# taz.de -- Volksentscheid zu Berliner Flughafen: Offen für Tegel | |
> Der Pannenflughafen BER könnte bei seiner Eröffnung zu klein sein. Eine | |
> ungewöhnliche Koalition macht deshalb für den Stadtflughafen Tegel mobil. | |
Bild: Womöglich darf Tegel gar nicht weiterbetrieben werden, weil der Flughafe… | |
BERLIN taz | Am Haupteingang des Flughafens Berlin-Tegel, gleich neben | |
einem zur Wurstbude umgebauten S-Bahn-Waggon, liegt ein Mann bäuchlings auf | |
dem Boden. Jacke, Mütze und Brille weisen die bronzene Figur als | |
Sportpiloten früherer Tage aus, an den Armen aber trägt er Flügel aus | |
Vogelfedern. Die Skulptur verbindet die Ikarus-Sage mit dem Namenspatron | |
des Flughafens, Otto Lilienthal, der bei einem Flugexperiment starb, und es | |
dürfte weltweit keinen zweiten Airport geben, der seine Gäste mit dem | |
Sinnbild eines tödlichen Absturzes empfängt. | |
Über fünf Jahre ist es nun her, dass Berlin-Tegel kontrolliert zu Boden | |
gebracht werden sollte. Dann aber platzte – mehrfach hintereinander – die | |
Eröffnung des planerisch komplett verkorksten Großflughafens BER vor den | |
Toren der Hauptstadt und nichts war mehr wie geplant. Tegel machte weiter | |
und wuchs dabei und wurde unverhofft zum Liebling vieler BerlinerInnen, die | |
sich auf einmal ein Leben ohne TXL – so das internationale Kürzel – nicht | |
mehr vorstellen können. Am 24. September werden sie bei einem parallel zur | |
Bundestagswahl durchgeführten Volksentscheid ihr Kreuzchen bei „Ja“ machen: | |
„Ja“ zum „dauerhaften Fortbetrieb“ des letzten Flughafens auf Berliner | |
Boden. | |
Bis vor Kurzem sah es so aus, als würden die Tegel-Fans die Abstimmung mit | |
einem Erdrutschsieg gewinnen. Rund 70 Prozent Zustimmung attestierten die | |
Meinungsforscher von Infratest dimap dem Volksentscheid noch im Juni, | |
seitdem jedoch sinken die Zahlen kontinuierlich. Ein Grund dafür ist, dass | |
die Pro-Tegel-Kampagne von Anfang an eine FDP-Kampagne war, auf die später | |
nicht nur die Berliner CDU, sondern auch die AfD aufsattelten. Ein „Ja“ zu | |
Tegel ist für deren WählerInnen vor allem auch ein rechtes „Nein“ zur | |
rot-rot-grünen Landesregierung des Regierenden Bürgermeisters Michael | |
Müller (SPD). Das ruft Solidarisierungsreflexe im linken Lager hervor. | |
Hinzu kommen die zahllosen Argumente, die gegen einen Weiterbetrieb des | |
Flughafens sprechen, dessen Genehmigung mitten im Stadtgebiet einst nur | |
unter Alliiertenrecht möglich war. Ob der Weiterbetrieb von TXL rechtlich | |
überhaupt möglich wäre, darüber streiten sich Juristen – abgestimmt wird | |
deshalb auch nur über einen Appell an die Landesregierung. Dann ist da der | |
Fluglärm mit seinen negativen gesundheitlichen Effekten für bis zu 300.000 | |
Menschen in den Berliner Bezirken Mitte, Pankow, Reinickendorf und Spandau. | |
Die Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg, die die Airports Tegel und | |
Schönefeld betreibt und den BER baut, warnt vor gewaltigen Kosten neuer | |
Lärmschutzmaßnahmen: Mehrere hundert Millionen Euro würden dafür fällig. | |
Andere Experten reden von 1 bis 2 Milliarden. | |
Und schließlich ist die Fläche am nordwestlichen Rand der Berliner | |
Innenstadt längst verplant: 5.000 Wohnungen, ein Hightech-Gewerbegebiet | |
