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# taz.de -- Debatte Arbeitszeit: Haut endlich ab, schlechte Vorbilder
> Die Forderung der IG Metall nach kürzeren Arbeitstagen verstört die
> Arbeitgeber. Denn die Kampagne berührt einen kulturellen Konflikt.
Bild: Es gibt Wege aus dem Hamsterrad der Arbeit
Später kommen oder früher gehen, mehr Zeit für Kinder, Freunde oder Sport,
und dabei auch noch genauso viel verdienen wie zuvor: das klingt wie ein
alter gewerkschaftlicher Traum. In den Altenheimen und Kliniken der
schwedischen Stadt Göteborg [1][wurde dieser Traum 2015 Realität].
Pfleger und Krankenschwestern arbeiten dort nur noch sechs Stunden pro Tag
– bei vollem Lohnausgleich. Seither fühlen sie sich entspannter, machen
weniger Fehler und sind außerdem auch seltener krank. Umgekehrt verzeichnen
die Personalabteilungen auf der Suche nach Fachkräften plötzlich mehr
Bewerbungen.
Das Arbeitszeitexperiment verursacht allerdings auch zusätzliche Kosten,
weil neue Stellen eingerichtet wurden. Eine höhere Produktivität soll das
ausgleichen, schließlich leisten ausgeruhte Beschäftigte mehr als
erschöpfte. Doch ganz so leicht geht die Rechnung nicht auf.
Anfangs habe man das ambitionierte Ziel verfehlt, geben die Initiatoren aus
Krankenhäusern und Stadtverwaltung zu. Eine Studie der Universität
Stockholm macht ihnen allerdings Mut: Danach bringt das innovative
Zeitmodell langfristig allen Beteiligten Gewinn. Auch an anderen Orten in
Schweden laufen inzwischen Versuche mit Arbeitszeiten unter 30
Wochenstunden.
## Ein auf Erwerbsarbeit fokussiertes Leben
Hierzulande ist man von der Verwirklichung solcher Utopien weit entfernt.
In den laufenden Tarifverhandlungen der Metall- und Elektroindustrie
verlangen Gewerkschafter neben einer Lohnerhöhung das Recht, für bis zu
zwei Jahre höchstens 28 Stunden zu arbeiten – etwa um Angehörige zu pflegen
oder Kinder zu versorgen. Die Durchsetzungschancen dieser Forderung stehen
trotz des üblichen Säbelrasselns und der Warnstreiks schlecht.
Dass sie (scheinbar) „private“ Tätigkeiten mit einem Zuschuss
subventionieren sollen, liegt für viele Unternehmer schlicht jenseits ihrer
Vorstellungskraft. „Bezahlen für nicht geleistete Arbeit? Das geht nicht“,
so ein Firmenchef aus der Autozulieferbranche in einem Interview.
Kategorisch weigern sich die Arbeitgeberorganisationen, dieses Thema
überhaupt zu verhandeln.
Die IG Metall [2][beißt mit ihrer Arbeitszeitkampagne auf Granit]. Dahinter
steckt neben dem ritualisierten Machtpoker auch ein tief sitzender
kultureller Konflikt. Viele (männliche) Betriebsleiter kennen schlicht
nichts anderes als ein auf Erwerbsarbeit fokussiertes Leben mit 50
Wochenstunden und mehr. Als Vorgesetzte wollen sie ihre MitarbeiterInnen
dazu erziehen, diesem schlechten Vorbild zu folgen. Weil sie sämtliche
häuslichen Aufgaben – nicht nur die Erziehung der Kinder – unhinterfragt an
ihre Ehefrauen delegiert haben, fehlt ihnen jedes Verständnis dafür, dass
ihre Untergebenen mehr Zeit brauchen sollten.
„In Wahrheit kann man in den freien Stunden gut schwarzarbeiten“,
argumentiert zum Beispiel ein Verband der Metallindustrie. Dass vor allem
ein Teil der jungen Leute anderen Werten folgt, die Aussicht auf eine
lebenslange 40-Stunden-Stelle nicht beruhigend findet, sondern als Zumutung
betrachtet, gilt in diesen Kreisen als Symptom des Verfalls der bewährten
deutschen Arbeitsmoral.
## Der Wunsch nach einem weniger stressigen Leben
Die Wirtschaftslobbyisten sehen den Veränderungsbedarf deshalb ganz
woanders: Sie stellen mühsam erkämpfte Mindeststandards, die die Länge der
betrieblichen Anwesenheit begrenzen, grundsätzlich infrage. Sie wollen eine
vollständige Freigabe – aber nicht nach unten, sondern nach oben.
Versuche, kürzere Arbeitszeiten bei vollem oder teilweisem Lohnausgleich
durchzusetzen, haben historisch stets eine enorme Strahlkraft auf die
Belegschaften entfaltet. So fanden die Streiks für die 35-Stunden-Woche in
den 1980er Jahren breite Unterstützung, weil damit der Wunsch nach einem
besseren, weniger stressigen Leben verknüpft war.
Gewerkschaftsfrauen forderten schon damals den Sechsstundentag, nicht
zuletzt wegen der Sorgepflichten erwerbstätiger Mütter nach dem
traditionellen Rollenmodell der Geschlechter. Auch die Senkung der
Arbeitszeit im Volkswagen-Konzern ein Jahrzehnt später hatte eine – so gar
nicht beabsichtigte – kulturelle Komponente. Eigentlich als Instrument der
„Beschäftigungssicherung“ währen einer Absatzkrise gedacht, verbesserte d…
starke Verkürzung der Schichtdienste die Lebensqualität der
Automobilwerker, wie diese überrascht feststellen konnten.
Entgegen den damals von Boulevardzeitungen verbreiteten klischeehaften
Berichten über Schwarzarbeit und überfüllte Baumärkte nutzten laut
Ergebnissen wissenschaftlicher Studien gerade Väter ihren größeren
zeitlichen Spielraum für mehr Präsenz in der Familie.
## Mehr Zeit wichtiger als mehr Lohn
Die IG Metall vollzieht gerade einen überfälligen Kurswechsel. Der Lohn des
männlichen Ernährers, der für die ganze Familie reichen sollte, war in der
Vergangenheit das Maß aller Dinge. Auch in den letzten Jahren hat sich die
Gewerkschaft, trotz anders lautender Rhetorik, immer auf Einkommenszuwächse
konzentriert.
Zwar verwiesen die Funktionäre in Interviews auf den in Onlinebefragungen
ermittelten Wunsch ihrer Mitglieder nach zeitlicher Flexibilität. Sie
lobten auch die Pläne der früheren Familienministerin Manuela Schwesig, die
verkürzte Arbeitszeiten für Eltern gesetzlich durchsetzen wollte. Sogar ein
Plakat wurde entworfen, auf dem zwei Kinder in Anlehnung an die 1950er
Jahre skandierten: „Nachmittags gehören Mutti und Vati mir!“ Das war eine
wichtige Aussage, denn Eltern hilft ein kurzer Sechsstundentag mehr als
etwa eine Viertagewoche.
Doch gebraucht wurde das Motiv bisher nie, Gesprächsergebnis war stets ein
Plus auf dem Konto. Jetzt sollten die Gewerkschafter wirklich „Arbeit neu
denken“ – wie der Vorsitzende Jörg Hofmann behauptet – und in den
Auseinandersetzungen der kommenden Wochen hartnäckig bleiben.
11 Jan 2018
## LINKS
[1] /Arbeitszeit-in-Schweden/!5459426
[2] /Arbeitskampf-der-IG-Metall/!5475267
## AUTOREN
Thomas Gesterkamp
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