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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Frühling, Zeit für Adorno
> Die „Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigtem Leben“ fragt: W…
> es ehrlicher, die Bäume blühten nicht?
Bild: Adorno und der Frühling: „Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Auge…
Es wird Frühling und die bis jetzt noch winterlich vertrockneten Äste vor
meinem Fenster treiben die ersten Knospen hervor, während am einen oder
anderen Zweig noch immer Herbstlaub haftet. Zeit, sich wieder einmal mit
dem genialen Philosophen Theodor W. Adorno zu befassen, der für die
undogmatische Linke in der alten Bundesrepublik eine Art Leuchtturmfunktion
hatte und als dessen bestes Buch noch immer die 1944 in den USA
geschriebenen „Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben“
gelten.
Ja, in diesem Buch äußert sich der Philosoph zur jetzt anbrechenden
Jahreszeit – freilich so, dass ich mich seit meiner ersten Lektüre, 1969,
frage, ob das wirklich stimmen kann. Der fünfte Aphorismus der „Minima
Moralia“ trägt den Titel „Herr Doktor, das ist schön von Euch“ und
konstatiert für das Jahr 1944 – der Zweite Weltkrieg ging seinem Ende
entgegen, die Alliierten sollten in der Normandie landen und die rote Armee
war auf dem Weg nach Ostpreußen: „Es gibt nichts Harmloses mehr.“
Dem ließ Adorno eine Überlegung zum Phänomen des Frühlings folgen: „Noch
der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen
ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie schön
wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist
keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen
geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die
Möglichkeit des Besseren festhält.“
Soll man das wörtlich nehmen? Können Bäume, die noch nicht einmal der
Sprache mächtig sind, lügen? Wäre es ehrlicher, sie blühten nicht? Gewiss:
Adorno geht es um das Auge des Betrachters, der sich durch den Anblick von
Naturschönem nicht über die sachlich angemessene Verzweiflung über den
Zustand der Welt soll ablenken lassen – schon gar nicht, um das eine gegen
das andere aufzuwiegen.
Aber sogar dann fragt sich, ob man sich in solchen Zeiten – in Afrika
drohen heute, ja heute!, 20 Millionen Menschen kläglich und unter Schmerzen
zu verhungern – überhaupt noch, und sei es auch nur minuten- oder
stundenweise, seines Lebens freuen darf. Wäre derlei Freude – etwa über
eine glückende Beziehung, ein schmackhaftes Mahl oder auch nur über
freundliche Sonnenstrahlen – nicht letztlich egoistisch, unsolidarisch und
blind? Adorno scheint einen Ausweg zu weisen: sofern man an der Möglichkeit
besserer Zustände festhält und sich nicht dem Weltlauf in all seinem Grauen
ergibt.
Das aber erfordert strenge Distanz – plötzlich erweist sich Adorno als
klassenbewusster Marxist – zu Umgangsformen und Freuden der heute so
genannten „kleinen Leute“, der – so der SPD Kanzlerkandidat Schulz – �…
arbeitenden Menschen“. Von ihnen – so wiederum Adorno in unüberbietbarer
Radikalität – haben sich zumal Intellektuelle, und sei es um den Preis der
Einsamkeit, fernzuhalten, denn: „Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von
Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des
Unmenschlichen. Einig sein“, so schließt Adorno, „soll man mit dem Leiden
der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer der
Verhärtung des Leidens.“.
Als Adorno diese Zeilen zu Papier brachte, war er gerade 41 Jahre alt.
Aphorismen zu schreiben und zu leben ist freilich zweierlei: Im Februar
1944 schloss Adorno einen Brief an seine in New York lebenden Eltern: „Uns
geht es gut, wir sind gut gelaunt und froh, daß Ihr Euch wohlfühlt …“ Das
war am 28. Februar 1944. In Los Angeles, wo Adorno damals lebte, dürfte
gerade der Frühling begonnen haben.
16 Apr 2017
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Theodor W. Adorno
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Theodor W. Adorno
Antisemitismus
Rechts
Bäume
Frankfurt am Main
Adorno
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