| # taz.de -- Mehrere Tage Haft für eine rote Ampel: Ein Mann geht seinen Weg | |
| > Ein 77-Jähriger schiebt spätabends sein Fahrrad über eine leere Straße. | |
| > Die Polizei fordert daraufhin ein Bußgeld von 90 Euro. Doch der Architekt | |
| > wehrt sich. | |
| Bild: Christof M. Dorneich (77) vor besagter Ampel am Wittenbergplatz | |
| Christof M. Dorneich ist eine markante Erscheinung: Der 77-jährige | |
| Architekt, der auf Visitenkarte und Briefkopf mit „C. M. Dorn’eich“ | |
| firmiert, trägt einen stattlichen weißen Bart und eine seinem Berufsstand | |
| angemessen extravagante Brille, eine Baskenmütze bedeckt die hohe Stirn. | |
| Dorneich spricht mit schwäbischem Einschlag, hat aber unter anderem lange | |
| in Japan gelebt und gearbeitet; das passt zu seiner höflichen Art. | |
| Dass er die beiden Polizeibeamten mit besonders respektlosem Auftreten | |
| gereizt haben könnte, damals, im Februar 2016 am Rande des | |
| Wittenbergplatzes, mag man sich darum nicht so recht vorstellen, und in | |
| seiner Korrespondenz mit den Behörden, die einen dicken weißen Aktenordner | |
| füllt, wird nichts Derartiges erwähnt. Aber aufgebracht war Dorneich wohl | |
| schon, als die Streife ihn anhielt und darauf ansprach, dass er soeben eine | |
| rote Fußgängerampel missachtet habe. | |
| Das hatte er tatsächlich. Bloß konnte er nicht erkennen, was daran so | |
| dramatisch sein sollte. Immerhin war es schon halb elf am Abend und kein | |
| fahrendes Auto weit und breit, als er sein Fahrrad über den Tauentzien | |
| schob, um nach Hause in die Ansbacher Straße zu kommen. Genau genommen | |
| passierte er auch nicht den Fußgängerüberweg, sondern kreuzte die Fahrbahn | |
| zehn Meter weiter in Richtung KaDeWe. | |
| So genau können das die Polizisten ohnehin nicht wahrgenommen haben, ist | |
| sich Dorneich sicher. Schließlich standen jene mehr als 60 Meter von der | |
| Stelle entfernt bei ihrem Streifenwagen, dazwischen mehrere visuelle | |
| Hindernisse. | |
| ## Verstand abschalten? | |
| Und wenn er wirklich auf dem Rad gefahren wäre, wie die Beamten später | |
| behaupteten, hätte er ja problemlos weiterradeln und in der Dunkelheit | |
| verschwinden können. Was er nicht tat. Vielmehr verwickelte er die | |
| Ordnungshüter in eine längere Debatte über die Frage, ob eine Verkehrsampel | |
| für denkende Menschen eine nicht zu hinterfragende Autorität darstelle, | |
| vor der man den Verstand abzuschalten habe. | |
| All das hat Dorneich auf vielen Seiten wohlformuliert dargelegt, die er dem | |
| erst kürzlich abgesetzten Polizeipräsidenten in mehreren Briefen zukommen | |
| ließ. Klaus Kandt persönlich, wohlgemerkt, schließlich hatte auf dem | |
| amtlichen Schreiben als Absender „Der Polizeipräsident von Berlin“ | |
| gestanden. Dass der Chef diese Schreiben nicht höchstpersönlich aufsetzt, | |
| ist Dorneich natürlich klar. Aber ihm bereitet es offensichtlich eine | |
| gewisse Genugtuung, die Obrigkeit auf solche Merkwürdigkeiten und andere, | |
| ernstere Unstimmigkeiten hinzuweisen. | |
| Wie etwa die Tatsache, dass er sieben Wochen später ein Bußgeld von 60 Euro | |
| entrichten sollte, weil er „als Radfahrer“ die rote Ampel missachtet habe. | |
| Hinzu kamen „Verfahrens-“ und andere Kosten in Höhe von 28,50 Euro. „Ich | |