samt Technik-Hochschule, und große Erholungsflächen sollen hier entstehen. | |
## „Extrem praktisch organisiert“ | |
Was macht Tegel dann so attraktiv für so viele Menschen? Die Pro-Tegelianer | |
sind bei weitem nicht alles Provokateure wie jene, die sich in den | |
Kommentaren der Facebook-Seite „Berlin braucht Tegel“ austoben: Ein | |
gewisser „Frank Humphrey“ fordert da, man möge Michael Müller für seine | |
„arrogante Politik im Stil eines Sonnenkönigs Ludwig IV“ und seine | |
„kriminellen Mitstreiter von Grüne und Linke“ in einem Erweiterungsbau des | |
BER „für alle Ewigkeit einbetonieren“. | |
Nein, es gibt auch konstruktive Stimmen wie die von Julia Weyhe*. Die | |
Privatdozentin will für den Erhalt von TXL stimmen, trotz aller | |
juristischen Unwägbarkeiten und obwohl sie sich damit „politisch in richtig | |
schlechter Gesellschaft befindet“, wie sie selbst sagt. „Weil Tegel ein | |
extrem praktisch organisierter Flughafen ist“, sagt Weyhe. Sie reist oft | |
für Kurzaufenthalte an andere europäische Universitätsstandorte und freut | |
sich jedes Mal darüber, wie schnell sie es vom Taxi in den Flieger schafft. | |
Auch ihre alten Eltern könnten dank der baulichen Vorzüge von Tegel noch | |
Flugreisen unternehmen. | |
In der Tat: Kürzere Wege als im Hauptterminal von Berlin-Tegel gibt es | |
praktisch nirgends, jedenfalls nicht in Flughäfen, die mehr als 20 | |
Millionen Passagiere im Jahr abfertigen. Während man sich in den | |
Luftverkehrshubs von Frankfurt, Paris, London und Madrid die Sohlen ab- | |
oder sich komplett verläuft und man auch in kleineren Airports wie der | |
britischen Ryanair-Basis Stansted vor dem Boarding einen Shopping-Parcours | |
durchlaufen muss wie in einem Ikea-Kaufhaus, steigt man im Inneren des | |
TXL-Hexagons aus dem Auto und hat – von den Kontrollen abgesehen – nur noch | |
20 Meter bis zum Flugsteig vor sich. Und wer keine Lust hat, vor dem | |
Abheben Parfüms oder Pralinen zu erwerben, den zwingt auch niemand, | |
irgendeinen Laden zu durchschreiten. | |
Das macht Tegel so sympathisch: Zumindest die ursprünglichen, vom | |
Architekten Meinhard von Gerkan als Zusammenspiel von Sechsecken, | |
Parallelogrammen und Dreiecken entworfene Flughafengebäude – später kamen | |
mehrere Erweiterungshallen hinzu – verfolgen dieselben Ziele wie die | |
Fluggäste selbst: maximal effizientes Abfliegen. Diese | |
Interessengemeinschaft ist heute längst aufgebrochen. Weil sich für die | |
meisten Flughäfen der reine Flugbetrieb nicht rentiert, bauen sie | |
weitläufige Konsumtempel mit Luftanschluss. | |
Für Julia Weyhe ist das aber nicht das einzige Grund: „Es ist doch ein | |
Irrsinn, wenn das Land Berlin, das kein Großprojekt gestemmt kriegt, | |
einfach einen funktionierenden Flughafen schließt“, sagt sie. „Es ist doch | |
völlig klar, dass der BER zu klein ist, wenn er denn einmal aufmacht.“ Um | |
diesen Aspekt – die unzureichende Kapazität des kommenden „Single-Airports… | |
– dreht sich die gesamte Argumentation von FDP und CDU, die ungern zugeben, | |
dass ein „Ja“ für Tegel auch nur ein politischer Denkzettel für den Senat | |
oder ein Ausdruck von Sehnsucht nach alten Westberliner Zeiten sein könnte. | |
„Das hat nichts mit Nostalgie zu tun“, sagt Stefan Evers, der | |
