| # taz.de -- IG Metaller für Arbeitszeitverkürzung: Die Avantgarde trägt Blau… | |
| > Die Siemensmitarbeiter sind im Warnstreik. Sie kämpfen für kürzere | |
| > Arbeitszeiten. Eine revolutionäre Forderung in einer auf Effizienz | |
| > gepolten Gesellschaft. | |
| Bild: Warnstreikender bei den Berliner Siemenswerken | |
| Berlin taz | Die Vorkämpfer und Vorkämpferinnen für die Humanisierung der | |
| Arbeit tragen weder Hipsterbärte noch Vintage-Klamotten, und sie posieren | |
| nicht mit progressivem Getwitter und Geblogge – die Menschen, die wirklich | |
| für Fortschritt sorgen wollen, tragen an diesem Dienstag in Berlin Blaumann | |
| und Gewerkschaftsfahnen, kommen überpünktlich zur Streikkundgebung und | |
| reden eine Sprache, die jeder versteht: sichere Jobs, mehr Lohn, weniger | |
| stressige Arbeit! | |
| Arbeitskämpfe, das sind auch sich Jahr für Jahr wiederholende Rituale, bei | |
| denen es, oberflächlich betrachtet, um die berühmten Zehntelprozente hinter | |
| dem Komma geht. Arbeitskämpfe, das sind wehende Gewerkschaftsfahnen, Männer | |
| im Blaumann, die Trillerpfeife im Mund. Eine Welt von gestern, so erscheint | |
| es so manchem Anzugträger in den schicken Büros mit der Glasfassade. | |
| An diesem diesigen Dienstagmorgen im Januar aber treibt es Hunderte Frauen | |
| und Männer auf die Straße. Viele tragen Helme auf dem Kopf. Manche haben | |
| die orangefarbenen Westen ihrer Gewerkschaft übergezogen, mit der | |
| Aufschrift „Warnstreik“. Der Stadtteil, in dem die Kundgebung abgehalten | |
| wird, trägt den Namen des Werks, um das es hier geht: Siemensstadt. | |
| Ja, kennen wir, mag da mancher denken, das Übliche. Und doch ist es so, | |
| dass die Siemens-Beschäftigten an diesem Morgen eine Avantgarde für etwas | |
| bilden, das in den letzten Jahrzehnten fast in Vergessenheit zu geraten | |
| drohte. Es geht hier auch um mehr Lohn, um Beschäftigungsgarantieren, um | |
| ein ganzes Werk, das schließen soll. | |
| Aber eben auch: um weniger Arbeit. Eine revolutionäre Forderung, und eine, | |
| die nicht nur die Metaller etwas angeht, sondern diese ganze, auf pure | |
| Effizienz gepolte Gesellschaft. | |
| Arbeitszeit, das ist ein Thema, das für die Gewerkschaft mit großen | |
| Erfolgen, aber auch einem Trauma verbunden ist. Jetzt aber sei die Zeit | |
| wieder reif dafür, haben sie entschieden. | |
| ## Zeit haben, wenn Angehörige Pflege bedürfen | |
| „Passendere Arbeitszeiten sind gerade für junge Beschäftigte attraktiv, die | |
| eine Familie gründen wollen“, sagt Marie Beckmann, seit sechs Jahren | |
| Konstrukteurin im Berliner Siemens-Dynamowerk, die sich der Demonstration | |
| angeschlossen hat. „Wenn ich Kinder hätte, würde ich die Reduzierung in | |
| Anspruch nehmen.“ Marie Beckmann ist mit einem dicken Schal und einer | |
| Strickmütze zur Kundgebung gekommen, darüber trägt sie jetzt einen weißen | |
| Arbeitshelm. | |
| Die Reduzierung, sagt sie, sei aber auch für andere ein gutes Modell. „Wer | |
| kleine Kinder hat, kann in Elternzeit gehen.“ Für Menschen mit | |
| pflegebedürftigen Angehörigen gebe es solche gesetzliche Regelungen nicht. | |
| „Die würden von unserem Tarifvertrag richtig profitieren.“ Das gelte auch | |
| für Beschäftigte, die aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten wollen, | |
