# taz.de -- Baby-Handel in der Ära Franco: Spaniens gestohlene Kinder | |
> Sie liebte ihren Papa, dann starb er. Heraus kam: Er war nicht ihr Vater. | |
> Seitdem sucht Ascensión López nach der Wahrheit – so wie Tausende. | |
Bild: Ascensión López mit einem Bildnis ihres Adoptivvaters Cristobal López | |
ALMERIÁ taz | Jedes Mal, wenn es an der Tür klingelt, bekommt sie | |
Angstzustände. „Jetzt ist es so weit! Das ist der Haftbefehl“, denkt | |
Ascensión López dann. Sie sitzt in ihrem Haus im südspanischen Almería am | |
Wohnzimmertisch und erzählt von einem langen Kampf, von Ängsten und | |
Verzweiflung. Vor ihr liegen Ordner mit Dokumenten, die sie in den | |
vergangenen Jahren mühsam zusammengetragen hat. „Ich bin mir mittlerweile | |
sicher, dass ich ein gestohlenes Baby bin“, sagt die 53-Jährige. | |
Ascensión López hat Angst vor dem Gefängnis, obwohl sie kein Verbrechen | |
begangen hat. Was sie getan hat: Sie forschte in ihrer Vergangenheit und | |
machte öffentlich, was sie herausgefunden hatte. Sie ist überzeugt, dass | |
sie 1964 von ihren Adoptiveltern in einem Krankenhaus in Sevilla gekauft | |
wurde. Wer ihre eigentliche Mutter war, ob sie ihr weggenommen wurde oder | |
ob diese in die Adoption eingewilligt hatte, López weiß es nicht. | |
Doch sie wird den Verdacht nicht los, eines der Opfer eines perfiden | |
Menschenhandels zu sein, dessen Folgen Spanien bis heute umtreiben. „Bebés | |
robados“ – „gestohlene Babys“ werden die Betroffenen genannt. Ihren | |
Müttern, meist aus einfachen Verhältnissen, oft sehr jung und | |
alleinstehend, wurde erklärt, ihre Kinder seien bei der Geburt verstorben. | |
Dann wurden die Babys an reiche Familien verkauft. Das ging so seit Beginn | |
der [1][Franco-Diktatur] und bis Anfang der 1990er Jahre. | |
Ende der nuller Jahre begann der spanische Star-Richter Baltasar Garzón in | |
ersten Fällen zu ermitteln. Er ging davon aus, dass allein im Spanischen | |
Bürgerkrieg und dem ersten Jahrzehnt der Franco-Diktatur rund 30.000 Kinder | |
die Familie wechselten. Oft stammten die Kinder von inhaftierten Frauen der | |
republikanischen Kämpfer, den Verlierern des Bürgerkriegs. Kirche und | |
Diktatur übergaben sie regimetreuen Familien, um so eine | |
nationalkatholische Erziehung sicherzustellen. | |
## Mafiöse Verbindungen von Ärzten und Geistlichen | |
Was aus einer politischen Motivation heraus begann, ging auch nach dem Tod | |
Francos 1975 weiter. Mafiöse Verbindungen aus Ärzten und Geistlichen | |
machten aus dem Verkauf von Neugeborenen ein lukratives Geschäft. | |
Verstrickt in die Machenschaften waren oft auch Nonnen, die vorgaben, | |
„gefallenen Frauen“ helfen zu wollen. Insgesamt gehen | |
Betroffenenorganisationen von bis zu 300.000 Kindern aus. | |
Ascensión López wirkt älter, als sie ist. 2013 berichtete sie im Fernsehen | |
von ihrem Fall – und von ihrem Verdacht. Sie war nicht die Einzige, die mit | |
ihrem furchtbaren Verdacht an die Öffentlichkeit ging. Das Fernsehen | |
stürzte sich auf die Fälle; manchem „gestohlenen Baby“ und so mancher | |
Mutter, die ihr Kind suchte, half dies: Sie fanden sich wieder. López | |
hoffte, dass auch sie fündig werden könnte. | |
Bei ihrem TV-Auftritt erwähnte Lopez auch den Namen Dolores Baena. Die | |
Nonne vom Orden der „Hijas de la Caridad“ ist die Nichte ihres | |
Adoptivvaters und arbeitete damals im Heim für Neugeborene des | |
Krankenhauses in Sevilla. Baena soll, davon ist Lopez überzeugt, die | |
Adoption eingefädelt haben. Nach der Ausstrahlung zeigte die Nonne López | |
