| # taz.de -- 39. Festival „Transmusicales“ in Rennes: Autotune im Pilspub | |
| > Fast alle Konzerte sind ausverkauft. Aber wie steht’s mit dem | |
| > künstlerischen Anspruch des großen französischen Popfestivals im | |
| > bretonischen Rennes? | |
| Bild: Fuckin' hell: Maestros Mark Kerr in Rennes | |
| Stürmisches Wetter in der Bretagne, alle Augenblicke peitschen Windböen und | |
| Regenschauer hernieder. Der Wind kommt von vorne und fragt, ist dir kalt, | |
| cherie? Eine Weile kann man die puderzuckrigen Niederschläge ignorieren, | |
| dann kriecht die Feuchtigkeit mit Macht in die Knochen. „Fuckin’ hell“, | |
| sagt Mark Kerr, der schottische Sänger des Trios Maestro zur Begrüßung. | |
| Am Donnerstagabend spielen Maestro im Kellerclub Le 1988, der sich in einem | |
| brutalistischen Einkaufszentrum am Rande eines Hochhausviertels im | |
| Stadtzentrum von Rennes befindet. Gut, dass die Klimaanlage eiskalte Luft | |
| in den Raum bläst, das stachelt die drei Musiker aus Glasgow und Paris noch | |
| mehr an. | |
| Ist Mark Kerr der namensgebende Maestro? Jedenfalls steht der böse kleine | |
| Bruder von Simple-Minds-Sänger Jim Kerr in der Bühnenmitte, guckt scheel | |
| und hampelt beim Singen rum, als hänge der Teufel an seinem Rockzipfel. | |
| Kerrs Spitzname ist „The Butcher“, das kehlige schottische Englisch vom | |
| Metzger gefällt den Bretonen, die Bier trinken wie die Schotten, | |
| vielleicht, weil es gegen Kälte hilft? | |
| An Maestro gefällt die Unentschiedenheit zwischen Popsong und | |
| Dancefloor-Ohrfeige. In dem Song „Harmony“ bekundet Kerr sogar „I love | |
| you“, aus seinem Mund klingt das eher wie ein Trecker, der großflächig | |
| Gülle auf dem Feld verstreut. „This songg is forrr my fucking Motherrr who | |
| passed awayyyy 7 years agggo“, kündigt er den Song „Timbuck“ an. | |
| Möglicherweise ist Sigmund Freud auf Facebook mit Maestro befreundet. Im | |
| Publikum skandiert ein langer Schlaks, der offensichtlich zur Band gehört; | |
| wie weiland Bez von den Happy Mondays tanzt er quasi jede Textzeile von | |
| Kerr nach, ballt die Fäuste, zieht das Publikum alsbald mit. | |
| ## Oh Bondage up yours | |
| Die beiden anderen Musiker von Maestro lassen sich auch nicht lumpen: | |
| Drummer Antoine Boistelle haut den Lukas, schmucklos und tight hält er die | |
| Band auf Kurs. Nicht erst das Sample „Oh Bondage up yours“ von X-Ray Spex | |
| stellt klar, Punk ist eine feste Größe im Klangbild von Maestro, was den | |
| Sound angeht, aber auch die No-Nonsense-Attitüde auf der Bühne. Keyboarder | |
| Frédéric Soulard windet sich, holt Haarnadelkurven-Melodien aus den | |
| Apparaten, die Bombast im Westentaschenformat erzeugen, eher Dimple Minds | |
| als Simple Minds. | |
| Weiter zu Le Club in die Altstadt, ein ehemaliges indisches Restaurant, wo | |
| Newcomer neben einem Treppenabsatz auf engstem Raum ihr Equipment aufgebaut | |
| haben. Jetzt ist es heiß und stickig wie in einer Sauna. Das gehypte | |
| Quartett Pépite aus Paris spielt laut Ankündigung chanson nostalgique, | |
| klingt aber eher wie eine lasche Psychedelic-Folkrockband. Drei der vier | |
| Musiker tragen Hawaii-Hemden, einer hält eine Zeitungsseite mit einem Bild | |
| von Nationalheld Johnny Hallyday ins Publikum. Vergangene Woche war | |
| Hallyday im Alter von 74 Jahren an Krebs gestorben: „Johnny Hallyday: Une | |
| vie passé sur la scene“ steht da geschrieben. | |
| ## Langweiliger als die Langeweile selbst | |
| Pépite überzeugen an diesem Abend keineswegs. Einstudierte Posen, kraftlose | |
| Songs, schülerhafte solistische Einlagen. Ja, selbst Langeweile ist noch | |
| spannender als diese Band. Nach kurzem Umbau entert Eugénie die Bühne, eine | |
| junge Frau, die zu Trapbeats und schwülstigen Synthesizer-Hooklines singt. | |
| In Frankreich gilt die 22-Jährige mit der herb-reifen Stimme als | |
| „Electro-Pop-Sensation“, aber die Songs ihres Debütalbums „Vents | |
| Contraires“ sind dermaßen penetrant auf radiotauglich getrimmt, dass gar | |
| kein Platz für Widerspenstiges bleibt. Zudem fehlt es der Künstlerin an | |
| Bühnenpräsenz, unschlüssig hält sie sich am Mikrofonständer fest. | |
| Wenigstens sind Wind und Regen inzwischen etwas schwächer geworden. | |
| Im ganzen Land herrscht nach den Anschlägen islamistischer Terroristen nach | |
| wie vor der Ausnahmezustand. Davon kriegt man nur am Rande etwas mit, wenn | |
| in einer Straße in Rennes plötzlich schwer bewaffnete Soldaten mit MGs im | |
