# taz.de -- Essay Europäische Flüchtlingspolitik: Wenn die Archäologen kommen | |
> Was werden die künftigen Generationen wohl über unsere heutige | |
> Flüchtlingspolitik sagen? Ein Blick nach Calais – aus der Zukunft. | |
Bild: Die Freiheit vergraben | |
Ende Oktober 2016 war ich nach Calais gereist, zum Zeitpunkt der Zerstörung | |
des berühmten „Dschungels“ mit Bulldozern. François Hollande war noch | |
Präsident, der Wahlkampf lief, es ging um ein Zeichen der Entschlossenheit. | |
Nachts hatte ich die qualmenden Reste des Camps entdeckt, ein paar hundert | |
Meter von einer verseuchten Industriezone entfernt unterhalb einer | |
Schnellstraße zwischen Sanddünen, die eine frühere Müllkippe bedeckten. Ein | |
trauriges Bild: brennende Zelte, eine komplett vernichtete Kleinstadt mit | |
Straßen, Restaurants, Moscheen, Kirchen und Hütten mit Schildern wie | |
„Afghan Chicken Soup“, „Welcome to London“, „Belgium Restaurant“. | |
Vergänglichkeit in der Nacht, beißender Rauch, Pfützen des Löschwassers der | |
Feuerwehr, Haufen von Stangen und zerrissenen Planen. | |
Was mir damals auffiel, sogar in der Dunkelheit, war, dass dieser in den | |
Medien immer abstrakt als „Dschungel“ bezeichnete Ort tatsächlich aus ganz | |
konkreten Menschen bestand : lebendige Männer und Frauen, deren Husten in | |
den wenigen noch bewohnten Zelten ich hörte; Silhouetten auf den | |
benachbarten Kreisverkehren und Brachlandschaften, die im fahlen Licht der | |
Überwachungsanlagen des Zubringers und der Hafenzäune davonstoben; | |
Jugendliche, die sich in der Konfusion der Räumung verloren hatten. | |
Dort, zwischen den Dünen, hatte sich jahrelang mit Hilfe zahlreicher | |
Nichtregierungsorganisationen ein Leben organisiert. Ein prekäres, | |
unhygienisches, sicherlich nur provisorisches Leben, aber immerhin ein | |
Leben, das einzig verfügbare für die hier angestauten Migranten, bis zu | |
9.000 im Sommer 2016, in Abwesenheit staatlicher Unterstützung. Calais, | |
Symbol des Scheiterns und der Irrwege der Flüchtlingspolitik unserer | |
verschiedenen Regierungen. | |
## Der Dschungel ist vorbei | |
Manche der von der Zerstörung verjagten Migranten hatten die Flucht | |
ergriffen und waren an den Straßen und im Gebüsch verstreut, andere waren | |
evakuiert und zum Teil umgesiedelt worden. Die Zeitungen schrieben, was | |
jeder als unmöglich erkannte, solange Calais da liegt, wo es liegt, nämlich | |
an der Einfahrt zum Kanaltunnel: „Der Dschungel ist vorbei“. Nach ein paar | |
Wochen waren andere Migranten gekommen, und die Frage, wer sich um sie | |
kümmert, stellte sich neu, so wie sie sich jedes Mal stellt, wenn | |
Neuankömmlinge aus Gründen der Kultur, der Sprache und der Möglichkeiten | |
nach England wollen. | |
Derzeit ist die Polizei damit beschäftigt, zu verhindern, dass ein neues | |
Lager entsteht. Sie jagt Migranten, zwingt sie sich zu verstecken, jede | |
Nacht woanders zu liegen, isoliert zu leben, sich Schlägereien, | |
Misshandlung und Erpressung durch Schleuser auszusetzen. Statt eines klar | |
lokalisierten Lagers, relativ sicher, mit sanitären Einrichtungen und | |
täglichen Lebensmittellieferungen gibt es eine Menschenjagd zwischen | |
Polizei und Migranten – ein richtiger Dschungel diesmal. Human Rights Watch | |
hat auf Frankreich mehrfach mit dem Finger gezeigt: Schlafende Migranten | |
auf der Straße werden mitten in der Nacht geweckt, ihre Decken werden trotz | |
der winterlichen Kälte weggerissen, ihre Zelte aufgeschlitzt, ihre erneute | |
Flucht mit Pfefferspray erzwungen, ihre herbeieilenden Helfer verwarnt, | |
ihre wenigen Wasserstellen zum Waschen und zum Trinken abgestellt. | |
„Außergewöhnlich und beispiellos schwere Verletzungen der Grundrechte“ | |
nennt das der von der Republik ernannte unabhängige | |
Menschenrechtsbeauftragte. | |
Präsident Emmanuel Macrons Besuch im Januar wurde sehnlichst erwartet, aber | |
