# taz.de -- Stellenabbau bei Siemens: Kahlschlag im Osten | |
> Der Siemens-Konzern will 3.500 Stellen in Deutschland streichen. | |
> Betroffen ist vor allem der Osten. Der AfD könnte das neue Stimmen | |
> bringen. | |
Bild: Siemens-Werk in Görlitz: Turbinen sind weniger gefragt | |
DRESDEN taz | „Schweigen ist nicht so der Stil der IG Metall“, sagt der | |
Leipziger Gewerkschafter Steffen Reißig zum Erfurter Schweigemarsch. Etwa | |
1.200 Beschäftigte des Siemens-Generatorenwerks und Sympathisanten waren am | |
Dienstag vom Werk in die Innenstadt gezogen. In der ersten Reihe mit dabei | |
waren Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und mehrere Minister der | |
Thüringer Landesregierung. | |
Am Donnerstag dürften die Proteste in Berlin lauter zugehen: Ab 8 Uhr | |
werden vor dem Hotel Estrel auf der Sonnenallee Tausende Demonstranten | |
gegen Stellenabbau und Werksschließungen bei Siemens erwartet. Sprechen | |
soll unter anderem der SPD-Bundesvorsitzende Martin Schulz. | |
Man könnte derzeit fast meinen, Volk und Politik stünden vereint gegen | |
einen radikalkapitalistischen Weltkonzern auf. Zahlreiche hochrangige | |
Politiker haben ihre Solidarität mit den von Kündigungen bedrohten | |
Siemens-Beschäftigten bekundet. Trotz eines Konzerngewinns von 6,2 | |
Milliarden Euro will der Münchner DAX-Konzern weltweit 6.900 Stellen | |
streichen, davon die Hälfte in Deutschland. Eine „Konsolidierung der | |
globalen Aufstellung“ sei nötig, teilte Konzernchef Joe Kaeser am | |
Donnerstag vergangener Woche mit. Er reagiere mit den Kürzungen auf den | |
„rasant zunehmenden Strukturwandel im Bereich der fossilen Stromerzeugung | |
und im Rohstoffsektor“. | |
Vor allem bei der Sparte „Power and Gas“ hatte Siemens zuletzt herbe | |
Auftragsrückgänge hinnehmen müssen. Dahinter steckt der Trend zu | |
erneuerbaren Energien und dezentraler Energieversorgung. Großkraftwerke | |
werden weltweit derzeit kaum noch gebaut. | |
In der Folge sollen das Turbinenwerk in Görlitz mit 960 und das | |
Kompressorenwerk Leipzig mit 200 Beschäftigten komplett geschlossen werden. | |
Deren Produktion soll in Duisburg und Mülheim konzentriert werden. Aber | |
auch dort stehen mehr als 600 Arbeitsplätze zur Disposition. Die 700 | |
Beschäftigten in Erfurt werden künftig wohl keine Großgeneratoren über 150 | |
Megawatt Leistung mehr bauen. Ihr Werk soll restrukturiert oder verkauft | |
werden. In Berlin geht es um fast 900 Arbeitsplätze. | |
Aus Sicht von Siemens sind die Schließungen trotz der derzeit hohen Gewinne | |
des Konzerns logisch: Der weltweite Markt für große Gasturbinen bricht | |
gerade stark ein. Der Boom der erneuerbaren Energien, vor allem die Solar- | |
und Windkraft, lässt die Nachfrage fallen. Wobei gerade der Windsektor zwar | |
wächst, die Hersteller aber auch hier Überkapazitäten aufweisen – deshalb | |
kürzt Siemens auch im Windbereich. Im Gassektor sollen dieses Jahr weltweit | |
nur 122 große Turbinen für Kraftwerke geordert werden. Allein GE, | |
US-amerikanischer Siemens-Konkurrent, verkauft seit Jahren mehr als 100 der | |
Turbinen pro Jahr – das zeigt, wie groß jetzt die Überkapazitäten sind. | |
Auch GE kürzt den Bereich zusammen. Im Jahr 2010 rechneten Experten laut | |
der Financial Times künftig mit einem Markt von 300 Turbinen im Jahr – | |
darauf haben Siemens und GE in der Folge ihre Fabriken ausgerichtet. Bald | |
könnten sie nicht mehr ausgelastet sein. | |
Allerdings könnten sich die Konzerne auch verkalkulieren. Laut der | |
Internationalen Energieagentur IEA wächst der Markt für Gaskraftwerke bis | |
2035 um 1,6 Prozent im Jahr stetig an. Das allerdings nur in einem | |
Szenario, in dem es keine weiteren Klimaschutzmaßnahmen gibt. Insofern | |
scheint Siemens an den Siegeszug der erneuerbaren Energien zu glauben – und | |
baut seine Gassparte ab. | |
Dennoch schockte die einseitige Verkündung der Abbau- und Schließungspläne | |
per Videoschalte die Belegschaften. Dabei verpflichtet ein 2013 im | |
bayerischen Radolfzell zwischen Siemens-Konzernleitung, Gesamtbetriebsrat | |
und IG Metall geschlossenes Abkommen eigentlich zu intensiver Vorabberatung | |
solcher Umbauvorhaben. | |
## Preis für die Energiewende | |
In Görlitz demonstrierten am vorigen Freitag bereits rund tausend Menschen | |
spontan vor dem Werkstor. Von einer „Mischung aus Enttäuschung und Wut“ | |
spricht der dortige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Ronny | |
Zieschank. Er könne überhaupt nicht nachvollziehen, dass die Belegschaft | |
den Preis für die Energiewende zahlen sollte. Denn das Görlitzer Werk | |
stellt Industriedampfturbinen her, die nicht in erster Linie für | |
Großkraftwerke bestimmt sind. | |
Görlitz hat es ohnehin besonders schwer: In der Stadt an der Neiße | |
reduziert der andere große Arbeitgeber, der Schienenfahrzeugbauer | |
Bombardier, bereits seit Jahren sein Engagement. Die Arbeitslosigkeit in | |
der Region ist mit rund 13 Prozent überdurchschnittlich hoch. | |
Überdurchschnittlich war hier auch das Ergebnis der AfD bei der | |
Bundestagswahl, die Partei erreichte vielerorts mehr als 30 Prozent. „Ich | |
bin über die Eiseskälte der sozialen Marktwirtschaft und die Umgangsformen, | |
mit denen man unsere Siemensianer speziell in Görlitz behandelt, tiefe | |
erschüttert“, schrieb der parteilose Oberbürgermeister Siegfried Deinege. | |
Rund 300 Görlitzer Turbinenbauer fahren deshalb am Donnerstag bereits um | |
halb vier mit einem Bus nach Berlin. „Ich glaube an den Erfolg“, sagt | |
Betriebsrat Zieschank. Das tut auch Leipzig. Nur ein Fünftel der in Leipzig | |
produzierten Kompressoren wird in Kraftwerken eingesetzt. Eine | |
Produktionsverlagerung nach Duisburg hält IG-Metaller Reißig für | |
illusorisch, weil die Maschinen für Leipzig konstruiert wurden. | |
In der Causa Siemens schaltet sich inzwischen die Politik immer stärker | |
ein: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und die | |
Ministerpräsidenten Brandenburgs, Sachsens und Thüringens hatten an | |
Konzernchef Kaeser geschrieben und ein Gesprächsangebot unterbreitet. | |
Bislang vergeblich. Mal sehen, ob sich das nach den Protesten ändert. | |
22 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
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