| Anschlag patrouillieren. Die Sicherheitsvorkehrungen sind unverändert hoch: | |
| FestivalbesucherInnen bilden lange Schlangen an den Eingängen und lassen | |
| sich bereitwillig kontrollieren. | |
| ## 95 Prozent Auslastung | |
| „Transmusicales“ feiert seine 39. Ausgabe, finanziell gesehen ist sie ein | |
| großer Erfolg. Nahezu alle Konzerte der Sektion „Bars En Trans“ – in 14 | |
| kleinen Etablissements in der Innenstadt finden Konzerte statt – sind | |
| ausverkauft. Auch aus den zwei großen Clubs der Stadt und den fünf riesigen | |
| Hallen auf dem Messegelände wird 95 Prozent Auslastung gemeldet. Aber tut | |
| das dem künstlerischen Anspruch des Festivals auch gut? Man gibt zwar | |
| weiterhin Talenten und Newcomern eine Chance, aber sind sie auch nach | |
| Interessantheit ausgewählt? Oder hebt sich das Festival die wahren Perlen | |
| fürs 40-jährige Jubiläum auf? | |
| In der Reihe „Création Musicale“ präsentieren MusikerInnen jeweils an drei | |
| Abenden neue Werke. Am Freitag im L’Air libre eröffnet das Pariser Duo | |
| Tchewsky&Wood den Reigen. Bekannter in ihrer Heimat ist Sängerin und | |
| Stehdrummerin Marina Keltchewsky als Comedienne und Schauspielerin. | |
| Zusammen mit ihrem Partner, Keyboarder und Gitarrist Gaël Desbois, und | |
| einem weiteren Stehdrummer versucht die Künstlerin musikalisch eine | |
| französische Antwort auf das angloamerikanische Cold-Wave-Genre zu finden. | |
| Lustig ist hier gar nichts, ihr Vortrag wirkt eher etwas bemüht. | |
| Keltchewskys russische Wurzeln setzt sie mit dem Zaunpfahl winkend ein. | |
| Zudem schleifen öde Hardrockriffs die Dramaturgie vieler Songs ab. | |
| Enttäuschend ist auch der Headliner Nakhane, ein junger Künstler mit | |
| südafrikanischen Wurzeln, der im britischen Brighton lebt. Im roten | |
| Harlekinanzug kommt er barfuß auf die Bühne und setzt mit großer Geste zu | |
| melancholischen Popsongs an. Weder kann seine Stimme das Pathos einlösen, | |
| das er mit den gefühligen Songs hervorrufen möchte, noch sind die | |
| Arrangements irgendwie dazu angetan, die Hoffnung zu nähren, dass Nakhane | |
| etwas grundsätzlich Nachhaltiges vollführt. Das Publikum flieht vor diesem | |
| musikalischen Schlaftee in Scharen. Immerhin macht der Schneeregen vor der | |
| Tür wieder wach. | |
| ## Wie Magma | |
| Am Samstag stimmt das Programm dann doch noch versöhnlich. Das liegt zum | |
| einen an den Lokalmatadoren Le Groupe Obscur, fünf Künstlern mit | |
| Masterplan, die im großen Veranstaltungszentrum L’Étage auftreten: Sie | |
| inszenieren Rockmusik als geheimnisvolle Show: die fünf KünstlerInnen | |
| tragen große Hüte, Umhänge, Leuchtdioden und venezianische Karnevalsmasken. | |
| Musikalisch erzeugen sie eine schöne Schnittmenge aus Kate Bush, Magma und | |
| den Cocteau Twins, geheimnisvoll wie eine Freimaurerloge. Die 600 Zuschauer | |
| nehmen den Mummenschanz dankbar an. | |
| Richtig klasse sind auch Shelmi aus Paris, die im | |
| Arzneimittelschrank-großen Pilspub Le Wunderbar auftreten. Die drei | |
| Musiker sehen aus, als würden sie eigentlich lieber an der Playstation | |
| weiter zocken als auf der Bühne stehen, die die Ausmaße eines | |
| Duschvorlegers hat: Kolibrifarbene Trainingsjacken, Videowegbringhosen in | |
| XXL und eine verspiegelte Sonnenbrille. Es geht hier schon um mehr als | |
| billo Fun. Die Songtexte auf ihrem im kommenden Jahr erscheinenden | |
| Debütalbum „No Go Zone“ handeln von der Fragmentierung des Alltags, der | |
| Zukunft von 20-Jährigen, deren Vorstellungsvermögen gar nicht ausreicht, um | |
| sich die Zukunft vorzustellen, weil Rassismus, Ausgrenzung und Arbeiten bis | |
| zur Erschöpfung auf der Tagesordnung stehen. | |
| Shelmi betten diese Gedanken in sehr relaxte elektronische Popmusik ein. | |
| Der Schlagzeuger garniert seine Syndrumbeats mit Arabesk-Breaks und der | |
| Sänger streut gerne mal den Autotune-Effekt ein, aber wirkt so, als | |
| bestellt er am Tresen ein isotonisches Getränk. Hier ist Talent, nach dem | |
| man diesmal so gesucht hat und hier ist der Willen, aus der Eintönigkeit | |
| des frühen 21. Jahrhunderts irgendetwas Sinnvolles zu machen. Aber nicht | |
| nur das, Shelmi haben richtige Hits im Portfolio, wie „Waterproof“, passend | |
| zum Schietwetter. | |
| 12 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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| Theodor W. Adorno | |
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