# taz.de -- Debatte Katalonien: Vier Jahrhunderte Opposition | |
> Die Unabhängigkeitsbewegung hat den uralten Stolz der Katalanen auf ihrer | |
> Seite. Reicht das, um die Wahl zu gewinnen? | |
Bild: Auf dem Wunschzettel der Katalanen ganz oben | |
Katalonien steht vor einer Grundsatzentscheidung. Umfragen ergeben für die | |
Wahlen vom 21. Dezember weder für die Unabhängigkeitsbefürworter noch ihre | |
Gegner eine absolute Mehrheit. Wer auch immer vorn liegt, dürfte über einen | |
nur knappen Vorsprung verfügen. Die Wahlen dürften hingegen eine Mehrheit | |
für die Anerkennung der Republik Katalonien und gegen die Zwangsmaßnahmen | |
aus Madrid ergeben – denn es gibt Parteien, die beides ablehnen: die | |
Unabhängigkeit Kataloniens und das Vorgehen des spanischen Zentralstaats. | |
Darin offenbart sich die ganze Komplexität des Katalonien-Streits, der | |
nicht auf eine simple Wahl zwischen Status quo und Abspaltung reduzierbar | |
ist. | |
Spaniens Zentralmacht hebt hervor, dass die Verfassung von 1978, die das | |
monarchische System und die Autonomie der konstituierenden Regionen | |
Spaniens festschreibt, damals auch in Katalonien mit 90,5 Prozent der | |
Stimmen angenommen wurde, und begründet damit ihre Nichtanerkennung der | |
einseitigen Unabhängigkeitserklärung von Puigdemont. | |
Umgekehrt heben viele Katalanen hervor, dass 2006 eine Mehrheit von 73,9 | |
Prozent ein neues Autonomiestatut für Katalonien beschloss. Dieses Statut | |
wurde 2010 von Spaniens Verfassungsgericht gekippt. Damit wurde negiert, | |
dass Katalonien eine Nation ist. | |
Ob zu Recht oder zu Unrecht, die Katalanen, quer durch das politische | |
Spektrum, haben ein sehr starkes Bewusstsein ihrer eigenen nationalen | |
Identität. Im Mittelalter war die Grafschaft Barcelona, ein Relikt des | |
Frankenreichs, vom 10. bis zum 15. Jahrhundert mit dem Königreich Aragon | |
vereint und hing nicht von Kastilien ab, dem Herzen des heutigen Spanien; | |
es bildete eine kommerzielle und maritime Macht im Mittelmeer mit | |
Ausstrahlung bis nach Neapel, Sardinien, Sizilien und Griechenland. Bis | |
heute spricht man auf den Balearen und in Valencia Katalanisch, und in | |
diesen Regionen gibt es eine aus dem gemeinsamen Kampf gegen den | |
Franquismus genährte Sympathie für die aktuellen katalanischen | |
Unabhängigkeitsbestrebungen. | |
In den 1970er Jahren gaben die Sänger Lluís Llach (Katalonien), Raimon | |
(Valencia) und Maria del Mar Bonet (Mallorca) zusammen Konzerte für die | |
Demokratie und die Autonomie Kataloniens. Seit Jahrhunderten verfügen die | |
Katalanen über ein eigenes Rechtssystem, eigene Gebräuche und | |
Nationalsymbole, ihre eigene Sprache, ihre eigene Sardana-Musik, die | |
Madonna von Montserrat und die faktisch als Fußballnationalmannschaft | |
fungierende „Barça“ von Barcelona. | |
## Die Zeit der Unterdrückung | |
Konstitutiv für das katalanische Nationalbewusstsein ist das | |
republikanische Ideal, womit sich Katalonien von Spanien und der | |
Bourbon-Königsdynastie absetzt. Die katalanische Republik von 1641 wurde | |
von dem spanischen König Philipp IV. zerschlagen. Sie erlebte 1931 eine | |
Wiederauferstehung unter Francesc Macià und ließ sich einvernehmlich in die | |
junge spanische Republik integrieren, die später unterging. Der | |
Nationalfeiertag „Diada“ gedenkt des 11. September 1714, als die | |
katalanischen Freiheiten nach dem Sieg der spanischen Bourbon-Monarchie | |
über Katalonien und Aragón abgeschafft wurden und ein Absolutismus | |
eingeführt wurde, unter dem Katalonien von einem von Spaniens König | |
ernannten „Generalkapitän“ regiert wurde. Selbst die katalanische Sprache | |
wurde abgeschafft. | |
Die Erinnerung an diese Zeit der Unterdrückung ist heute noch sehr | |
lebendig, und man nimmt in Katalonien sehr wohl war, dass zwar die | |
