# taz.de -- Wohnungslosenhilfe in Berlin: Mit dem Rücken zur Wand | |
> Günstiger Wohnraum wird knapper, immer mehr Menschen verlieren ihr | |
> Zuhause. Eine Strategiekonferenz soll ab Mittwoch Abhilfe schaffen. | |
Bild: Er hat eine Platz für die Nacht gefunden | |
Das Berliner System der Wohnungslosenhilfe ist kompliziert – und | |
funktioniert nicht mehr. Gewahr wurde das einer breiteren Öffentlichkeit | |
erst mit dem Mord an einer Frau im Tiergarten im September, mutmaßlich | |
begangen von einem Obdachlosen aus Tschetschenien. Seither diskutiert die | |
halbe Stadt über Obdach- oder Wohnungslosigkeit, die nicht nur in dem | |
innerstädtischen Park sichtbar zugenommen hat. | |
Dabei ist das Problem bekannt: rasant steigende Mieten, zu wenig günstiger | |
Wohnraum, gleichzeitig mehr Bedürftige. Die Zahl der von den Bezirken | |
untergebrachten Menschen hat sich von 2015 auf 2016 fast verdoppelt, von | |
16.696 auf 30.718, erklärte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) am | |
Freitagnachmittag. Ein Großteil der Steigerung gehe auf die hohe Zahl | |
anerkannter Geflüchteter zurück. Dazu kämen noch rund 13.000 Geflüchtete im | |
Asylverfahren plus Frauen in Frauenhäusern plus untergebrachte Jugendliche, | |
die auch alle ohne eigene Wohnung seien, ergänzte Staatssekretär Alexander | |
Fischer. | |
Es gibt jedoch nicht nur weitaus mehr Hilfebedürftige als früher. Hinzu | |
komme, dass die von Wohnungslosigkeit Betroffenen ganz andere seien als | |
früher: „Vor ein paar Jahren war der Obdachlose noch der deutsche Mann | |
zwischen 35 und 55, jetzt sehen wir viel mehr Frauen, mehr Familien, auch | |
mehr ältere und mehr behinderte Menschen“, sagte Breitenbach. Auch würden | |
immer mehr EU-Bürger auf der Straße leben. Für manche Betroffenengruppe | |
gebe es nicht einmal ein Angebot – etwa für behinderte Obdachlose. „Das | |
System muss weiterentwickelt und verändert werden“, so die Senatorin. | |
## Nicht genug Plätze | |
Zumal die Bezirke ihrer Aufgabe teilweise nicht mehr nachkommen können. Sie | |
sind für die Unterbringung von Wohnungslosen verantwortlich, bezahlt wird | |
sie großenteils von den Jobcentern. Doch es gibt nicht genug Wohnungen und | |
Heimplätze, und so liest man immer wieder Berichte über abgewiesene | |
Bedürftige. Dies dürfe nicht sein, so Breitenbach. „In der Notsituation | |
müssen wir alle Menschen unterbringen.“ Sie wisse aber: „Die Bezirke stehen | |
mit dem Rücken an der Wand.“ | |
Am Mittwoch hat die Sozialsenatorin daher zur 1. Berliner | |
Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe geladen. Mit rund 200 | |
TeilnehmerInnen aus verschiedenen Senatsverwaltungen, Bezirken, | |
Wohlfahrtsverbänden und Trägervereinen wolle man eine „gesamtstädtische | |
Strategie“ zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit erarbeiten, sagte | |
Breitenbach. Dazu würden neun Arbeitsgruppen gegründet, die regelmäßig | |
tagen sollen. Die Themen: Straßenkinder, Wohnungslosenstatistik, | |
Prävention, medizinische Versorgung und Suchthilfe, EU-Bürger, Kältehilfe, | |
bezirkliche Wohnhilfe und gesamtstädtische Steuerung, Wohnraumversorgung | |
sowie Frauen und Familien. Im Herbst soll es eine zweite Konferenz geben, | |
weitere sollen folgen. | |
Seit Jahren fordern die Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie die | |
Erstellung einer Wohnungslosenstatistik als notwendige Basis einer | |
sinnvollen Arbeit. Denn bis heute gibt es nur Schätzungen über die Zahl der | |
Wohnungslosen, die nicht von den Bezirken untergebracht werden. So | |
