# taz.de -- SPD-Politikerin Simone Lange: Ein Gegenentwurf zu Frau Nahles | |
> Simone Lange will SPD-Vorsitzende werden. Die Flensburger | |
> Oberbürgermeisterin fordert eine radikale soziale Wende. Hat sie Chancen? | |
Bild: Die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange | |
HANNOVER/KÖLN taz | Am Ende hört Simone Lange nur noch zu. Die Hände vor | |
dem Körper gefaltet, mit unerschütterlichem Lächeln im Gesicht – Zuversicht | |
ausstrahlend. Ihre Gegenüber sind da emotional unschlüssiger. Die etwa 70 | |
SPD-Mitglieder, die sich Anfang April in der Hannoveraner SPD-Zentrale | |
versammeln, schwanken zwischen Begeisterung und Resignation. | |
„Ich wünsche dir, dass du den Mut nicht verlierst. Aber du darfst die Macht | |
des Vorstands nicht unterschätzen. Und der will Nahles, nicht Simone“, sagt | |
ein älterer Herr in traurigem Tonfall. Ein paar Plätze weiter hält ein | |
Genosse dagegen, Lange könne die Führungsfigur einer linken Basisbewegung | |
werden. | |
Was denn nun? Chancenlos oder Galionsfigur? Irgendwie beides. Einerseits | |
sind die Zuhörer begeistert von Lange, der Flensburger Oberbürgermeisterin, | |
die es wagt, die Krönung von Andrea Nahles auf dem Parteitag Ende April mit | |
ihrer eigenen Kandidatur für den Vorsitz zu stören. Andererseits sind viele | |
resigniert, weil sie ihr keine Chancen einräumen, gegen die gut vernetzte | |
Fraktionschefin im Bundestag zu gewinnen. | |
Eine Stunde zuvor: Der große Auftritt beginnt. Lange ist nach Hannover | |
gekommen, um ihr Programm vorzustellen. Sie erklärt, wie sie mit viel | |
Basisdemokratie die Partei erneuern will, und dass die SPD endlich wieder | |
für jene da sein muss, „die wir im Stich gelassen haben“. Sie spricht frei. | |
Ihre Hände streckt sie den Zuhörern entgegen. Mit warmer, sich leicht | |
überschlagender Stimme inszeniert Lange sich als fürsorgliche Politikerin – | |
die aber auch austeilen kann. | |
## Störfaktor im Parteikreislauf | |
Zum Beispiel, wenn es um die vermeintliche Selbstgewissheit der | |
Parteioberen geht. Thema: Bedingungsloses Grundeinkommen. „Warum | |
diskutieren wir das nicht erst einmal, bevor wieder jemand sagt, das geht | |
aus diesen und jenen Gründen nicht?“, fragt Lange. Statt Entscheidungen von | |
oben fordert sie Basiskongresse und Graswurzelpolitik. Das kommt gut an in | |
Hannover. | |
Simone Lange ist ein Störfaktor im Kreislauf einer Partei, die nach jeder | |
Wahlniederlage große Veränderungen ankündigt, dann aber doch wieder mit den | |
gleichen Köpfen und Inhalten im „Weiter so“ versinkt. Auch dieses Mal | |
schien wieder alles ausgemacht. | |
Der 20,5-Prozent-Verlierer Martin Schulz macht die Groko-Ministerin und | |
ehemalige Generalsekretärin Andrea Nahles nach der Wahlniederlage im | |
vergangenen September erst zur Fraktionsvorsitzenden und kündigt sie nach | |
den Koalitionsverhandlungen auch noch als neue Parteivorsitzende an. | |
Zu viel „Weiter so“ für Simone Lange. „Ich erlebe, dass dieselben Person… | |
die schon vor zehn oder fünfzehn Jahren von Erneuerung gesprochen haben, | |
jetzt wieder über Erneuerung reden. Da passt was nicht zusammen“, sagt die | |
Lokalpolitikerin. | |
Ihre Kandidatur um den Parteivorsitz hat Lange am 12. Februar bekannt | |
gegeben – und damit die geräuscharme Machtübergabe verhindert. Wer in | |
Nahles das falsche Gesicht für eine Erneuerung sieht, hat seitdem eine | |
Alternative. | |
Und eine Alternative für die Delegierten auf dem Parteitag ist Lange in der | |
Tat – auch wenn Insider ihr keine Chance einräumen. In Parteikreisen | |