| oder für solche, die berufsbegleitend studieren möchten. | |
| 83 Prozent der IG-Metall-Mitglieder haben sich für zeitweilige Verkürzungen | |
| der Arbeitszeit ausgesprochen. Dabei klingen die Gewerkschaftsforderungen | |
| eher bescheiden – jedenfalls im Vergleich zum Kampf um die Abschaffung der | |
| 6-Tage-Woche in den 1950er Jahren und zu dem für die 35-Stunden-Woche bei | |
| vollem Lohnausgleich in den 1980er Jahren. Die Metaller verlangen einen | |
| tarifvertraglich gesicherten Anspruch der Arbeitnehmer und | |
| Arbeitnehmerinnen, ihre wöchentliche Arbeitszeit für zwei Jahre auf 28 | |
| Stunden zu verkürzen, wenn sie das denn möchten. Die Gewerkschaft nennt das | |
| „verkürzte Vollzeit“. | |
| Der Clou dabei: Die Betroffenen sollen das Recht erhalten, im Anschluss | |
| wieder in Vollzeit zu arbeiten, damit sie nicht dauerhaft weniger | |
| verdienen. Wer aber die Regelung in Anspruch nimmt, soll in den zwei Jahren | |
| entsprechend weniger verdienen – aber für besondere Gruppen will die IG | |
| Metall diesen Lohnverlust durch zusätzliche Zahlungen abfedern. | |
| Beschäftigte mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sollen einen | |
| Lohnzuschuss von 200 Euro pro Monat bekommen, Schichtarbeiter einen | |
| Zuschuss von 750 Euro pro Jahr erhalten. | |
| ## Für Arbeitszeiten, die besser zum Leben passen | |
| Die Arbeitgeber sind, wie es bei Tarifverhandlungen so üblich ist, entsetzt | |
| und lehnen diese Forderungen rundweg ab. Aber sie wissen auch: Die IG | |
| Metall ist verflucht stark. | |
| Bei den Beschäftigten aber trifft die IG Metall mit ihren Forderungen einen | |
| Nerv; das ist in jedem Augenblick in Berlin-Siemensstadt zu spüren. Nicht | |
| nur die Funktionäre, auch die Streikenden nennen in einem Atemzug ihre drei | |
| Anliegen, für die sie auf der Straße stehen: Erhalt der Arbeitsplätze, mehr | |
| Lohn, bessere Arbeitszeiten. | |
| Einer von ihnen ist Frederik Groß, seit sechs Jahren Laborfachkraft bei | |
| Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH). „Ich kämpfe selbstverständlich für | |
| Arbeitszeiten, die besser zum Leben passen“, sagt er. Die vorübergehende | |
| Arbeitszeitreduzierung wird der Vater zweier Kleinkinder aber vermutlich | |
| nicht in Anspruch nehmen. „Wir brauchen das Geld, das ich in Vollzeit | |
| verdiene.“ Die Miete sei ein gehöriger Posten im Haushaltsbudget. Groß | |
| denkt aber auch global: Streikrecht und Tarifverhandlungen auf Augenhöhe | |
| seien international gesehen keine Selbstverständlichkeit. „Wir müssen | |
| beides stärken, indem wir es nutzen.“ | |
| Es ist nicht so, dass nur die Arbeitszeitverkürzung die Metaller auf die | |
| Straße getrieben hat. In Siemensstadt geht es auch um den eigenen Job, um | |
| Existenzsorgen. Denn der in Berlin gegründete Weltkonzern, der im | |
| vergangenen Jahr mehr als 6 Milliarden Euro Gewinn machte, will das | |
| Berliner Dynamowerk schleifen. Dieses Vorhaben heizt den bundesweiten | |
| Tarifkonflikt zusätzlich an. „Wir werden das Dynamowerk erhalten“, | |
| verspricht IG-Metall-Funktionär Klaus Abel bei der Warnstreikkundgebung | |
| vor der Siemens-Zentrale. Für diese Zuversicht erntet er Trommelwirbel, | |
| Applaus und Gejohle. | |
| ## Der nächste Schritt: 24-Stunden-Streiks | |
| Täglich finden derzeit bundesweit Warnstreiks statt, weil die Arbeitgeber | |