Verfassung von 1978 die kulturelle und sprachliche Vielfalt in Spanien | |
anerkennt, dass aber zum Beispiel Gerichtsurteile in Katalonien bis heute | |
überwiegend auf Spanisch formuliert werden. | |
Vor diesem Hintergrund wird das Königreich Spanien von vielen Katalanen als | |
feindselig, fremd und dem Franquismus hörig angesehen. War es nicht | |
Diktator Francisco Franco selbst, der Juan Carlos, den ersten spanischen | |
König bei der Wiederherstellung der Monarchie 1975 und Vater des heutigen | |
Monarchen Felipe VI., 1969 als seinen Nachfolger designierte? Und kommt der | |
aktuelle Premierminister Mariano Rajoy nicht selbst aus der politischen | |
Strömung des Franquismus? | |
## Letzte Bastion gegen Franco | |
Die regierende PP (Volkspartei) in Madrid hat Francos Putsch von 1936 gegen | |
die spanische Republik, deren letzte Bastion damals Barcelona war, nie | |
verurteilt. Sie verweigert bis heute eine würdige Beisetzung und Ehrung der | |
150.000 Menschen, die von den Franco-Putschisten ermordet wurden, unter | |
ihnen der damalige Präsident der katalanischen „Generalitat“- Regierung, | |
Lluís Companys, der von der deutschen Gestapo an Francos Soldaten | |
überstellt und in Montjuïc hingerichtet wurde. | |
Dieses ganze Narrativ muss man kennen, um zu verstehen, woher das tief | |
verwurzelte Opferbewusstsein unter Kataloniens Unabhängigkeitsbefürwortern | |
heute kommt, das durch die Festnahmen und Anklagen gegen ihre Führer noch | |
verstärkt wurde. Eine Rückkehr zur Normalität ist unter diesen Umständen | |
schwer denkbar, egal wie die Wahlen ausgehen. | |
Zu den Parametern der Unabhängigkeitsforderung gehört auch die Wahrnehmung, | |
dass Katalonien den Rest Spaniens subventioniert und dass eine Loslösung | |
ökonomische Erleichterungen mit sich bringen würde. Über die Hälfte unserer | |
Steuern gehen an den spanischen Staat und kommen nicht mehr zurück, heißt | |
es. Diese Überzeugung ist so tief verwurzelt, dass nicht einmal die | |
Ankündigung von 2.000 Unternehmen in Reaktion auf die | |
Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Parlaments vom 27. Oktober, ihre | |
Firmensitze aus Katalonien heraus zu verlegen, sie infrage stellt. Man | |
fühlt sich dazu in der Lage, Opfer zu bringen. | |
## Kein Monopol mehr | |
Vor diesem Hintergrund stellen sich viele Fragen zur Zukunft der | |
Unabhängigkeitsbewegung. Würde sie auch bei erneuter Polizeigewalt oder | |
Provokationen durch die extreme Rechte bei ihrer bisherigen friedlichen | |
Linie bleiben? Bis jetzt zeichnet sich die Bewegung dadurch aus, dass sie | |
auf sorgfältig inszenierte Massenkundgebungen setzt, spektakulär und | |
originell konzipiert, wie die 400 Kilometer lange Menschenkette von 2013 | |
nach dem Vorbild der baltischen Staaten im Kampf um Unabhängigkeit von der | |
Sowjetunion. Neu ist, dass jetzt auch die Einheitsbefürworter im Massen auf | |
die Straße gehen. Die Unabhängigkeitsbefürworter haben das Monopol auf das | |
öffentliche Bild verloren. | |
Sie haben auch, wie sie selbst zugeben, die Entwicklungen der letzten | |
Monate weder vorausgesehen, noch waren sie gut vorbereitet. Die | |
Unabhängigkeit nicht nur zu verkünden, sondern auch umzusetzen – dazu waren | |
sie nicht in der Lage. Alles hatte den Anschein einer Flucht nach vorn. | |
Schließlich ist die Unabhängigkeitsbewegung lediglich in ihrem Ziel geeint, | |
aber über den dorthin zu gehenden Weg zerstritten. Sie muss auch damit | |
umgehen, dass nicht alle Katalanen für die Unabhängigkeit sind. | |
Die Unionisten, die am 29. Oktober 300.000 Menschen in Barcelona auf die | |
Straße brachten und damit erstmals ihre Fähigkeit zur Mobilisierung unter | |
Beweis stellten, haben einige Argumente: Ein unabhängiges Katalonien wäre | |