rechnet man mit zehn bis 30 Prozent. Nahles sitzt seit mehr als zwanzig | |
Jahren im Parteivorstand. Ihr Lebenslauf liest sich, als habe sie ihr | |
gesamtes Erwachsenenleben darauf hingearbeitet, am 22. April in Wiesbaden | |
den Vorsitz zu übernehmen. | |
## Letzte Hoffnung für die linke Erneuerung | |
Simone Lange ist überhaupt erst seit 2008 in der Politik und erst seit | |
knapp einem Jahr Oberbürgermeisterin in Flensburg. Sie fordert eine | |
radikale soziale Wende. Nach dem Scheitern der NoGroko-Kampagne und dem | |
wohl chancenlosen Mitgliederbegehren zur Urwahl des Parteivorsitzenden | |
scheint Langes Kampagne die letzte Hoffnung derjenigen in der SPD zu sein, | |
die sich eine linke Erneuerung der Partei durch die Basis wünschen. | |
Doch wie ist Lange eigentlich hierhin gekommen? Nach dem Abitur zieht die | |
Thüringerin Anfang der 90er-Jahre nach Schleswig-Holstein, um sich dort zur | |
Kriminalbeamtin ausbilden zu lassen. Ihr großes Thema soziale Gerechtigkeit | |
hat sie nach eigenen Angaben durch ihre Arbeit entdeckt. „Ich habe gelernt, | |
dass die Schattenseiten der Gesellschaft da auftreten, wo die | |
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so sind, dass sie entstehen“, sagt | |
Lange in Hannover. | |
Der zweite Auslöser für ihr politisches Engagement ist dann folgerichtig | |
die Agenda 2010. „Ich bin 2004 nicht wegen, sondern trotz Schröder in die | |
SPD eingetreten“, verkündet die 41-Jährige mitten in der Heimatstadt des | |
Altkanzlers. „Die Sozialdemokratie ist mehr als Schröder – und die Agenda | |
war auch damals nicht alternativlos“, ruft die Lokalpolitikerin und ballt | |
kurz die Faust. | |
Die Genossen applaudieren. Man scheint es hier nicht gewohnt zu sein, dass | |
jemand aus der eigenen Partei so schonungslos mit der sozialdemokratischen | |
Politik der vergangenen 15 Jahre umgeht. | |
## Improvisierter Wahlkampf | |
Zwei Tage später sitzt Lange auf der Terrasse des Bürgerzentrums | |
Köln-Ehrenfeld und spricht mit Unterstützern. Am Vormittag hat sie schon | |
zwei Auftritte in Hagen und Hilden absolviert, in Köln wird sie am Abend | |
erneut sprechen. Die gesamten Osterferien tourt Lange durch Deutschland. | |
Das Signal: Ich will wirklich gewinnen. Das hätten zu Beginn der Kampagne | |
viele bezweifelt. „Aber ich meine das ernst und das ist mittlerweile | |
angekommen“, sagt sie siegesgewiss. „Ich habe eine Chance – und die will | |
ich wahrnehmen!“ Lange schaut entschlossen, während sie das sagt. | |
Auf dem Parkplatz hinter dem Bürgerzentrum steht ein grauer VW-Bus, Symbol | |
für den Improvisations-Wahlkampf der Überraschungskandidatin. Ein | |
Unterstützer hat ihn zur Verfügung gestellt. #TeamSimone besteht aus | |
Bekannten, die Lange ehrenamtlich unterstützen. | |
Friedhart Temme, pensionierter Koch fährt den Kleintransporter, | |
Friseurmeisterin Imke Hemsen organisiert Veranstaltungen und kümmert sich | |
um Social Media, Lange hat sie bei der gemeinsamen Arbeit in | |
Flüchtlingsunterkünften kennengelernt. Die Pressearbeit macht Postbote | |
Nicolas Jähring. Für alle ist die Aufgabe neu. Im Bus liegen Erdnussdosen, | |
Wasserflaschen und Taschen herum. Die Kampagne wirkt, als ginge eine | |
Newcomer-Rockband auf Tour. | |
## Vom Vorstand ignoriert | |
Es ist schwer zu beurteilen, wie groß die Resonanz auf Langes Kandidatur | |
wirklich ist. Nach eigenen Angaben unterstützen sie 80 Ortsvereine – von | |
etwa 13.500. Zwar sind die Veranstaltungen in Hannover und Köln gut | |
besucht, doch lässt sich daraus nicht unbedingt ableiten, dass Langes linke | |
