# taz.de -- Diedrich Diederichsen über Massenkultur: „Der feine Mann schläg… | |
> Ein Gespräch mit dem Kunstprofessor über die Trennung von E- und | |
> U-Kultur, Klaus Kinski, Trump und die Reservate des Herrenmenschentums. | |
Bild: Populäre Kultur gibt es nicht mehr, dafür aber jede Menge Kulturindustr… | |
taz: Herr Diederichsen, bei der Lektüre Ihres neuen Buches „Körpertreffer. | |
Zur Ästhetik der nachpopulären Künste“ musste ich an Ereignisse der letzten | |
Monate denken: Trumps ständige Überschreitungen erinnern an Figuren wie | |
Klaus Kinski, dessen sexuelle Übergriffe Sie als symptomatische | |
Fehlentwicklung eines Teils der Befreiungskultur beschreiben. | |
Diedrich Diederichsen: Ja, Trump ist als Performer ein Rückfall in die | |
Sechziger, aber darin eben auch so grotesk, weil aus der Zeit gefallen. Er | |
ist der Versuch eines faschistoiden Zwangscharakters, die „free person“ | |
aufzuführen. | |
Was Sie gerade zitieren, ist Stefan Brechts Einteilung der | |
gesellschaftlichen Akteure um 1965 in „phony authoritarians“ im Gegensatz | |
zu „free persons“. Ist Trump kein „phony authoritarian“? | |
Trump will ja genießen. Der „phony authoritarian“ traut sich das Genießen | |
nicht, deswegen ist er so sauer und will Krieg führen. Kinski war eine | |
klassische „free person“ wie sie aus dem selbstbeobachtenden Narzissmus, | |
der Freude am Erleben der Effekte der eigenen Unwillkür hervorging. Trump | |
könnte Ähnliches erlebt haben, aber nicht in den Befreiungsmilieus der | |
Sechziger, sondern in den Reservaten von Machismo und Herrenmenschentum. | |
Auch der Begriff Salonbolschewist taucht bei Ihnen auf. In den Neunzigern | |
haben Sie sich ausführlich mit Political Correctness beschäftigt. Trump und | |
Alt-Right bekämpfen diese explizit. Auch für die AfD ist sie ein rotes | |
Tuch. | |
Da hat sich seit 1996, als ich „Politische Korrekturen“ geschrieben habe, | |
nicht viel getan; der alte Kampf für den natürlich gewachsenen Schnabel, ob | |
rassistisch oder sexistisch, ist durch die problematische Ermächtigung | |
durch Internetkommentarspalten und Onlineforen nur ohrenbetäubend laut | |
geworden. Zum Salonbolschewisten: Argumente ad personam laufen immer darauf | |
hinaus, dass man den Leuten vorwirft, nur im eigenen Interesse zu sprechen. | |
Diese Konstruktion des Salonbolschewisten schafft eine Figur, die nicht im | |
eigenen Interesse spricht. Sie genießt bourgeoisen Lebensstil als Parasit | |
und bekämpft die Bourgeoisie zugleich. Das setzt leider voraus, dass die | |
Bourgeoisie sich solche Leute leistet. Letztendlich ist dieser Mensch also | |
auch nicht frei. Man kann ihn aber relativ weit freistellen vom Verdacht, | |
dass seine Diagnosen von seiner ökonomischen Abhängigkeit her geprägt sind. | |
Deswegen taucht er bei mir wieder auf. | |
Inwiefern beziehen Sie sich in „Körpertreffer“ auf Adorno? | |
Ich habe mich mit Adornos weithin bekannter Kulturindustriethese | |
auseinandergesetzt. Ich teile die Kritik von medienwissenschaftlicher | |
Seite, dass dort technische Medien nicht vorkommen und nur gefragt wird, | |
wie Kulturwaren ökonomisch und ideologisch am Massenbetrug teilhaben. | |
Ist das die Kritik, die auch der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler | |
bezüglich Adornos Theorie hatte? | |
Ja, aber an Kittler hätte ich auszusetzen, dass er wiederum Politik und | |
Soziales nur aus Technik ableitet, aus dem Schaltbaren und Rechenbaren. Ich | |
frage mich stattdessen, wie die Kulturindustrie – durchaus in Adornos Sinne | |
– durch die Technik in einzelne historische Stadien zerfällt. Und ich frage | |
nach einer Ästhetik, die sowohl Adornos Kulturkapitalismuskritik als auch | |
Kittlers Medientechnikgeschichte berücksichtigt. | |
Sie führen an, dass durch Erfindungen wie Film und Aufnahmetechnik ein | |
Epochenbruch stattgefunden hat, dessen ästhetische Konsequenzen noch nicht | |
erfasst sind. Dieser technologische Fortschritt mache die Unterscheidung | |
zwischen „ernster“ Kunst und „leichter“ Unterhaltungskultur hinfällig. | |
Die erste These besagt, dass alle Formate, die dadurch entstanden sind, | |
zwar verdammt und gefeiert worden sind, aber nie als ästhetische Phänomene, | |
außer bei Walter Benjamin. Die sehr aufgeladene Frage, ob es sich beim Ende | |
von High und Low um ein Gefressenwerden des Highen durch die | |
Kulturindustrie oder um eine demokratische Befreiung handelt, wollte ich | |
versachlichen. Wenn Kunst nicht mehr als Bildungskultur erlernt und vererbt | |
wird, noch als Volkskultur weitergegeben wird, sondern stattdessen | |
technisch herbeigezaubert werden kann, ändert sich alles. Es gibt ganz neue | |
Zugänge und andere Parameter, die entscheiden, was gelungen ist. | |
Mir bereitet der Begriff „nachpopuläre Künste“ Probleme. Musik und Film | |
werden doch industriell vertrieben und auch so wahrgenommen. | |
Das gilt aber für die bekanntesten und die spezialisiertesten Werke. | |
Populäre Kunst war davor und wurde nicht kapitalistisch verbreitet. Und auf | |
Handwerk, Bildung basierende bürgerliche Kunst ist auch vorbei. Ich hätte | |
es auch nachklassisch nennen können. Nachpopulär heißt, da, wo die | |
Bezeichnung „populär“ keinen Sinn mehr macht, nicht, dass alles | |
Nachpopuläre unpopulär wäre. Es ist auffälliger, dass es keine populäre | |
Kultur mehr gibt, als dass es keine E-Kultur mehr gibt. Es gibt heute viele | |
voraussetzungsreiche Kulturformen, wobei dies nicht immer klassische | |
Bildung und Herrschaftswissen ist. Eher ist populäre Kultur verschwunden, | |
als dass Hochkultur verschwunden ist. | |
Warum der Ausdruck „Körpertreffer“? | |
Ich habe ans Boxen gedacht. Da ist der Körpertreffer eine leicht illegitime | |
Aktion; der feine Mann schlägt eher ins Gesicht. Die Eindrücklichkeit der | |
Künste hat damit zu tun, dass Spuren von echten Körpern übertragen werden. | |
Und deren Unwillkürliches ist oft eindrucksvoller als das Gekonnte und | |
Einstudierte. Wenn Rezipient_innen etwas abbekommen haben am Körper, | |
überrascht werden, gilt das als Erfolg. Aber vor allem, wenn die | |
Produzent_innen vom Unwillkürlichen überwältigt sind und eine Maschine das | |
objektiv aufzeichnet. Daher ein passender Titel. | |
Sie sprechen vom „Index-Effekt“. Wie ist das zu verstehen? | |
Kriegen Künstler bei Musikaufnahmen mit, dass etwas, was sie nicht | |
beabsichtigt hatten, einen direkten Effekt hat? Es kommt der Moment, wo sie | |
sich als Verursacher dieser unwillkürlichen, rührenden, sexy Aktion | |
