), finden sich auch nach langer Suche in den Archiven kaum. Und | |
das mit gutem Grund: Erstens haben die Flüchtlinge meist große Angst vor | |
der Polizei und können überhaupt nicht einschätzen, wie diese reagiert. | |
Zweitens müssen sie ja im Lager wohnen bleiben – und sind deshalb jederzeit | |
dem Zugriff der Behörden ausgesetzt. | |
## Pfeifen gegen die Polizei | |
Gewaltlose Formen von Widerstand gibt es aber sehr wohl. Bekannt wurde | |
dafür in der jüngeren Vergangenheit etwa die Aufnahmeeinrichtung in | |
Osnabrück. Hier hatten die BewohnerInnen sich Trillerpfeifen verschafft. | |
Immer dann, wenn morgens die Polizei kam, versammelten sich hunderte | |
Asylsuchende vor den Häusern, sangen und pfiffen. Die Beamten zogen sich | |
zwischenzeitlich zurück. Mehrfach wurden im vergangenen Jahre in Lagern in | |
Niedersachsen so Abschiebungen vereitelt. Im September 2017 bauten die | |
Flüchtlinge einen Umzugswagen im Form einer riesigen Pfeife und zogen damit | |
während der „Welcome United“-Parade durch das Regierungsviertel in Berlin. | |
Berichtet wurde über die Aktionen kaum. Deutlich mehr öffentliches Aufsehen | |
erregte ein Vorfall im vergangenen Jahr in Nürnberg: Am 31. Mai 2017 waren | |
Polizisten in eine Nürnberger Berufsschule gekommen, um den Afghanen Asef | |
N. in Abschiebehaft zu nehmen. Hunderte MitschülerInnen und | |
UnterstützerInnen stellten sich den Beamten jedoch in den Weg. Der | |
Polizeieinsatz lief aus dem Ruder. Im TV waren Bilder heftiger | |
Auseinandersetzungen zu sehen. Das Landgericht Nürnberg-Fürth hob wenige | |
Tage später jedoch die Abschiebehaft gegen N. auf. Am 16. Januar | |
verlängerte die Ausländerbehörde seine Aufenthaltsgestattung um drei | |
Monate. Das Asylverfahren des 21-Jährigen soll neu aufgerollt werden. | |
Die Staatsanwaltschaft hat Asef N. allerdings angeklagt – unter anderem | |
wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und tätlichen Angriffs. | |
Weitere 14 Strafbefehle hat die Staatsanwaltschaft nach den | |
Auseinandersetzungen in Nürnberg ausgestellt. Weitere sollen folgen. Unter | |
den Beschuldigten, denen meist gegen die PolizeibeamtInnen Beleidigung | |
vorgeworfen wird, seien drei SchülerInnen, die übrigen seien | |
„hinzugekommene Demonstranten“, berichteten die Nürnberger Nachrichten. | |
Neun weitere Ermittlungsverfahren seien noch nicht abgeschlossen, doch hier | |
werde aller Voraussicht nach ebenfalls mit einem Strafbefehl gerechnet. | |
Zwei weitere Verfahren seien außerdem an andere Staatsanwaltschaften | |
abgegeben worden. Ein 22-Jähriger wurde zu einer Bewährungsstrafe wegen | |
Widerstands und tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte zu einer | |
Strafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. „Sie waren auf den | |
richtigen Veranstaltungen, Sie sind aber falsch herangegangen,“ [3][sagte | |
der Richter zum Angeklagten]. | |
## Solidarische Aktionen gegen Abschiebung | |
Bayern hatte zuletzt mehrfach versucht, berufstätige oder sich in | |
Ausbildung befindliche Afghanen abzuschieben oder dies tatsächlich getan. | |
Das hatte auch die Frage aufgeworfen, welche Rolle dabei LehrerInnen | |
zukommt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat deswegen | |
eigens einen Leitfaden erstellt, der Beschäftigten im Bildungsbereich | |
erläutert, welche Rechte und Pflichten sie im Falle einer Abschiebung von | |
Personen aus ihren Einrichtungen haben. | |
Die Grundaussage des Leitfadens sei, dass nach Bundesaufenthaltsgesetz | |
keine Auskunftspflicht gegenüber der Polizei besteht, sagte der Vorsitzende | |
der GEW Bayern, Anton Salzbrunn. „Keine Kollegin und kein Kollege muss der | |
Polizei mitteilen, an welchem Ort sich eine geflüchtete Person aktuell | |
befindet.“ Bildungseinrichtungen müssten „Schutzräume“ bleiben. Der [4]… | |
Internet bereitgestellte Leitfaden], stelle klar, dass PädagogInnen nicht | |
direkt an Abschiebungen mitwirken müssen. | |
Neben Lagern und Schulen sind es vor allem Flughäfen, an denen zuletzt | |
vielfach gegen Abschiebungen protestiert wurden. Teils indirekt, in den | |
Abfertigungshallen, teils direkt im Flugzeug. 2017 scheiterten bis Ende | |
September 222 Abschiebungen, weil Piloten sich weigerten, die Abgeschobenen | |
zu befördern. Das [5][berichtete die Welt] mit Bezug auf eine Anfrage der | |
Linkspartei. In vielen Fällen waren Passagiere durch Protestaktionen beim | |
Check-In auf die geplanten Abschiebungen aufmerksam gemacht worden. | |
Schon 2003 hatte etwa Flughafengesellschaft Frankfurt, die Fraport AG, | |
versucht, dies zu unterbinden und den Aktivisten der „Initiative gegen | |
Abschiebungen“ ein Hausverbot erteilt. Doch diese klagten sich bis nach | |
Karlsruhe durch –und gewannen. Als legitimer Zweck zur Einschränkung der | |
Meinungsfreiheit könne „nicht der Wunsch herangezogen werden, eine | |
‚Wohlfühlatmosphäre‘ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von | |
politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei | |
bleibt“, schrieben die Richter in ihrem Urteil. | |
Ausgeschlossen seien auch Verbote, die dem Zweck dienen, bestimmte | |
Meinungsäußerungen „allein deshalb zu unterbinden, weil sie von der | |
Flughafenbetreiberin nicht geteilt, inhaltlich missbilligt oder wegen | |
kritischer Aussagen gegenüber dem betreffenden Unternehmen als | |
geschäftsschädigend beurteilt werden“. Immer wieder protestieren nun | |
AktivistInnen an Flughäfen, wenn von dort abgeschoben wird, zuletzt im März | |
aim Airport Leipzig-Halle, als von dort ein Flugzeug Richtung Kabul starten | |
sollte. | |
4 May 2018 | |
## LINKS | |
[1] /!5031970/ | |
[2] /Neuer-Blick-auf-Vorfall-in-Unterkunft/!5500584 | |
[3] https://www.welt.de/regionales/bayern/article170006001/Bewaehrungsstrafe-fu… | |
[4] https://www.gew-bayern.de/fileadmin/media/sonstige_downloads/by/PRESSE_pdf/… | |
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article171330468/Piloten-verhindern… | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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