Generalsekretär der Hauptstadt-CDU, zur taz. „Ich sehe einfach nicht mehr, | |
wie das Kapazitätsproblem ohne den Weiterbetrieb von Tegel gelöst werden | |
soll. Wenn Tegel geschlossen wird und ein zu klein geplanter BER | |
kollabiert, droht Berlin ein gewaltiger wirtschaftlicher Schaden.“ | |
## Mieten versus Lärmschutz | |
Evers befindet sich zurzeit in einer unbequemen Position: Seine Parteibasis | |
hat bei einer von ihm anberaumten Mitgliederbefragung Anfang Juli mit 83 | |
Prozent für den Erhalt von Tegel gestimmt und damit die Richtung vorgeben. | |
Seitdem legen allerdings nicht nur die Gegner argumentativ nach, auch aus | |
den eigenen Reihen kommt Gegenwind: Die Bundeskanzlerin, | |
Bundestagsabgeordnete und Bezirksbürgermeister haben zu erkennen gegeben, | |
dass sie nichts von einem Weiterbetrieb halten. Evers selbst hatte ja noch | |
bis vor einem Jahr die Schließung von Tegel wortreich verteidigt – bis zum | |
Ende der rot-schwarzen Koalition in Berlin. | |
Und was sagen die Tegel-Fans den Menschen, über deren Wohnungen und Gärten, | |
Klassenzimmer und Seniorenheime die Flugzeuge hinwegdonnern? Die gerade im | |
jungen Ortsteil Pankow Wohnungen und Häuser für ihre Familien gekauft | |
haben? Für die das 2007 verschärfte Fluglärmschutzgesetz nicht greift, weil | |
für das Auslaufmodell Tegel extra eine Ausnahme eingebaut wurde? „Für die | |
Lärmbetroffenen müssen unverzüglich Schutzmaßnahmen ergriffen werden“, | |
konstatiert Stefan Evers, „das darf sich nicht über Jahre hinziehen wie am | |
BER.“ Auch Julia Weyhe ist der Meinung, dass sich die Anwohner satte | |
Entschädigungen für den missachteten Vertrauensschutz verdient hätten. | |
Sebastian Rahn ist FDP-Mitglied und wohnt selbst in der Einflugsschneise | |
von TXL – im westlichsten Berliner Bezirk Spandau. Rahn kämpft an | |
Straßenständen für seine Partei und für Tegel und hat damit überhaupt kein | |
Problem, wie er sagt. „Klar, ich habe Kollegen auf Arbeit, die sagen, du | |
spinnst, das Ding gehört zugemacht.“ Er selbst habe sich aber längst an den | |
Lärm gewöhnt, und er schätze Tegel wegen der kurzen Anfahrt. Und außerdem: | |
„Das hat man ja auch schon gehört, dass rundherum die Immobilienpreise | |
steigen, weil der Flughafen schließen soll.“ | |
Für einen Liberalen ein ungewohntes Argument, aber es wird von vielen in | |
die Debatte geworfen: Die Lärmkulisse des Flughafens verhindere die | |
Gentrifizierung der angrenzenden Ortsteile. So einfach abtun lässt sich das | |
nicht: Der Arme-Leute-Bezirk Neukölln erlebt seit Jahren einen Boom – | |
Startschuss war die Schließung des zweiten innerstädtischen Airports, | |
Tempelhof, gleich nebenan. Aber kann es das Ziel von Politik sein, die | |
Lebensbedingungen von Menschen künstlich schlecht zu halten, damit ihre | |
Mieten nicht steigen? Das Bezirksparlament von Berlin-Reinickendorf hat | |
mittlerweile, auf Betreiben der Linken hin, auf diese Ängste reagiert und | |
die Einrichtung von Milieuschutzgebieten im Bezirk gefordert. | |
Am 24. September wird sich zeigen, ob die Kampagne eine Bauchlandung macht | |
– wie der Ikarus-Lilienthal von Tegel. | |
* Name geändert | |
16 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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