| bislang gerade mal einen Inflationsausgleich anbieten und eine Verlängerung | |
| der Arbeitszeiten verlangen, statt eine Verkürzung vorzusehen. In ein paar | |
| Tagen, am 24. Januar, kommt es zur vierten und vorentscheidenden | |
| Verhandlungsrunde im wichtigen Tarifbezirk Baden-Württemberg „Ich habe die | |
| Hoffnung, dass sich bis dahin noch einiges tut“, verbreitet IG-Metall-Chef | |
| Jörg Hofmann Optimismus. | |
| Gelingt dort kein Durchbruch, wird die Gewerkschaft die nächste | |
| Eskalationsstufe einleiten. Sie könnte eine Urabstimmung über | |
| Flächenstreiks durchführen; wahrscheinlicher aber ist, dass sie zu | |
| ganztägigen Warnstreiks aufrufen wird. Solche 24-Stunden-Streiks könnten | |
| bei relativ geringem Aufwand eine hohe Wirkung erzielen, weil sie die Welt | |
| der Waren- und Logistikketten der Unternehmen durcheinanderbringen. | |
| Angesichts prall gefüllter Auftragsbücher träfe dies die Unternehmen hart. | |
| Viele Kolleginnen und Kollegen unterstützen die Forderung nach | |
| Arbeitszeitverkürzung, auch wenn sie sie selbst nicht in Anspruch nehmen | |
| wollen. „Irgendwann im Leben kann das jeder brauchen“, heißt es. Um einen | |
| möglicherweise länger andauernden Tarifkonflikt durchstehen zu können, ist | |
| die IG Metall auf Rücklagen angewiesen. „Unsere Streikkasse ist gut | |
| gefüllt“, ist Vorstandsmitglied Jürgen Kerner optimistisch. Die Einnahmen | |
| seien letztes Jahr um 2,5 Prozent auf 561 Millionen Euro gestiegen, neue | |
| Rückstellungen in Höhe von 84 Millionen Euro seien gebildet worden. Die | |
| Mitgliederzahl blieb mit 2,26 Millionen stabil. | |
| Das ist wichtig: Denn im Falle eines Streiks bekommen die Beschäftigten für | |
| die Zeit ihres Ausstands keinen Lohn, und die Gewerkschaft gleicht einen | |
| Großteil des Verdienstausfalls aus. | |
| ## „Klar würde ich streiken“ | |
| Wenn es zum Streik kommt, dann ist Frank Schüler auf jeden Fall mit dabei. | |
| Seit 25 Jahren arbeitet er bei Siemens, derzeit ist er im | |
| Dreischichtbetrieb als Lagerist im Messgerätewerk. „Na klar würde ich auch | |
| für die Möglichkeit zur Arbeitszeitreduzierung streiken“, sagt er. Seine | |
| Eltern seien schon älter und irgendwann vielleicht einmal pflegebedürftig. | |
| „Dann brauche ich mehr Zeit für sie.“ Wichtig sei aber auch, wieder in | |
| Vollzeit zurückkehren zu können, damit das Geld reicht. | |
| Schüler ist fasziniert von Modellprojekten in Schweden. „Die arbeiten bei | |
| vollem Lohnausgleich nur noch sechs Stunden am Tag.“ Und dabei steige | |
| gleichzeitig die Produktivität in den beteiligten Betrieben oder | |
| Verwaltungen. | |
| Wie gut die IG Metall aufgestellt ist, lässt sich auf der Berliner | |
| Kundgebung an Kleinigkeiten ablesen. Die Veranstaltung beginnt auf die | |
| Minute genau und verläuft reibungslos, und in Windeseile wird eine Attrappe | |
| des Siemens-Chefs Joe Kaeser auf- und am Ende wieder abgebaut. | |
| Marie Becker, die Konstrukteurin, ist zufrieden – auch wenn ihre eigene | |
| berufliche Zukunft bei Siemens ungewiss ist. „Wenn wir unser | |
| Arbeitszeitmodell durchsetzen, hilft das auch den Menschen in anderen | |
| Branchen. Die können das ebenfalls gebrauchen.“ | |
| 18 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Richard Rother | |
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