# taz.de -- SPD nach den Sondierungsgesprächen: Der lange Weg zu Merkel | |
> Lang hat's gedauert: Union und SPD bewegen sich jetzt auf die nächste | |
> Groko zu. Denn in der SPD lichten sich die Reihen der Skeptiker. | |
Bild: Eins der vielen Gruppenfotos am Ende der Sondierunsgespräche | |
BERLIN taz | Um 10.49 Uhr am Freitag verkünden Angela Merkel, Martin Schulz | |
und Horst Seehofer vor blassblauem Hintergrund im Willy-Brandt-Haus die | |
Einigung. Sie haben mehr als 24 Stunden verhandelt, Sicheres verworfen, | |
Fachpolitiker angehört, neue Linien gefunden. Sie wirken dafür recht | |
frisch, kaum mal ein Stottern im Vortrag. | |
Union und SPD haben hart gekämpft um Steuern, das Rückkehrrecht von Teil- | |
in Vollzeit, den Familiennachzug von Flüchtlingen. Die 39 Verhandler und | |
Verhandlerinnen sind bis an ihre Grenzen gegangen und darüber hinaus. Das | |
ist die Botschaft an den SPD Parteitag, der den austarierten Vertrag | |
womöglich noch kippen kann: Wir, Schulz & Co, haben das Äußerste | |
herausgeholt. | |
In der Nacht drang so gut wie nichts nach draußen – anders als bei den | |
Jamaika-Verhandlungen. Auch als sich um vier Uhr morgens müde Minister mal | |
die Beine vertraten, war von ihnen nichts zu erfahren. Die neue | |
Verschwiegenheit soll Seriosität signalisieren. Mehr Wir, weniger Ego. | |
Um 8.33 Uhr ging es am Freitagmorgen plötzlich schnell: Eine | |
SPD-Mitarbeiterin stürmte mit einem Stapel frisch ausgedruckter Papiere aus | |
einem Büro im ersten Stock. Hält sie das fertige Sondierungspapier in den | |
Händen? Im gleichen Moment meldete dpa: Der Durchbruch sei da, die | |
Parteichefs hätten sich bereits geeinigt. Limousinen fahren vor. | |
## SPD bringt keine Trophäen nach Hause | |
Im Willy-Brandt-Haus wird hektisch umgeplant. Das SPD-Präsidium, das um 9 | |
Uhr über das Ergebnis diskutieren sollte, fällt erst mal aus. Im Flur vor | |
der Küche im Willy-Brandt-Haus erteilt ein Mitarbeiter dem Servicepersonal | |
Anweisungen. „Präsidium fällt aus, Vorstand um 11. À la carte machen wir | |
heute nicht, Mittagessen wie immer.“ – „Ach, das ist ja gut!“, freut si… | |
eine Kellnerin. | |
Das 28-seitige Papier ist schon ein halber Koalitionsvertrag – mit vielen | |
exakten Zahlen. Er ist durchaus clever verhandelt. Wo keine Kompromisse | |
möglich waren, bleibt alles, wie es ist. Etwa bei den Steuern. Vor ein paar | |
Tagen war durchgesickert, dass der Spitzensteuersatz erst für Einkommen von | |
60.000 Euro für Singles gelten soll, nicht ab 54.000 Euro wie bisher. Die | |
SPD forderte im Gegenzug, dass der Spitzensteuersatz von 42 auf 45 Prozent | |
steigen müsse. Das wäre sinnvoll gewesen – eine Entlastung der oberen | |
Mittelschicht, eine Belastung der Reichen. Doch die Union mauerte – aus | |
Furcht vor der (sachlich falschen) Schlagzeile: „Merkel erhöht Steuern | |
trotz Überschuss“. [1][Nun bleibt die Einkommensteuer, wie sie ist.] | |
Die SPD bringt, wie erwartet, keine Trophäe nach Hause. Keine | |
Reichensteuer, keine Bürgerversicherung. Nichts, was, wie 2013 der | |
Mindestlohn, als strahlendes Symbol taugen könnte. Dafür viel Kleineres, | |
von einer bescheidenen Grundrente bis zur Aufhebung des | |
Kooperationsverbots, falls es dafür eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat | |
gibt. Es soll einen Rechtsanspruch auf Ganztagsschulen geben, mehr Bafög, | |
gebührenfreie Kitas in der ganzen Republik. Und, monetär der wichtigste | |
Punkt: Für das Gesundheitssystem zahlen Unternehmer wieder genauso viel wie | |
Arbeitnehmer. | |
All das entspricht irgendwie dem etwas diffusen, kleinteiligen, | |
symbolarmen SPD-Wahlkampf: nämlich das Leben für Normalverdiener etwas | |
besser zu machen, ohne radikale Wechsel und ohne sich gar mit den | |
Machteliten anzulegen. | |
## 12 von 13 haben zugestimmt | |
Bei Europa wird wortreich und unverbindlich ein „neuer Aufbruch“ | |
beschworen. Martin Schulz hatte schon am Donnerstagmorgen munter erklärt, | |
dass er sich mit Merkel in Sachen Europa „im Grunde einig“ sei. Keine | |
hundert Meter entfernt hatte vor der SPD-Zentrale ein verlorenes Häuflein | |
von Pro-EU-Demonstranten derweil Macron-Plakate in den Berliner | |
Nieselregen gestreckt. | |
Reicht das, um die zögerliche SPD noch mal in die Große Koalition zu | |
bugsieren? Im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, arbeitet man am | |
Freitag fiebrig an einem Papier, das die Skeptiker umstimmen soll: 60 | |
Punkte, in denen sich die SPD durchgesetzt hat. SPD-Gesundheitsexperte Karl | |
Lauterbach ist optimistisch. Bei Bildung, Rente, Pflege und Investitionen | |
gebe es eine sozialdemokraktische Handschrift. „Wir müssen die Alternativen | |
realistisch darstellen, um den Parteitag zu überzeugen.“ | |
Von den 13 SPD-Verhandlern haben nach der langen Nacht 12 zugestimmt. Nur | |
Thorsten Schäfer-Gümbel enthielt sich. Das wichtigste Ja stammt von Michael | |
Groschek, dem SPD-Chef in Nordrhein-Westfalen. Denn wenn die einflussreiche | |
NRW-SPD, bislang Bastion der Unwilligen, irgendwie doch zerknirscht der | |
Regierung mit Merkel zustimmt, dann ist die No-Groko-Bewegung geschlagen. | |
Norbert Römer, SPD-Fraktionschef in Düsseldorf, lässt aus der Ferne | |
mitteilen: „Ich kann nur allen raten, das Papier genau zu lesen und zu | |
analysieren.“ Kürzlich hatte Römer noch erklärt, keiner in der | |
NRW-Landtagsfraktion werde sich für die Neuauflage eines Bündnisses mit der | |
Union erwärmen. Das Statement am Freitagvormittag klingt offen, | |
unverbindlich – und nicht so, als würde er seinem Genossen Groschek in den | |
Rücken fallen. | |
## Erinnerung an 2013 | |
Im SPD Vorstand zeigt sich das gleiche Bild: Fast vier Fünftel wollen jetzt | |
mit der Union über eine Regierung verhandeln. Auch der moderate Parteilinke | |
Ralf Stegner, der das 28-Seiten-Papier mit aushandelte, sagt: „Ich plädiere | |
bei aller eigenen Skepsis gegenüber der Großen Koalition dafür, es zu | |
versuchen.“ Ähnlich klingt Michael Miersch, Chef der Parlamentarischen | |
Linken in der SPD-Fraktion: „Wir müssen auf dem Parteitag erklären, wie | |
sich durch die beschlossenen Maßnahmen das Leben von vielen Einzelnen | |
konkret verbessert.“ | |
Marco Bülow, SPD-Abgeordneter aus Dortmund und entschiedener Gegner der | |
Großen Koalition, sieht das anders. „Das Ergebnis ist so schlecht, dass die | |
Basis vielleicht doch noch aufwacht.“ Das sei „kein Aufbruch, nur | |
Stillstand“. Innenpolitisch segle die große Koalition auf Kurs der Union. | |
Was Migration und Flüchtlinge angeht, Schlüsselthema für die CSU, ist das | |