erkennen, sich zurechnen, dass das Korn ihrer Stimme etwas mit ihnen selbst | |
zu tun hat. Das führt zu Grandiosität und diese lässt sich, da es sich um | |
einen unwillkürlichen Akt handelt, nicht ohne Weiteres künstlerisch, | |
handelnd umsetzen. Das wird dann umgelenkt, in einen Habitus gefügt. | |
Sie gehen auf Künstler ein, deren Arbeit Ihnen als Exempel der Aufhebung | |
zwischen E und U dient, etwa auf den US-Musiker und -Künstler Henry Flynt. | |
Im Essay „Concept Art“ (1963) hat er über bildnerisch-künstlerische Ideen | |
nachgedacht und Inspiration von Soulmusik bezogen. | |
Es gibt zwei Manifeste von Flynt, das erste steht in dem „Concept | |
Art“-Aufsatz. Darin geht es gegen die damalige neue Musik in Europa, den | |
Darmstädter Serialismus. Dagegen setzt er vier Gegenmodelle, deren | |
Gemeinsamkeit ist die Ablehnung dessen, was er „structure art“ nennt. | |
Serielle Musik, die so komplex ist, dass man ihre Baupläne beim Hören nicht | |
mehr sinnlich erkennen und nachvollziehen kann – und trotzdem nicht so toll | |
komplex wie eine reine Concept Art wäre, die gar keine Sinneseindrücke mehr | |
braucht. Neben dieser Concept Art hat Flynt drei andere Gegenmodelle: R&B, | |
bestimmte afrikanische Musik und die lang angehaltenen Drones der frühen | |
Minimal Music. Sie alle stellen den Fortschritt da, weil sie Darmstadt | |
konkret negieren. Sie alle haben mit Index-Effekten zu tun, mit dem | |
Nachvollziehen von Verursachungen. | |
Was interessiert Sie an seinem Diktum, dass Kommunisten den Ton in der | |
kulturellen Debatte selbst setzen müssen? | |
Das ist sein zweites Manifest. Er hat eine Theorie des Gebrauchswertes von | |
Kultur. Flynt empfiehlt den US-Kommunisten tools der populären Kultur – | |
Hammondorgeln etwa –, die für europäische Linke schlicht Waren wären. Da | |
schreibt er sinngemäß, US-Kommunisten seien hinter der Zeit zurück, da sie | |
nicht begreifen, was die schwarze Arbeiterklasse an Musik hervorgebracht | |
hat. | |
Wäre das, was sich Flynt von afroamerikanischer Kultur abgeleitet hat, | |
Intersektionalität, oder fiele das heute unter „Cultural Appropriation“, wo | |
Weißen das Recht abgesprochen wird, Ideen aus der Diaspora zu verwenden? | |
Die Aufgabe von Intersektionalität ist es ja, je notwendig begrenzte | |
Perspektiven zusammenzudenken, aber nicht das Verteilen von Rechten. Dass | |
jemand qua Identität kein Recht haben sollte, über etwas zu reden, geht | |
nicht. Es gibt immer Situationen, in denen es angemessen wäre, zu schweigen | |
oder andere reden zu lassen, aber das ist eine Frage des Verhaltens in | |
einer konkreten politischen Situation und betrifft nicht die Richtigkeit | |
von Argumenten. Politisches Handeln muss beides würdigen. | |
Gegen Ende Ihres Buches greifen Sie einen Song des brasilianischen Stars | |
Caetano Veloso heraus. Warum? | |
Veloso singt höchst selbstreflexiv, er wisse, wenn er sich aufnehmen lässt, | |
sei er am Leben, irgendwann werde er tot sein. Eigentlich eine | |
Selbstverständlichkeit, aber in dem er das sozusagen feiert, spricht er das | |
aus, was medienontologisch den recorded song ausmacht: Jemand ist | |
nachweislich am Leben, der eines Tages tot sein wird. | |
6 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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