wegen Verleumdung an. Es sei alles mit rechten Dingen zugegangen, | |
behauptete sie und gewann den Prozess 2015. | |
López wurde zu 40.000 Euro Entschädigung, 3.000 Euro Strafe und der | |
Übernahme der Gerichtskosten verurteilt. Und wer nicht zahlt, muss in Haft. | |
Im Falle von Ascensión López sind es fünf Monate: „Ich habe das Geld nicht. | |
Ich bin seit Jahren arbeitsunfähig“, sagt sie. Ein Antrag auf Begnadigung, | |
unterschrieben von 90.000 Unterstützern, wurde vom konservativen | |
Justizminister im vergangenen November abgewiesen. | |
## Sechzehn Tabletten nimmt sie täglich | |
Neben López, am Tisch im Wohnzimmer, lehnt ihr ständiger Begleiter, eine | |
Krücke. Es geht ihr gesundheitlich nicht gut. Die Liste der Krankheiten, | |
die sie plagen, ist lang. Zucker, Schilddrüse, chronischer Mangel an roten | |
Blutkörperchen. Sechzehn Tabletten nimmt sie täglich. | |
Das Haus, in dem sie wohnt, ist ein einfacher Flachbau außerhalb der Stadt. | |
Es liegt inmitten eines Meers aus Folienzelten, in denen hier in | |
Südspanien das Gemüse für halb Europa angepflanzt wird. Das Land, das | |
López einst bestellte, gehört ihr schon lange nicht mehr. Eine Scheidung | |
nach einer Ehe voller häuslicher Gewalt, ihre Krankheiten und die fehlende | |
Sozialhilfe haben sie in die Schulden getrieben. „Selbst mein Haus, das ich | |
von meiner Adoptivmutter erbte, ist mit einer Hypothek belegt.“ Zwei ihrer | |
drei Kinder leben noch bei ihr. Beide studieren, trotz ständiger Geldnot | |
hat López sie dazu ermutigt. | |
Zu den Dokumenten, die López auf dem Wohnzimmertisch vor sich hat, zählen | |
Auszüge aus dem Einwohnerregister, Unterlagen aus der Klinik, ein Teil der | |
Adoptionsakten. Auf einigen Dokumenten, so auf einem Papier aus der | |
Adoptionsakte, taucht der Name der Nonne auf. Warum hat sie diesen in der | |
Fernsehdiskussion im Oktober 2013 öffentlich gemacht? „Ich habe den Namen | |
der Klinik und den der Nonne genannt, in der Hoffnung, je mehr ich | |
preisgebe, um so leichter ist es für meine richtige Mutter, mich zu | |
erkennen“, sagt sie. | |
Ascensión López erinnert sich noch sehr gut an jenen Tag, als sie an ihrer | |
Herkunft zu zweifeln begann. Sie war acht Jahre alt. „Ich kam von der | |
Schule nach Hause und mein Vater war an einem Hirnschlag gestorben“, | |
erinnert sie sich. Das Mädchen schloss sich weinend in ihr Zimmer ein. | |
„Plötzlich ging die Tür auf. Eine mehr als zwanzig Jahre ältere Cousine | |
stand vor mir und schleuderte mir ins Gesicht: Was heulst du? Der Mann hat | |
doch gar nichts mit dir zu tun.“ | |
## Die Adoptiveltern waren damals 54 und 60 Jahre alt | |
Nichts mit ihr zu tun? Die Achtjährige war geschockt und begann zu fragen, | |
bekam aber nur widersprüchliche Antworten, bis ihre Mutter schließlich die | |
Adoption gestand. Sie hätten viel, viel Geld bezahlt, an die Kirche und an | |
andere Stellen. 250.000 Peseten seien es gewesen; zu einer Zeit als ein | |
Facharbeiter 5.000 bis 6.000 Peseten im Monat verdiente. | |
Lopez’ Adoptivmutter erzählte ihr, dass ebenjene Nonne damals bei ihnen zu | |
Hause angerufen habe: „Richte deinem Mann aus, dass ihr nach Sevilla kommen | |
sollt. Hier ist eine, die fällig ist“, soll die Nonne gesagt haben. „Viel | |
mehr hat mir meine Mutter nie erzählt“, sagt López. Sie vermutet, dass sie | |
auch gar nicht mehr wusste. „Mein Adoptivvater war sehr katholisch. Er | |
fällte alle Entscheidungen allein.“ | |
Eine Woche haben ihre Adoptiveltern – so konnte López es rekonstruieren – | |