er verwirrte alle Welt, indem er den Beteiligten dieselbe ewige Leier | |
servierte – Härte ohne jede Lösung oder Unterstützung – und nicht die | |
geringste Selbstkritik über das Agieren der Polizei äußerte, stattdessen | |
ihr seine Solidarität erklärte, und jedem, der „ihre Arbeit verzerrt“, mit | |
Verleumdungsklagen drohte. | |
Im April wird im französischen Parlament ein neuer Asylgesetzentwurf | |
debattiert, den die Regierung im Februar vorstellte. Er beinhaltet eine | |
noch härtere Einwanderungspolitik als die schon sehr restriktive der | |
Präsidenten François Hollande und Nicolas Sarkozy. | |
## Asyl verhindern | |
Selbst die traditionell zurückhaltende Zeitung Le Monde kommentierte am 22. | |
Februar, dass die Regierung „zwei Grundprinzipien grausam missachtet: die | |
Aufnahme Notleidender (das kommt im Entwurf praktisch nicht vor) und die | |
Achtung der Menschenwürde“. | |
Alles im neuen Entwurf scheint dafür geschaffen zu sein, Asylanträge zu | |
verkomplizieren: Verlängerung der legalen Internierungsdauer für | |
Antragsteller von 45 auf 90 Tage, mit der Möglichkeit der Verlängerung auf | |
125, um sie bis zur Entscheidung über ihren Antrag und ihre mögliche | |
Abschiebung festsetzen zu können; Verkürzung der Widerspruchsfrist auf 15 | |
Tage; Ende der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs für Antragsteller | |
aus „sicheren Herkunftsstaaten“, die damit also vor einer Entscheidung über | |
ihren Widerspruch abgeschoben werden können; Gefängnis von bis zu einem | |
Jahr und Geldstrafe von 3.750 Euro für jeden Ausländer, der illegal ins | |
Schengen-Gebiet einreist. | |
Nach so vielen Jahren des Nachgebens gegenüber einer auf Abwehr bedachten | |
öffentlichen Meinung – mit weniger als 25.000 anerkannten Asylbewerbern pro | |
Jahr in Frankreich sogar zu Zeiten der Syrien-Flüchtlingskrise, als | |
Deutschland innerhalb von zwei Jahren eine Million aufnahm – könnte man | |
mehr Mut erwarten. | |
## Die nackte Erde | |
Ich befand mich in Frankfurt zum Zeitpunkt der Buchmesse im Oktober und ich | |
erinnere mich an die Begeisterung mehrerer deutscher Freunde über die Rede | |
von Emmanuel Macron. Er sagte schöne Dinge an jenem Tag, über den Dialog | |
der Kulturen, über Benjamin als Leser Baudelaires und Nietzsche von Gide | |
gelesen, über die Notwendigkeit der Neugier gegenüber dem Fremden. Starke | |
Worte über die Öffnung hin zum Anderen. Ein Auftritt des Humanismus, der | |
Kultur, der Großzügigkeit, der Neugierde. Was für ein Kontrast zu seiner | |
Politik in Frankreich. Was für eine tiefe Kluft zu der Brutalität gegenüber | |
Ausländern, die sich unrechtmäßig auf unserem Boden aufhalten. | |
Nach Calais bin ich später zurückgegangen. Wo einst die Siedlung stand, war | |
die Erde nackt. Vom Lager war nichts und niemand mehr übrig. Es war 16 Uhr | |
in der prallen Sonne. Die Heidelandschaft war wie ausgetrocknet. Hatten | |
hier wirklich anderthalb Jahre lang bis zu 9.000 Migranten gelebt? | |
Ich spürte zunächst angesichts dieser Leere eine Art Fassungslosigkeit – | |
fassungslos über vernichtete Spuren, ausgelöschte und gesäuberte | |
Vergangenheit. Dann machte ich ein paar Schritte in die Dünen hinein. Mit | |
jedem Schritt entdeckten meine Augen Überreste. Ich beugte mich nieder. Ich | |
hob eine Zahnbürste auf. Einen Stift. Die Scherbe eines Spiegels. Ein Kamm. | |
Eine Rasierklinge. Ein Schöpflöffel – wie oft ist der wohl verwendet | |
worden, wie viele Teller hat er gefüllt? Eine Shampoo-Miniflasche „Le | |
Jardin des Alpes, 35 Milliliter“. Löffel. Eine Gabel. Zwei neue Kondome, | |
trotz des Staubs, Ablaufdatum Juni 2018. Weiter hinten ein gelber Fußball. | |
Dann ein anderer, weiß, in den Farben von Olympique de Marseille. | |
Alles war noch da. Die Erde erinnert sich. | |
Ich dachte an die Archäologen von morgen. Ich fragte mich, was sie wohl | |