| dachte, ich hätte die beiden Beamten überzeugt, und den Vorfall schon | |
| wieder vergessen“, sagt Dorneich, der ob des hohen Betrags Einspruch | |
| einlegte und es auf eine Verhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten | |
| ankommen ließ. | |
| Eine Verhandlung, die er schließlich mit der Rücknahme seines Einspruchs | |
| abbrach – weil die als Zeugen geladenen Polizisten unisono beteuerten, er | |
| sei nicht bei Rot über die Straße gegangen (Bußgeld laut Katalog: 5 Euro), | |
| sondern geradelt (Bußgeld laut Katalog: 60 Euro). Glatt gelogen, meint | |
| Dorneich. Für ihn beginnt der ganze Fall hier „kriminell“ zu werden. Nur: | |
| Andere Zeugen gab es nicht. Damit sitzt er eindeutig am kürzeren Hebel. | |
| ## Er will das durchziehen | |
| Dorneich ist ein sehr genauer Mensch. In seinem Korrespondenzordner | |
| befinden sich auch Skizzen des vermeintlichen Tatorts, von Hand gezeichnet, | |
| mit dem Computer erstellt. Und ausgedruckte Videostills vom | |
| Wittenbergplatz: „Es hat mich dann interessiert, wie viele Menschen | |
| eigentlich jeden Tag ungestraft bei Rot über diese Ampel gehen“, erklärt | |
| er: Er habe 24 Stunden lang jeweils zehnminütige Videos gedreht, | |
| durchgezählt und hochgerechnet: „Ich kam allein für diesen Übergang auf | |
| 1.000.“ Bei mehreren tausend Fußgängerampeln in Berlin landet man da | |
| schnell im Millionenbereich. „Und dann picken die mich heraus?“ Der Blick | |
| aus Dorneichs sehr blauen Augen wirkt ehrlich konsterniert. | |
| Irgendwann vor einem guten Jahr sei er „weich geworden“, berichtet er. Er | |
| habe Klaus Kandt noch einmal geschrieben und einen ausgefüllten | |
| Überweisungsauftrag beigelegt. Aus irgendeinem Grund wollte den die Polizei | |
| aber nicht zur Bank tragen – und schickte ihn zurück. Beim zweiten Versuch | |
| durch ihn selbst scheiterte die Überweisung an einem Zahlendreher im | |
| Aktenzeichen. „Das habe ich als Zeichen des Himmels betrachtet, die Sache | |
| einfach mal durchzufechten und zu sehen, was passiert“, sagt Dorneich. | |
| Passiert ist dann, dass er Ende Februar 2018, zwei Jahre nach jenem | |
| denkwürdigen Abend, wieder einen gelben Umschlag zugestellt bekam, diesmal | |
| vom Amtsgericht Tiergarten. „… wird gegen den Betroffenen Erzwingungshaft | |
| von 3 Tagen angeordnet“, heißt es darin. Ob er wirklich wegen 100 Euro in | |
| den Knast gehen will? Ja, sagt Dorneich. „Dann nehme ich Schlafsack und | |
| Zahnbürste mit und werde da vorstellig.“ Der Mann will das durchziehen. | |
| Auf taz-Anfrage bestätigt Justizsprecherin Lisa Jani den Vorgang – und | |
| schließt aus, dass Dorneich um die Erzwingungshaft herumkommt, so er sich | |
| denn weigert zu zahlen. „Wenn wir diese Möglichkeit nicht hätten, würden | |
| alle versuchen, ohne Zahlung durchzukommen. Man darf eben nicht selbst | |
| entscheiden, ob man im Recht ist“, erklärt sie mit Blick auf Dorneichs | |
| Argumentation. Dann fügt sie hinzu, dass die Bußgeldforderung durch die | |
| Tage im Gefängnis nicht abgegolten wird: „Es kann auch erneut | |
| Erzwingungshaft angeordnet werden.“ Christof M. Dorneichs Kampf gegen die | |
| Willkür der Berliner Behörden ist möglicherweise noch lange nicht vorbei. | |
| 14 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Claudius Prößer | |
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