in Sevilla gewartet und sie dann mitgenommen. Ihre Adoptiveltern waren zu | |
dieser Zeit 54 und 60 Jahre alt. „Weder damals noch heute lässt das Gesetz | |
ein Paar in diesem Alter ein Baby adoptieren“, wundert sich López. | |
Der 7. Mai 1964, das ist ihr Geburtsdatum im Registerauszug, dessen Kopie | |
López aufbewahrt. Eine andere Bescheinigung widerspricht dem allerdings. | |
Demnach wurde López bereits am 5. Mai getauft. „Ich weiß also nicht einmal, | |
wann mein Geburtstag ist“, sagt sie und schaut dabei auf die Dokumente, die | |
sie immer wieder hin und her sortiert. | |
## Unter ihrem Namen gab es keinen Eintrag im Register | |
Heute, 53 Jahre später, ist selbst ihr Name ein Rätsel. In einigen Papieren | |
heißt sie María Dolores – volkstümlich „Loli“ – wie sie auch von ihr… | |
Eltern gerufen wurde. In anderen Consuelo und schließlich in dem Dokument | |
aus dem Zivilregister, das ihrem Ausweis und Pass zugrunde liegt, | |
Ascensión. | |
„Die wichtigsten Dokumente kann ich zeigen, aber sie dürfen nicht | |
fotografiert werden, denn ich brauche sie vor Gericht und will nicht, dass | |
die Nonne aus der Presse erfährt, was ich bereits alles weiß“, sagt López | |
und packt einen Teil der Papiere schnell wieder in den Ordner. | |
Egal, wen aus der Familie sie in all den Jahren nach der ganzen Wahrheit | |
fragte, sie wurde immer wieder auf die Nonne verwiesen. Die kenne die ganze | |
Geschichte, wurde ihr erklärt. Eigentlich ist die Nonne Dolores Baena als | |
Nichte ihres Adoptivvaters eine Cousine von López. „Ich weigere mich | |
mittlerweile aber, sie so zu nennen“, sagt López mit bitterem Ton. Zu oft | |
kreuzten sich ihre Wege. Und der Verdacht, dass die Nonne tatsächlich mehr | |
wusste, als sie zugab, wuchs von Mal zu Mal. | |
So auch, als López 16 wurde. Wie alle in diesem Alter beantragte sie damals | |
ihren ersten Personalausweis. Nur: unter dem Namen María Dolores war im | |
Register niemand vermerkt. „Ich erzählte dies der Nonne“, erinnert sich | |
López. „Versuch es mal mit Ascensión“, empfahl ihr diese. Es klappte. Die | |
Heranwachsende bekam ihren Ausweis und hatte erstmals schwarz auf weiß, | |
dass irgendetwas nicht stimmte. | |
## Sie hätte im Waisenhaus enden können, sagt die Nonne | |
Sie fragte Schwester Dolores immer und immer wieder nach Details ihrer | |
Herkunft, nach ihrer leiblichen Mutter – und bekam immer und immer wieder | |
ausweichende Antworten. „Einmal nahm sie mich mit ins Provinzkrankenhaus | |
von Almería, wo sie mittlerweile arbeitete. Von einem Balkon aus waren die | |
Fenster des Waisenhauses und die Kinder, die dort lebten, zu sehen. „Frag | |
nicht weiter. Du hättest so enden können“, empfahl ihr die Nonne. | |
„Mein Leben zerfällt in zwei Teile“, berichtet López. Bis zum | |
überraschenden Tod ihres Vaters war die kleine Loli behütet. Und sie war | |
glücklich. Das Ehepaar López lebte mit ihr und ihrem sechs Jahre älteren, | |
ebenfalls adoptierten Bruder, im Zentrum Almerías. Der Bruder möchte im | |
Zusammenhang mit dem Streit nichts sagen, was gedruckt wird – und das, | |
obwohl er der Einzige der Familie ist, der bis heute zu seiner | |
Adoptivschwester steht. | |
Die Familie lebte damals in einem der ersten modernen Wohnblocks, der in | |
Almería nach dem Krieg gebaut worden war. Nur angesehene und vor allem | |
regimetreue Bürger wohnten hier, direkt gegenüber dem Zentralmarkt. López | |
kommt nur selten hierher. Heute ist so ein Tag: Sie möchte zeigen, wo sie | |
aufgewachsen ist. Es bewegt sie sichtlich. Immer wieder kämpft sie gegen | |