kein EU-Mitglied mehr, und Spanien würde seinen Beitritt per Veto | |
verhindern; Millionen von Katalanen sind nicht dazu bereit, ihre spanische | |
Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen Rechte auf spanische Renten | |
und Sozialleistungen aufzugeben. Dazu kommt, dass die Gesellschaft | |
Kataloniens auf vielfältige Weise mit dem Rest Spaniens verflochten ist. | |
Viele katalanische Familien bestehen aus Menschen unterschiedlicher | |
Herkunft und können nicht auf eine katalanische Identität reduziert werden. | |
Sollte die Unabhängigkeitsbewegung aus den Wahlen des 21. Dezember als | |
stärkste Kraft hervorgehen, kann sie der Frage, was sie damit anstellen | |
will, nicht länger ausweichen. Wird sie das Unabhängigkeitsvotum vom 27. | |
Oktober bestätigen, was zu einer erneuten Suspendierung der Autonomie | |
führen würde? Wird sie Carles Puigdemont als Präsidenten anerkennen, auch | |
wenn seine Partei nicht mehr die stärkste ist? Und wie wird sie mit ihren | |
eigenen Aussagen umgehen, wonach das Unabhängigkeitsvotum nur „symbolisch“ | |
gemeint war? | |
Auf absehbare Zeit wird Unsicherheit herrschen, und man hat den Eindruck, | |
dass der vielgerühmte seny der Katalanen, der gesunde Menschenverstand, der | |
rauxa gewichen ist, der unreflektierten Erregung. So manche | |
Unabhängigkeitsbefürworter sagen inzwischen, es wäre besser gewesen, den | |
Traum der Unabhängigkeit im Rahmen eines gesamtspanischen Konsenses zu | |
verfolgen. | |
Übersetzung: Dominic Johnson | |
20 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
François Misser | |
## TAGS | |
Katalonien | |
Unabhängigkeit | |
Spanien | |
Franco | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Katalonien | |
Katalonien | |
Katalonien | |
Katalonien | |
Spanien | |
Katalonien | |
Barcelona | |
Katalonien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Baby-Handel in der Ära Franco: Spaniens gestohlene Kinder | |
Sie liebte ihren Papa, dann starb er. Heraus kam: Er war nicht ihr Vater. | |
Seitdem sucht Ascensión López nach der Wahrheit – so wie Tausende. | |
Regierungsauftrag in Katalonien: Puigdemont reist nach Dänemark | |
Kataloniens früherer Regionalpräsident Puigdemont soll eine Regierung | |
bilden. Der reist unterdessen ungeachtet einer Drohung aus Spanien nach | |
Kopenhagen. | |
Regionalparlamentswahl in Katalonien: Absolute Mehrheit für die Separatisten | |
Die Unabhängigkeitsparteien stellen nach der Wahl 70 der 135 Abgeordneten | |
im Parlament. Mehren sich jetzt die Zweifel an Ministerpräsident Rajoys | |
Krisenpolitik? | |
Katalonien wählt: Wenn nichts mehr normal ist | |
An vielen Orten ist die Schlange der Wähler lang. Es zeichnet sich ein | |
enges Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit ab. | |
Puigdemonts Geburtsort vor der Wahl: Gelb tragen verboten | |
Am Donnerstag wählen die Katalanen auf Anordnung der spanischen Regierung | |
ein neues Parlament. In Amer sehen das viele kritisch – und protestieren. | |
Wahlen in Katalonien: Caldentey hält die Fahne hoch | |
Der einzige konservative Bürgermeister in Katalonien behauptet sich bei den | |
Gemeindewahlen. Und das, obwohl er gegen die Unabhängigkeit ist. | |
Katalanendemo in Brüssel: 45.000 appellieren an Europa | |
250 Busse, fünf Sonderflüge: Doppelt so viele Demonstranten wie erwartet | |
folgten dem Katalanen-Aufruf und kamen nach Brüssel. | |
Ex-Regierungschef Puigdemont: Europäischer Haftbefehl gekippt | |
Spanien zieht den europäischen Haftbefehl gegen Puigdemont und vier | |
Ex-Minister zurück. Die nationalen Haftbefehle bleiben bestehen. | |
Katalonische Politiker in U-Haft: Sechs kommen frei, vier bleiben drin | |
Der Oberste Gerichtshof Spaniens wirft den Politikern Anstiftung zur Gewalt | |
im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitsreferendum vor. |