Ergebnis für die SPD in der Tat bescheiden. | |
Bülow glaubt, dass mindestens die Hälfte der GenossInnen gegen eine neue | |
Regierung mit Merkel sind. Allerdings erinnert an diesem Freitag manches an | |
das Szenario von 2013. Damals kündigten die Sozialdemokraten zwischen Rhein | |
und Ruhr heftigen Widerstand gegen die Große Koalition an – und räumten | |
diese Lager in Windeseile, als es ernst wurde. | |
## Salamitaktik, die aufgeht | |
So schält sich nun ein Bild heraus, das für Martin Schulz, dessen | |
politisches Überleben vom Gelingen der Koalition abhängt, erfreulich ist. | |
Die Anti-Groko-Stimmung lässt sich machtpolitisch nicht bündeln. Kein | |
einflussreicher SPD-Politiker stellt sich an die Spitze der Bewegung. Und | |
die Skeptiker haben keine brauchbare Alternative anzubieten. Das beste | |
Argument für die Groko ist, was auf „keine Groko“ folgt: Neuwahlen. „Die | |
Kassen sind leer, die Beine sind schwer“, heißt es dazu an der SPD-Basis. | |
Bülow fürchtet, dass die Salamitaktik der SPD-Spitze nun aufgehen wird. | |
Zuerst habe es die Ankündigung gegeben, ergebnisoffen mit der Union zu | |
reden – de facto aber habe man nur über eine Regierung geredet. „Jetzt | |
kommt: Wo es nicht reicht, werden wir in den Koalitionsverhandlungen | |
nachbessern.“ Und am Ende stehe dann „die Basis vor der Alternative, | |
zuzustimmen oder ohne Parteispitze in Neuwahlen ziehen zu müssen“, so | |
Bülow. | |
Martin Schulz lobt am Freitagvormittag im Willy-Brandt-Haus „die | |
hervorragenden Ergebnisse, die wir erzielt haben“ – allerdings ohne eins zu | |
nennen. Angela Merkel, ganz Kanzlerin, lässt die Themen von der | |
Digitalisierung in den Schulen bis zur Weltpolitik Revue passieren. | |
Und CSU-Chef Horst Seehofer setzt zu einem fast euphorischen Plädoyer an. | |
Man werde das Rentenniveau bis 2025 garantieren, eine Grundrente einführen, | |
die Weiterbildung von Arbeitnehmern verbessern und einen Rechtsanspruch auf | |
Ganztagsschulen verankern – was bislang keine Herzenssache für die CSU war. | |
## Giftpfeil in Watte gepackt | |
Es ist ein kurioser Moment: CSU-Mann Seehofer hält eine flammende, | |
sozialdemokratische Rede, während Schulz staatsmännisch und sehr allgemein | |
von Erneuerung und Vertrauen spricht. | |
Dabei hat Martin Schulz doch erklärt, dass die Merkel/Schulz-Regierung | |
künftig einen „neuen Stil“ pflegen werde. Offener und auch mal | |
konfrontativer. Auch SPD-Rechte klagten, dass SPD und Union von vielen als | |
eine Partei wahrgenommen würden. | |
Doch von neuem Stil ist an diesem Freitag, der wohl Tag eins der neuen, | |
alten Koalition sein soll, nichts zu spüren. | |
Im Gegenteil: Die Union kapert SPD-Politik, während die Sozialdemokraten | |
seltsam unfähig scheinen, ihre übersichtlichen Erfolge wenigstens gefällig | |
zu präsentieren. | |
„Wir sind hochzufrieden“ erklärt Seehofer vollmundig, und „brauchen kein… | |
Parteitag, um Ja zu dieser Koalition zu sagen“. Das ist ein in Watte | |
gepackter Giftpfeil. Wenn die SPD sich doch noch erdreistet, Nein sagt, ist | |
sie schuld an Neuwahlen. | |
12 Jan 2018 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Tobias Schulze | |
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Anton Hofreiter | |
Landwirtschaft | |
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