die Tränen an. | |
Es wird kein langer Spaziergang. Denn das Leben der kleinen „Loli“ spielte | |
sich in wenigen Straßen ab. Ein paar Meter weiter ging sie in die | |
katholische Grundschule. Ein Stück die Straße hinauf, in einem Gebäude, das | |
heute eine Filiale der Sparkasse beherbergt, war einst das Theater Apollo. | |
„Hier gingen wir jeden Sonntag ins Kino“, erinnert sich López. Zuvor hatten | |
sie sonntags immer die Messe in der Kirche San Pedro besucht, in der sie | |
Jahre später heiraten sollte. Nach dem Gottesdienst spielte sie auf dem | |
Platz davor. „Meine Mutter brachte immer eine Decke mit, damit ich das | |
Sonntagskleid nicht beschmutze“, sagt López. | |
## Ihr Vater war ein wichtiger Mann bei den Faschisten | |
Unter der Woche besuchte die kleine Loli mit ihrem Vater regelmäßig die | |
Cafetería Colón. „Hier trafen sich die Großkopfigen der Falange, zu denen | |
auch mein Vater gehörte“, erzählt López. Die Falange war die Einheitspartei | |
der Franco-Diktatur. Während die Männer über alles Mögliche debattierten, | |
saßen die Kinder still dabei. | |
Ihr Vater war ein wichtiger Mann bei den Faschisten. „Er ordnete im Krieg | |
und den ersten Jahren der Diktatur standrechtliche Erschießungen an“, sagt | |
López und fügt dann schnell hinzu: „Aber er war dennoch ein sehr guter | |
Vater.“ | |
Sie kennt die Gewalt und das Leid, das die Franco-Anhänger über viele | |
Menschen gebracht haben. Als Jugendliche wuchs in ihr der Widerstand gegen | |
alles Autoritäre. „Ich bin die einzige ‚Rote‘ in der ganzen Familie“, … | |
sie – und doch lässt sie auf ihren Adoptivvater als Vater nichts kommen. | |
„Ich habe nur gute Erinnerungen. Wir gingen zusammen angeln, segeln, an den | |
Strand“, erinnert sie sich. Und ihr Adoptivvater brachte ihr das Schwimmen | |
bei. | |
Die guten Beziehungen zu den örtlichen Eliten der Diktatur nutzte ihr | |
Adoptivvater aber auch als Bauunternehmer. Während des ersten, noch | |
zaghaften Tourismusbooms an der Küste rund um Almería verdiente er viel | |
Geld. Die Erinnerungen, der Spaziergang durch die Straßen ihrer Kindheit | |
fallen López nicht leicht. Sie sieht aus, als kämen ihr jeden Augenblick | |
die Tränen. | |
## Mit dem Tod des Vaters endete ihr behütetes Dasein | |
„Das behütete Leben fand mit dem Tod des Vaters ein abruptes Ende“, setzt | |
sie erneut an. Es fehlte die schützende Hand des Patriarchen. Ab jenem | |
Augenblick, als die Cousine ihr ins Gesicht schleuderte, dass sie „mit | |
diesem Mann nichts zu tun hat“, wurde sie oft „la recogida“ (die | |
Aufgenommene), „la cunera“ (das Findelkind) oder gar „la intrusa“ (der | |
Eindringling) genannt. | |
Die Mutter musste bald schon die schöne Wohnung in der Rambla verkaufen. | |
Sie zog mit ihren beiden Kindern in das Haus draußen auf den Feldern, das | |
López bis heute bewohnt. Das Vermögen wurde Monat für Monat weniger. Was | |
López schließlich noch erbte, ist nach ihrer Ehe, Scheidung und den | |
Krankheiten auch weg. „Ich habe sehr gut gelebt und sehr schlecht“, sagt | |
sie mit leiser Stimme. | |
Nach ihrer Scheidung 2005 machte sie sich mit großem Eifer an die | |
Spurensuche. Ermutigt durch erste Schlagzeilen über „gestohlene Babys“ ging | |
auch sie an die Öffentlichkeit. 2011 gründete sie in Almería eine | |
Vereinigung der Betroffenen, der sie bis heute vorsteht. „Am Abend bevor | |
ich die Vereinigung registrierte, bat ich die Nonne zu mir“, berichtet | |
López. Sie bot ihr an, darauf zu verzichten, falls sie ihr endlich die | |