sagen werden, wenn sie diese Überreste entdecken. Was sie denken werden | |
angesichts dieser ebenso verdichteten wie vergänglichen Ansammlung | |
menschlicher Spuren. Wie sie uns wohl beschreiben werden, die Franzosen der | |
2010er Jahre, eine bizarre Spezies, voller Sorgen trotz unseres historisch | |
beispiellosen Wohlstands, die zulässt, dass Tausende von Männern und Frauen | |
und Kindern sich hier im Sand anhäufen, zwei Schritte von uns entfernt, | |
mitten in einem verseuchten Gebiet auf einer alten Müllkippe, denn die | |
werden sie auch finden, wenn sie tiefer graben. | |
Ich glaube an die langen Zeitläufe. An die Aufklärung, die es mit 20 oder | |
100 Jahren Abstand über die Beschlüsse unserer Regierenden geben wird. Ich | |
glaube an die Erinnerungskraft der Erde. Was werden zukünftige Generationen | |
über uns sagen? Was werden sie vom ultrareichen Europa unserer Zeit halten | |
und seinem Umgang mit seinem Anteil an den humanitären Dramen, die aus | |
Kriegen entspringen, an denen es nicht unbeteiligt ist, in Syrien, aber | |
auch Irak, Libyen, Libanon, Mali? Wahrscheinlich werden viele Völker, die | |
Franzosen an erster Stelle, ihren Mangel an Solidarität bereuen. Und die | |
Deutschen werden auf ihre Million aufgenommener Flüchtlinge stolz sein. | |
Aus dem Französischen von Dominic Johnson | |
22 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Sylvain Prudhomme | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Calais | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Asyl | |
Geschichte Berlins | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schleuser | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schengen-Abkommen | |
Reiseland Frankreich | |
Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
Calais | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausstellung einer alten Latrine: „Es ist nicht Pompeji, aber …“ | |
Im 13. Jahrhundert erbaut, 2016 ausgegraben: Ab Dezember soll man auf der | |
Fischerinsel eine alte Latrine besichtigen können. | |
Flucht nach Großbritannien: Über den Ärmelkanal | |
Migrant*innen und Flüchtlinge kommen zunehmend per Schlauchboot aus | |
Frankreich nach Großbritannien. Dieses Jahr waren es bereits über 4.000. | |
Flüchtlinge aus Container befreit: Menschenhandel an der Ostsee | |
Zwölf Westafrikaner*innen, darunter zwei Säuglinge, wurden im Hafen von | |
Lübeck-Travemünde in einem Container gefunden. | |
Asylrecht in Frankreich: Parlament stimmt für Verschärfung | |
92 Abgeordnete sind für eine Fristverkürzung bei Asylanträgen von 120 auf | |
90 Tage. Der Artikel ist Teil eines Gesetzespakets, gegen das es Proteste | |
gab. | |
EU plant militärisches Schengen: Schneller an die Ostfront | |
Die EU-Kommission will die „militärische Mobilität“ in Europa fördern �… | |
das mitten in der Krise mit Russland. Die zivile Mobilität hingegen hinkt. | |
Attraktive Seiten von Calais: Zwischen Tristesse und Aufbruch | |
Die nordfranzösische Stadt ist arm, unansehnlich und bekannt als Dauer- | |
Kulisse eines Flüchtlingsdramas. Doch sie hat auch andere Facetten. | |
Merkel auf Antrittsbesuch bei Macron: Deutsch-französische Entzauberung | |
Die Bundeskanzlerin sonnt sich gern im Glanz des französischen Präsidenten. | |
Doch die Aufbruchstimmung des vergangenen Jahres ist verflogen. | |
Geflüchtete in Calais: Extrem angespannte Situation | |
In der französischen Hafenstadt Calais sind bei Auseinandersetzungen | |
mehrere Geflüchtete schwer verletzt worden. | |
„Dschungel“ bei Calais: Eine zweite Reihe mit Türstehern | |
Vor einem Jahr wurde das Camp plattgemacht. Die Menschen kommen trotzdem. | |
Doch die EU mauert mit massiven Abwehrmaßnahmen. | |
Nach dem „Dschungel von Calais“: Neue Unterkünfte in Nordfrankreich | |
Behörden befürchten eine Wiederholung der chaotischen Ereignisse in Calais. | |
Neuankommende Flüchtlinge sollen deshalb in Aufnahmezentren gebracht | |
werden. |