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# taz.de -- Warnstreiks für Arbeitszeitverkürzung: IG Metall macht Druck
> Die IG Metall beginnt mit Warnstreiks – und stellt eine spannende
> Forderung: Beschäftigte sollen zwei Jahre lang nur 28 Stunden arbeiten
> dürfen.
Bild: Montag in Stuttgart: Kundgebung der IG Metall
Berlin taz Die Tarifauseinandersetzung in der Metall- und Elektroindustrie
geht in ihre heiße Phase. Das erste Mal seit dem Ende der Friedenspflicht
am 31. Dezember hat die IG Metall für diese Woche zu bundesweiten
Warnstreiks aufgerufen. Den Auftakt machten am Montag temporäre
Arbeitsniederlegungen in Betrieben in Bayern, Baden-Württemberg,
Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin, Brandenburg, Sachsen, Hessen
und Thüringen.
Den Schwerpunkt ihrer Proteste legte die Gewerkschaft in den Südwesten.
Mehr als 4.000 Metaller rückten dort zu Warnstreiks und Kundgebungen aus,
davon mehr als 3.000 bei Porsche in Stuttgart-Zuffenhausen.
Vor der dritten Verhandlungsrunde, die am Donnerstag in Baden-Württemberg
beginnt, lässt die Gewerkschaft kräftig ihre Muskeln spielen. Mit den
Warnstreiks wolle die Gewerkschaft die „Verweigerungshaltung“ der
Arbeitgeberseite brechen, erklärte der Erste Vorsitzende der IG Metall,
Jörg Hofmann. Das dürfte auch nötig sein.
Denn diesmal geht die IG Metall nicht nur mit der Forderung nach einer
sechsprozentigen Lohnerhöhung in die Verhandlungen. Sie will zudem für die
3,9 Millionen Beschäftigten einen individuellen Anspruch auf
Arbeitszeitreduzierung tariflich verankern. Dagegen jedoch laufen die
Arbeitgeber Sturm.
## Ziel ist mehr Selbstbestimmung
Konkret fordert die größte DGB-Gewerkschaft, dass die Vollzeitbeschäftigten
in der Metall- und Elektroindustrie die Möglichkeit erhalten, ohne
Begründung für maximal zwei Jahre ihre wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu
28 Stunden zu verringern. Danach soll eine Rückkehr zur alten Arbeitszeit
oder eine erneute Reduzierung möglich sein. „Verkürzte Vollzeit“ nennt die
IG Metall ihr Modell. „Das Ziel ist mehr Selbstbestimmung bei der
Arbeitszeit“, begründet das Gewerkschaftschef Hofmann. „Die
Flexibilisierung der Arbeitszeit in den Betrieben darf nicht weiter
einseitig zulasten der Beschäftigten gehen, sie muss ihnen auch nutzen.“
Wenn sie wöchentlich mindestens 3,5 Stunden weniger arbeiten, soll es nach
den Vorstellungen der IG Metall zur Abfederung der damit verbundenen
Lohneinbußen für ArbeitnehmerInnen mit zu pflegenden Angehörigen oder
Kindern unter 14 Jahren einen monatlichen Entgeltzuschuss von 200 Euro
geben. Für Schichtarbeiterinnen und andere besonders belastete
Beschäftigtengruppen soll es außerdem einen Zuschuss von jährlich 750 Euro
geben, wenn sie ihre Jahresarbeitszeit um mindestens zehn Tage senken.
Die Arbeitgeber halten solche Vorstellungen für völlig abwegig. Von einer
„Stilllegeprämie für Fachkräfte“ spricht Gesamtmetall-Präsident Rainer
Dulger. In vielen Betrieben werde heute schon händeringend nach Fachleuten
gesucht. „Eine weitere Arbeitszeitverkürzung würde diesen Mangel in
unverantwortlicher Weise verschärfen“, behauptet er.
„Mehr Geld für Nichtstun wird es mit uns nicht geben“, gibt sich Dulger
unnachgiebig. „Wer länger arbeitet, verdient entsprechend mehr – die
gleiche Logik muss auch umgekehrt gelten.“ Die Kombination aus
individuellem Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung und Lohnausgleich führe
„faktisch doch zur kollektiven 28-Stunden-Woche“.
## Es geht um den Erhalt von Fachkräften
Während sie von Arbeitszeitverkürzungen nichts halten, zeigen sich die
Arbeitgeber in Sachen Lohnerhöhung kulanter. Allerdings liegt hier ihr
Angebot erwartungsgemäß derzeit noch deutlich unter der Forderung der IG
Metall: Sie bieten eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro sowie eine
Entgelterhöhung um 2 Prozent bei einer Gesamtlaufzeit von 15 Monaten an.
Für „zynisch“ hält es IG-Metall-Chef Hofmann, dass die Arbeitgeber die
Forderung nach individueller Arbeitszeitreduzierung inklusive einer kleinen
finanziellen Kompensation unter bestimmten Bedingungen als
„Stilllegeprämie“ denunzieren. „Wenn Beschäftigte sich um Kinder sorgen,
wenn Beschäftigte Pflegeleistungen erbringen gegenüber Familienangehörigen
oder wenn sie notwendigerweise ihre Gesundheit erhalten, weil Arbeitgeber
sie in restriktive Schichtsysteme zwängen, dann geht es nicht um
Stilllegeprämie, sondern dann geht es um Erhalt von Fachkräften, die
dadurch auch weiter am Erwerbsleben in vollem Umfang teilhaben können“,
sagte er am Montag im Deutschlandfunk.
