# taz.de -- Schließung des Siemenswerk in Görlitz: Existenzängste zum Weihna… | |
> Siemens will sein Werk in Görlitz mit knapp tausend Mitarbeitern | |
> schließen. Das trifft die Stadt in gefährlichen Zeiten mitten ins Herz. | |
Bild: Siemens-Mitarbeiter*innen in Görlitz protestieren am 16. November 2017 v… | |
Görlitz taz | Wer Passanten am Görlitzer Bahnhof nach dem Weg zum | |
Siemenswerk fragt, bekommt eine präzise Beschreibung. Jeder in der | |
östlichsten Stadt Deutschlands kennt das große Werksgelände an der | |
Lutherstraße. Die Backsteingebäude wirken schick für eine Fabrik, die | |
Werkshallen auf dem großen Gelände sind dagegen hochmodern. Ein Banner auf | |
der gegenüberliegenden Straßenseite flattert im eisigen Novemberwind, | |
„Solidarität mit den Beschäftigten von Siemens“, steht darauf. Es zeugt | |
noch von den Demonstrationen der letzten Wochen gegen die geplante | |
Werksschließung. | |
In einem kargen Raum im Wachhäuschen sitzt der Techniker und | |
Industriemechaniker Robert Lochner. Er arbeitet im Ingenieurswesen und | |
erstellt Prozessdiagramme. Der 36-Jährige ist ein Siemens-Gewächs: „Ich | |
habe hier meine Ausbildung gemacht, wir sind seit drei Generationen im | |
Unternehmen“, erzählt er. Schon der Vater hat hier in der Entwicklung | |
gearbeitet, bei Kundgebungen geht er mit auf die Straße. Lochners Großvater | |
arbeitete in der Buchhaltung der Vorgängerfirma, die Siemens nach der Wende | |
aufkaufte. „Deshalb sehen viele die Arbeit auch wie in einem | |
Familienbetrieb“, sagt Lochner, „es gibt hier viele Geschichten wie meine.�… | |
Das Werk in der Görlitzer Südvorstadt gibt es seit 1873, damals stellte es | |
noch unter anderem Namen Dampfmaschinen her. Seitdem hat es | |
Wirtschaftskrisen, zwei Weltkriege, die DDR und die Wende überlebt. Dann, | |
1992, kam die Übernahme durch Siemens, sie brachte recht gute Löhne für | |
einen kleinen Mittelstand. Heute stellt das Werk moderne | |
Industriedampfturbinen her, die für Stromerzeugung in der Papierindustrie, | |
Müllverbrennung und Solarthermie genutzt werden. | |
Görlitz sei darin Weltmarktführer, erklärt Lochner, sie werden bis nach | |
Marokko verkauft. Und da sich das Werk so auf dezentrale, alternative | |
Energieerzeugung spezialisiert hat, ahnten die Mitarbeiter nicht, dass die | |
Energiewende ihre Arbeitsplätze treffen könnte. „Im Gegenteil: Wir | |
profitieren doch davon, unsere Auftragsbücher sind voll bis Ende 2018“, | |
sagt Lochner. | |
## Geisterstadt rund um das Siemenswerk | |
Umso überraschender kam Mitte Oktober die Nachricht, dass Siemens Görlitz | |
schließen will. Lochner und seine Kollegen erfuhren es aus den Medien, es | |
hat dann Wochen gedauert, bis das Management die Mitarbeiter offiziell | |
informierte: per Videokonferenz mit anderen betroffenen Standorten, ohne | |
Begründung für die einzelnen, völlig unterschiedlichen Werke. | |
Es gebe Nachfrageeinbrüche bei den Turbinen durch den Strukturwandel hin | |
zur Energiewende. Schließen soll auch ein Leipziger Kompressorenwerk und | |
ein Generatorenwerk in Erfurt. Knapp tausend Mitarbeiter sind derzeit | |
allein in Görlitz beschäftigt, ausgelagerte Logistik und Zulieferer nicht | |
mitgerechnet. Es ist schwer zu schätzen, wie viele Familien genau betroffen | |
sein werden. Aber es wird die strukturschwache Stadt mitten ins Herz | |
treffen. | |
Denn Görlitz ist auch die Stadt, in der die AfD gerade dem künftigen | |
sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer das sicher geglaubte | |
CDU-Bundestagsmandat weggeschnappt hat. Während die Altstadt oft für Filme | |
eine gut erhaltene Kulisse bietet, gleicht das Viertel um das zentral | |
gelegene Siemenswerk einer Geisterstadt. Frisch sanierte stehen neben | |
völlig heruntergekommenen, teils nicht einmal entrümpelten Altbauten. | |
## Produktion nach Mühlheim verlegt | |
In vielen ehemaligen Geschäften liegen noch verstaubte DDR-Auslagen hinter | |
den dreckigen Fensterscheiben, andere leerstehende Erdgeschosse wurden | |
verwüstet. Selbst sanierte Wohnungen stehen oft noch leer. Einen Kilometer | |
entfernt bangen 800 Mitarbeiter beim Waggonhersteller Bombardier um ihre | |
Stellen, weil auch hier die Konzernleitung angekündigt hat, Stellen | |
abzubauen. Dabei ging es mit der Stadt erstmals seit der Wende wieder | |
bergauf. | |
„Strukturschwache Regionen gibt es weiß Gott nicht nur im Osten“, sagt | |
Siemens-Konzernsprecher Michael Friedrich auf die Frage, ob die | |
Werksschließungen in Görlitz, Leipzig und Erfurt verantwortbar seien. Zu | |
Görlitz sagt er: „Wir haben bei Dampfturbinen weniger ein Nachfrage- als | |
ein Kostenproblem“, so Friedrich, „am Markt gibt es hohe Konkurrenz durch | |
Wettbewerber aus China und Tschechien“ – die günstiger produzieren. Die | |
Produktion werde wohl nach Mülheim verlegt – wie viele Beschäftigte das | |
wann trifft, muss noch verhandelt werden. | |
Für Lochner ist ein Umzug weg aus Görlitz keine Option: Seine Frau hat | |
gerade einen kleinen Friseurladen eröffnet. Wenn er zu weit pendeln muss, | |
sieht er seine anderthalbjährige Tochter kaum noch. „In vier Wochen ist | |
Weihnachten, eigentlich sollte man sich besinnlichere Gedanken machen.“ | |
Doch die einzig sichere Prognose in Görlitz ist derzeit: Die Existenzängste | |
werden in über tausend Familien das Fest überschatten. | |
30 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Helke Ellersiek | |
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