Haltungen in der Partei mehrheitsfähig sind. Gerade erst hat eine | |
überwältigende Mehrheit der SPD-Mitglieder für die Große Koalition | |
gestimmt, die Lange ablehnt. | |
Ein schwieriges Verhältnis hat Lange zum SPD-Bundesvorstand. Der ignoriert | |
sie weitgehend. „Ich fühle mich nicht in dem Maße beachtet, wie ich das als | |
Kandidatin verdiene“, sagt sie. Aus ihrer Stimme spricht Enttäuschung. | |
Niemand aus der Parteispitze habe nach der Bekanntgabe ihrer Kandidatur | |
Kontakt mit ihr aufgenommen. | |
Nur die Rechtsabteilung habe sich gemeldet, um ihr die Formalia für die | |
Bewerbung mitzuteilen. Erst zwei Wochen vor dem Parteitag wird Lars | |
Klingbeil sich melden, um die Abläufe des Konvents zu klären. | |
Auch von der Gegnerin gibt es kaum Beachtung. „Das ist halt ein eigenes | |
Völkchen, die Schleswig-Holsteiner“, hat Andrea Nahles gesagt, kurz nachdem | |
Lange ihre Kandidatur im Februar bekanntgegeben hat. Eine Aufforderung zu | |
einem gemeinsamen öffentlichen Auftritt hat Nahles abgelehnt. Es scheint, | |
als wolle man die Kandidatur der Außenseiterin in Berlin einfach | |
ignorieren. Erneuerung ja, aber ohne Personalfragen bitte. | |
Um 19.30 Uhr dann der letzte Auftritt an diesem Samstag. Eigentlich gibt es | |
ein Podium, doch Lange steht davor, um über die Erneuerung der SPD zu | |
sprechen. | |
## Basis ausgeschlossen | |
Ein Gast in der ersten Reihe hört besonders genau zu. Susanne Neumann hat | |
ihren Arm auf die Stuhllehne gelegt, schaut kritisch und knetet ihre | |
Oberlippe. Die Gewerkschafterin aus Gelsenkirchen wurde deutschlandweit | |
bekannt, als sie 2016 den damaligen SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel | |
bei einem gemeinsamen Auftritt in Ruhrpott-Dialekt an die Wand diskutierte. | |
Was hält sie von Lange? „Im Gegensatz zu Gabriel traue ich ihr zu, dass sie | |
auch mit einer Putzfrau reden kann und weiß, wovon sie spricht.“ Aber: „Ich | |
fürchte, ihr könnte der Biss fehlen, den es für das Amt braucht.“ | |
Sowohl in Hannover als auch in Köln trifft Lange auf Menschen, die ihrem | |
Programm wohlgesonnen sind. Wird sie dennoch präzise nach einem | |
spezifischen Politikfeld – wie Gesundheit oder Äußeres – gefragt, reagiert | |
sie gelegentlich zögernd oder verweist auf die Basiskongresse, auf der die | |
Themen dann ausdiskutiert werden sollen. In diesen Momenten merkt man Lange | |
an, dass sie bisher hauptsächlich Lokal- und Regionalpolitik betrieben hat. | |
Das Publikum verzeiht ihr die kleinen Unsicherheiten. Doch egal, wie viel | |
Basisarbeit Lange macht, am Ende entscheiden die 600 Delegierten. Die | |
meisten Zuhörer im Ehrenfelder Bürgerzentrum können Lange nicht direkt | |
helfen. | |
Bei einem Mann mit markantem Bart, der ganz hinten im Raum Platz genommen | |
hat, ist das anders. Gabriel Kunze ist Chef der Bonner SPD und Delegierter | |
beim Wiesbadener Parteitag und hadert noch mit seiner Stimmabgabe. „Es gibt | |
viele Delegierte, die Nahles skeptisch gegenüber stehen“, sagt der | |
Kommunalpolitiker in nachdenklichem Tonfall. Dank Langes Kandidatur habe | |
man nun eine Auswahl. „Das wird den Parteitag spannender machen“, sagt | |
Kunze und lobt Lange als Frau mit Prinzipien. | |
Im Vorhinein hätte er sich ein faireres Verfahren gewünscht. Grundsätzlich | |
kann er sich vorstellen, auch Lange zu wählen. Damit hat Simone Lange | |
zumindest einen Delegierten schon halb überzeugt. Immerhin. | |
18 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Jörg Wimalasena | |
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