Die IG Metall gibt sich kampfbereit. Wenn sich der Eindruck verfestigen
würde, dass sich ohne weitere Eskalation des Arbeitskonflikts kein Ergebnis
erzielen lasse, „dann werden wir entweder über die Möglichkeit eines
24-Stunden-Streiks oder unmittelbar über einen Flächenstreik mit
Urabstimmung nachdenken“, kündigte Hofmann an.
Seit vielen Jahren sind die deutschen Gewerkschaften nicht mehr mit einer
Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in die Tarifverhandlungen gegangen.
Bei der IG Metall war das 2003 zum letzten Mal der Fall. Damals wollte die
Gewerkschaft die im Westen Mitte der 1990er Jahre erkämpfte
35-Stunden-Woche stufenweise auch für den Osten durchsetzen.
## Mangelnde Solidarität der westdeutschen Kollegen
Was ihr in der Stahlindustrie auch gelang. In der Metall- und
Elektroindustrie erlebte sie jedoch ein Fiasko. Nach vierwöchigem
Flächenstreik brach die IG Metall seinerzeit ihren Arbeitskampf ergebnislos
ab . Gescheitert an der Hartleibigkeit der Arbeitgeber, aber auch am Mangel
an Solidarität der westdeutschen KollegInnen und an gewerkschaftsinternen
Zwistigkeiten, erlitt sie eine der größten Niederlagen ihrer Geschichte.
Bis heute müssen die MetallerInnen in den ostdeutschen Bundesländern für
das gleiche Geld drei Stunden länger in der Woche arbeiten als ihre
KollegInnen im Westen.
Seit diesem Desaster trauten sich auch die anderen Gewerkschaften nicht
mehr an die Forderung nach allgemeinen Arbeitszeitverkürzungen heran. Denn
dafür könne nicht erfolgreich mobilisiert werden, so die Überzeugung in den
Gewerkschaftszentralen. Die Folge: Bis heute gibt es in nur wenigen
Branchen die 35-Stunden-Woche, für die in den 80er und 90er Jahren noch so
leidenschaftlich gestritten wurde. Und nicht nur das: In vielen
Tarifbereichen versuchten die Arbeitgeberverbände nach der
Jahrtausendwende, die Wochenarbeitszeit wieder zu verlängern. Erfolgreich
waren sie damit etwa im Bauhauptgewerbe, wo 2005 die Arbeitszeit wieder von
39 auf 40 Stunden erhöht wurde – und zwar ohne Lohnausgleich.
Ein solches Rollback steht zwar in der Metall- und Elektroindustrie nicht
an. Dafür ist der Respekt vor der Kampfkraft der IG Metall dann doch zu
groß. Aber stattdessen versuchen die Arbeitgeber, mittels
„Flexibilisierung“ die 35-Stunden-Woche auszuhöhlen.
Für die jetzige Tarifrunde haben sie daher einen eigenen Katalog an
Forderungen aufgestellt, der konträr zu den Ideen der IG Metall steht. So
reicht es den Arbeitgebern nicht mehr, dass bislang je nach Tarifbezirk nur
höchstens 13 bis 18 Prozent der in einem Betrieb beschäftigten Mitarbeiter
länger als 35 Wochenstunden arbeiten dürfen. Diese Beschränkung soll nach
ihren Vorstellungen entfallen.
## Die meisten wünschen sich eine 35-Stunden-Woche
Außerdem fordern sie die IG Metall auf, einer tariflichen Regelung
zuzustimmen, die eine vorübergehende bedarfsbedingte kollektive Erhöhung
der Arbeitszeit ermöglicht – und zwar zuschlagsfrei. Darüber hinaus halten
die Arbeitgeber die bestehenden Regelungen insgesamt für zu starr, etwa was
Zeitzuschläge, die Länge des Arbeitstages und die Ruhezeit von 11 Stunden
zwischen zwei Arbeitstagen angeht.
Dabei haben in der Praxis heute nur noch 47,8 Prozent der Beschäftigten der
Branche vertraglich die 35-Stunden-Woche. 7,1 Prozent haben eine kürzere,
45,1 Prozent jedoch eine längere Arbeitszeit. Das ist eines der Ergebnisse
einer großen Beschäftigtenbefragung, die die IG Metall im vergangenen Jahr
durchgeführt hat.
Die IG Metall hatte mehr als 680.000 MitarbeiterInnen aus rund 7.000
Betrieben zu Fragen der Arbeitszeit befragt. Im Juni 2017 legte sie die
Ergebnisse vor. Danach ist die 35-Stunden-Woche weiterhin die
Wunscharbeitszeit für die Mehrzahl der Beschäftigten – auch und gerade für
diejenigen, deren vertragliche Arbeitszeit heute höher liegt.
Ein weiteres Ergebnis: Es gibt zudem eine Diskrepanz zwischen den
vertraglichen und den tatsächlichen Arbeitszeiten. So arbeiten 57,3 Prozent
der Beschäftigten länger, als es ihre vertragliche Arbeitszeit vorsieht.
„Die 35-Stunden-Woche ist in vielen Betrieben der Metall- und
Elektroindustrie keine gelebte Realität“, konstatieren die AutorInnen der
Studie.
8 Jan 2018
## AUTOREN
Pascal Beucker
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