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# taz.de -- „Transmusicales“-Festival in Rennes: Marx, reviens!
> Seit 1979 steigt das Musikfestival „Transmusicales“ im bretonischen
> Rennes. Auch 2019 verzichtet es auf Stars und päppelt lieber Talente auf.
Bild: Die kalifornische Sängerin Claude Fontaine am Samstag in Rennes
Die französischen Fluglotsen bummeln. Aus Solidarität mit den streikenden
Lokführern von TGVs, Regionalzügen und den U-Bahn-Fahrern verzögern sie den
Flugplan. Viele Linienflüge von Paris ins europäische Ausland starten
dadurch erheblich verspätet oder fallen ganz aus. Mit solchen Aktionen wird
gegen eine geplante Rentenform der Regierung Macron protestiert.
Beistand bekommt der [1][Generalstreik] von ganz unten: Zäher Bodennebel
führt zur Annullierung zahlreicher französischer Inlandsflüge. Hunderte
Passagiere sind daher am Donnerstagabend auf dem Pariser Flughafen Charles
de Gaulle gestrandet. Für den Reporter verlängert sich die Anreise zum
Musikfestival Transmusicales im bretonischen Rennes um etliche Stunden.
Spätnachts sitzt er mit anderen Leidtragenden in einem Bus, der mit
zweistündiger Verspätung in die Bretagne fährt.
Zunächst irrt der Busfahrer auf der Suche nach einer Tankstelle mitsamt den
Passagieren noch durch die [2][Peripherie] der Hauptstadt. Die ähnelt einer
verlassenen Goldgräberstadt in einem Spätwestern. Statt Saloon und
Hufschmied reiht sich Fastfoodbude an Möbelhaus. Unter jeder Autobahnbrücke
schlafen Menschen in Zelten.
## Dumbledores Armee
Nach endloser Fahrt ist am frühen Morgen des Freitags das Fahrtziel Rennes
erreicht. Viel zu sehen gibt es nicht, der Nebel hält sich zäh. Die
sogenannte „Dumbledores Armee“ hält die Universität besetzt, an einem
Kreisverkehr lodert ein einsames Protestfeuer. Bankfilialen, Boutiquen und
die Fensterfronten schicker Kaufhäuser sind vorsorglich mit Brettern
vernagelt. Apokalypse now.
Hier steigt die Jubiläumsausgabe des Musikfestivals [3][Transmusicales].
„Rencontres Transmusicales“, wie es vollständig heißt. Begegnungen lassen
sich in Rennes immer machen, nicht nur musikalischer Art. Das Festival
findet ja nicht in einer Parallelwelt statt, jedes Jahr offenbart sich
währenddessen auch der Aggregatzustand der französischen Gesellschaft.
Dieses Jahr hat man den Eindruck, der Alltag ist für viele beschwerlich.
Trotzdem hat die Festivalleitung Anlass, optimistisch zu sein, die
Zuschauerzahlen sind nicht rückläufig, die Eintrittspreise sind moderat.
Bei einem Panel für die internationale Presse verliest Gründerin Béatrice
Macé, die Transmusicales 1979 mit ihrem Lebensgefährten Jean-Louis Brossard
gestartet hat, ein Communiqué. Damals, im Juni vor 40 Jahren, hat das Duo
die Initiative ergriffen und engagierte zwölf Lokalbands, „um den Menschen
den Boden für Begegnungen (französisch: Rencontres) zu bereiten“.
## 87 Künstler:Innen von allen fünf Kontinenten
Für junge Leute ist Rennes damals tote Hose, Konzerte finden kaum statt.
Diesen Zustand hat Transmusicales nachhaltig geändert. Schon Ende der
Achtziger ist das Festival über die Landesgrenzen hinaus als Stomping
Ground für Indiebands und randständige Künstler:innen bekannt. Bis heute
ist Transmusicales drei Maximen verpflichtet: Das Unbekannte entdecken,
Wahlfreiheit und Popmusik als Kunstform ernst nehmen. Transmusicales agiert
wie ein Trüffelschwein und lässt die großen Stars von morgen eher am Anfang
ihrer Karriere spielen. Dieses Jahr gastieren auf dem Festival 87
Künstler:innen aus 50 Ländern von allen Kontinenten. Eine Quote für Frauen
gibt es zwar keine, Künstlerinnen sind aber prominent vertreten.
Eine davon ist Marie-Pierra Kakoma, die ihr Projekt Lous & the Yakuza
nennt. Erst im September hat die Studentin der Philosophie und
Politikwissenschaften ihre Debütsingle [4][„Dilemme“] (bis jetzt mehr als
1,3 Millionen Klicks) veröffentlicht. Die junge Belgierin mit
kongolesischen Wurzeln ist bis dato überhaupt noch nicht live aufgetreten.
Genau wie den belgischen Kollegen Stromae, der seinen Siegeszug auch von
Rennes aus angetreten hat, engagierte Transmusicales nun die 23-Jährige und
ihre vierköpfige Band zu einer Residency: An fünf Tagen hintereinander
entwickelt Lous mit ihrer Band vor Ort eine Liveshow. Den ratternden
Trapbeat von „Dilemme“ übernimmt am Samstag auf der Bühne ein Drummer, der
sachte auf sein Pad einklöppelt. Ein Keyboarder gibt die melancholische
Grundstimmung der Pianotupfer des Songs geschmeidig wieder. Lous,
gertenschlank und großgewachsen, wirkt dank weißem Kleid noch schlanker und
noch größer, wenn sie über die Bühne stakst und sich von zwei Sängerinnen
begleiten lässt, die ihre Stimme flankieren.