„schätzt“ man, dass zwischen 4.000 und 8.000 Menschen in Berlin auf der | |
Straße leben. Wie viele zudem bei jemandem auf der Couch „leben“, weiß | |
niemand. Dies zu ermitteln sei aufwendig, so Breitenbach. Dennoch ist eine | |
solche Statistik als Ziel im Koalitionsvertrag festgehalten. Auf dem Weg | |
dorthin werde es im Frühjahr eine Konferenz in Kooperation mit der | |
Alice-Salomon-Hochschule geben. | |
Ein wichtiges Thema ist für Breitenbach außerdem die Problematik der | |
EU-Bürger. Ihr Anteil unter den Berliner Wohnungslosen ist in den letzten | |
Jahren sichtlich gestiegen, in vielen Notunterkünften machen sie inzwischen | |
einen beträchtlichen Anteil der Klienten aus. Ihren Zuzug zu verhindern sei | |
keine Option, da die Freizügigkeit für Menschen europäisches Recht sei, so | |
die Senatorin. Allerdings würde sie Hilfe von anderen EU-Ländern durchaus | |
annehmen und habe daher auch die Botschafter der osteuropäischen EU-Staaten | |
zur Strategiekonferenz eingeladen. „Bislang haben wir aber noch keine | |
Reaktionen“, sagte Staatssekretär Fischer. Der polnische Botschafter in | |
Berlin hatte kürzlich angeboten, sich bei der Versorgung polnischer | |
Wohnungsloser einzubringen. Davon habe man allerdings nur aus den Medien | |
erfahren, so Fischer. | |
Der Staatssekretär unterstrich die finanziellen Anstrengungen, die die | |
Sozialverwaltung ihrerseits zur Bekämpfung des Problems unternimmt. So wie | |
die Bezirke für die Unterbringung in der sogenannten Regelversorgung | |
zuständig sind, ist der Senat bei der Wohnungslosenhilfe für | |
„niedrigschwellige Angebote“ verantwortlich, also etwa Bahnhofsmission, | |
ambulante medizinische Versorgung, Straßensozialarbeit, Notübernachtungen | |
und mehr. | |
Fischer erklärte, die Mittel für solche Angebote im Rahmen des | |
„Integrierten Sozialprogramms“ (ISP) seien im neuen Haushalt mehr als | |
verdoppelt worden – von 4,2 Millionen Euro im letzten Doppelhaushalt auf | |
8,1 Millionen plus 1,5 Millionen für Modellprojekte. Ein Großteil des | |
Zuwachses werde für neue Notunterkünfte – vor allem für Frauen und Familien | |
– ausgegeben werden. „Die sind sehr teuer. Das sind nicht nur Schlafplätze, | |
sondern es gibt dort auch Betreuung und Clearing“, sagte Fischer. Zudem | |
würden Hygiene- und Beratungsangebote ausgeweitet werden. | |
Letzteres gehört zu den Forderungen, die auch die Chefinnen der beiden | |
christlichen Wohlfahrtsverbände auf ihrer Liste haben. Ziel müsse zudem | |
sein, sagte Diakonie-Direktorin Barbara Eschen auf taz-Anfrage, | |
„bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und zu fördern, der zum Beispiel über | |
Belegrechte Menschen mit geringem Einkommen zur Verfügung steht. Hier muss | |
das Land viel mehr Engagement und Kreativität entwickeln und auch kräftig | |
investieren, zum Beispiel für die Ankäufe von Grundstücken. Ohne | |
preiswerten Wohnraum geht nichts.“ | |
Caritas-Direktorin Ulrike Kostka formulierte gegenüber der taz die | |
Erwartung von „zügigen Fortschritten in der medizinischen Versorgung, | |
insbesondere die Schaffung einer Krankenwohnung, die Einführung einer | |
Gesundheitsberichterstattung für obdachlose Menschen und einer landesweiten | |
Wohnungsnotfallstatistik“. Zudem möge sich das Land „mit uns beim Bund | |
einsetzen für eine bessere Situation für wohnungslose EU-Bürger. Sie dürfen | |
nicht in einer Verelendungsspirale enden.“ | |
7 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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