Wahrheit erzählen würde. „Such, du wirst deine Mutter nie finden“, lautete | |
die Antwort der Nonne. | |
López brachte ihre Zweifel schließlich 2012 zur Anzeige. Die Polizei in | |
Sevilla stellte die Ermittlungen nach wenigen Monaten ein. Anderen | |
Betroffenen erging es nicht viel besser. Über 2.000 Fälle wurden zur | |
Anzeige gebracht, zum Teil mit sehr detaillierten Beweisen gegen Ärzte und | |
Ordensschwestern. Urteile wurden bis heute keine gefällt. Die Justiz | |
verschleppt die Verfahren. Eine von der Regierung versprochene | |
DNA-Datenbank funktioniert bis heute nicht wirklich, beklagen sich die | |
Opfervereinigungen. Selbst EU-Institutionen beschwerten sich immer wieder | |
über die Untätigkeit Madrids. | |
## Die große Mehrheit lebt weiterhin in Unklarheit | |
Nur wenige der geraubten Kinder konnten ihre leiblichen Eltern finden. Die | |
große Mehrheit der Betroffenen muss weiter mit der Ungewissheit leben. | |
López ist sich sicher, dass Schwester Dolores einem Netzwerk angehörte. | |
Anders könne sie sich die harte Haltung der Nichte ihres Adoptivvaters | |
nicht erklären. Eine Begnadigung im Verleumdungsverfahren wäre möglich | |
gewesen, wenn die Nonne ihr vor Gericht verziehen hätte. Doch Schwester | |
Dolores besteht auf der Vollstreckung der Strafe und der Entschädigung. | |
„Ich frage mich immer wieder: Wen schützt sie?“, sagt López. | |
Schwester Dolores ist leicht zu finden. Sie lebt in einer jener Straßen, in | |
denen sich die Kindheit von López abgespielt hat. Jeden Morgen verlässt sie | |
zur selben Stunde die katholische Schule Milagro, grüßt freundlich die | |
Straßenkehrer und Passanten, verschwindet schließlich in der zur Schule | |
gehörenden Kirche, wo sie andächtig der Messe beiwohnt. Auf die Begnadigung | |
angesprochen, antwortet sie knapp: „Fragen Sie meine Anwältin.“ Diese | |
verweist am Telefon auf das Urteil. „Wir werden zu dem Spektakel, das die | |
da abzieht, nichts beitragen“, beendet die Anwältin das Gespräch. | |
Zurück im Wohnzimmer, räumt López die Dokumente weg. Auf dem Tisch liegen | |
nur noch ein paar Fotos, die sie mit Vater und Mutter zeigen. Sie weiß, | |
dass ihr Fall sehr schwierig ist. Immerhin hat sie seit dem Urteil die | |
Unterstützung der Vereinigung gestohlener Babys in der andalusischen | |
Hauptstadt Sevilla und damit erstmals gute Anwälte. | |
## Manchmal hat sie Angst, „verrückt“ zu werden | |
Bisher kümmerte sich ein Pflichtverteidiger um sie und der habe, so die | |
neuen Anwälte, alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Ihre | |
jetzigen Rechtsbeistände suchen nach weiteren Unterlagen, um den Fall | |
erneut aufzurollen und so die Haft zu vermeiden. Ob das noch rechtzeitig | |
gelingt, ist alles andere als sicher. „Doch selbst wenn ich für fünf Monate | |
ins Gefängnis muss – sobald ich rauskomme, mache ich weiter“, sagt López. | |
Manchmal befürchtet sie aber auch, sie könnte über die Suche und die ganzen | |
Grübeleien „verrückt werden“. Dann zieht es sie an jenen Ort, an dem sie | |
sich ihrem verstorbenen Adoptivvater nah fühlt. Sie fährt hinaus ans Meer, | |
an einen Strand im Naturschutzgebiet Cabo de Gata, wo die beiden einst | |
lange Sommernachmittage verbrachten. „Doch in letzter Zeit spüre ich seine | |
Nähe nicht mehr“, sagt sie mit traurigem Gesicht. Denn sie quält eine | |
Frage: „Hätte er mir irgendwann die Wahrheit gesagt?“ | |
4 Feb 2018 | |
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Reiner Wandler | |
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