Der Saal im ausverkauften Theater „L’air libre“ jubelt nach zwei Songs,
zwar nicht frenetisch, aber die Leute sind doch davon angetan, wie Lous mit
ihren Begleiter:innen zum Gesang synchron tanzt. Als die Brüsselerin das
Publikum zum Kanon auffordert, hat sie leichtes Spiel, bereitwillig stimmt
ein Großteil des Publikums mit ein. In „Dilemme“ singt Lous davon, dass sie
es bevorzugt, allein zu leben, weil ihr die Nähe zu Mitmenschen unangenehm
ist. In Rennes kann sie auf die Solidarität der meisten zählen, das hilft
über ihre noch etwas tapsige Bühnenshow hinweg.
## Wie Audrey Hepburn
Mangelnde Präsenz lässt sich [5][Claude Fontaine] nicht vorwerfen. Die
kalifornische Künstlerin bewegt sich auf der Bühne des Theaters „Ubu“
anmutig, inszeniert sich als ätherisches Wesen: Wie ein Geist schleicht die
junge Frau umher, bedankt sich überschwänglich beim Publikum fürs Kommen
und wirkt ein bisschen wie Audrey Hepburn in der Rolle als Holly Golightly
in „Breakfast at Tiffany’s“.
Fontaine haucht und singt leise, dringt damit dennoch durch, es ist
mucksmäuschenstill im Saal. Fontaines Idee: Sie verwandelt sich Reggae- und
Bossa-Nova-Songs an. Vor allem beim maskulin-geprägten und
testosterongeladenen Rootsreggae gelingt ihr dieser Kulturtransfer prima.
So radikal sanft hat Reggae noch nie geklungen. Zum Gelingen trägt auch
ihre dreiköpfige, schlafwandlerisch versierte Backingband bei: Jeder Lick,
jeder Break sitzt, dazu säuselt Claude Fontaine wie eine Bettfeder.
Aus gutem Grund ist ihr Konzert nachmittags angesetzt, abends in den
riesigen Messehallen des Expo-Geländes, vor den Toren der Stadt, hätte ihr
Sound wohl keine Chance. Bei Beginn der Abendkonzerte um 22 Uhr ist ein
Teil der Zuschauer bereits aufgeheitert. Eher rockigere Bands sollen die
Stimmung auffangen. Der US-Chicano-Band Gilberto Rodriguez y los Intocables
gelingt das nicht. Ihr Latinsound mit spanischen Vocals, Percussion und
Schmetter-Trompete kommt nicht vom Fleck. Bandleader und Sänger Rodriguez
klingt heiser, die Songs schleppen sich im siechenden Midtempo dahin. Wäre
die Band ein Elektroauto, es müsste dringend an die Ladestation
angeschlossen werden.
## Frecher Garagenpunk mit Matte
Das Londoner Frauenquartett [6][Los Bitchos] inkorporiert seine
lateinamerikanischen Sounds besser. Die fünf Künstlerinnen aus Schweden,
Uruguay, England, USA und Neuseeland fusionieren Cumbia mit Garagenpunk und
Frechheit und hauen mächtig auf die Kacke. Die wallenden Mähnen der
Musikerinnen entfachen Wind, bei ihrem Konzert geht das Publikum sofort
mit.
Vor und nach dem Auftritt strapaziert allerdings der französische
YouTube-Star Marc Rebillet die Nerven aller Anwesenden. Zu von ihm am
Laptop aufgelegten Songs rappt er eher bescheiden. Im Festivalprogramm wird
er als „Joker aus Gotham“ angepriesen, hier auf der Bühne markiert er den
seichten Pausenclown. Allgemein gilt die französische Musikindustrie als
insular. Das liegt auch an einer Radioquote, die Airplay für nicht
französischsprachige Künstler:innen erschwert. Ausländischen Künstlern
hilft es aber, wenn sie eine französische Plattenfirma haben. Diese kann
wiederum Steuern sparen, wenn sie junge Talente aus dem In- und Ausland
fördert.
So ist etwa die russische Band Shortparis zu einem Plattenvertrag gekommen.
Ihre Texte sind nur zu einem geringen Teil auf Französisch gesungen, der
bombastische, technoide Synthrock ist auch so verständlich und gewinnt
durch die Theatralik des Vortrags noch an Kontur. Sänger Nikolai Komyagin,
der wie seine vier Mitmusiker aus Sankt Petersburg kommt, macht
Freitagnacht eine akrobatische Bühnenshow, die an Rudolf Nurejew gemahnt.
Schön zu sehen, wie Shortparis nicht dem gängigen Russland-Bild Putins
entspricht.
Auf der Rückfahrt vom Messegelände in die Stadt kommt der Reporter mit
Abigail ins Gespräch, die in Nantes studiert. Auch dort campieren Menschen
im Freien, erzählt sie. Sie haben zwar feste Jobs, können sich ihre
Wohnungen trotzdem nicht mehr leisten. Auf einer verbretterten
Schaufensterfront in der Innenstadt von Rennes hat jemand „[7][Marx],
reviens!“ gesprüht. Der Nebel hat sich verzogen, aber der Generalstreik
wird fortgesetzt.
11 Dec 2019
## LINKS
[1] /Streiks-in-Frankreich-gehen-weiter/!5648116
[2] /Frankreich-auf-Sparkurs/!5452065
[3] /Gelbwesten-Proteste-und-Transmusicales/!5558191
[4] https://www.youtube.com/watch?v=SDyyI2gAKrY
[5] https://www.youtube.com/watch?v=5oYzwUyy_LE
[6] https://www.youtube.com/watch?v=xmSFhTaOfkQ
[7] /Karl-Marx-Ausstellung-in-Trier/!5500676
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Festival Transmusicales
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Stromae
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