# taz.de -- Kommentar Flugverkehr und Klimapolitik: Ein Tegel braucht kein Mens… | |
> Der Philosoph Hans Joas hoffte, dass ökologische Ideen ins | |
> selbstverantwortliche Handeln einfließen. Das Gegenteil davon ist der | |
> Tegel-Volksentscheid. | |
Bild: Zukunft? Ist für Tegel noch offen | |
Was ein Moralist ist? Jemand, der glaubt, dass die Menschen ihr Sein und | |
Handeln selbstverantwortlich nach moralischen Prinzipien gestalten können | |
und auch gestalten. Das versteht man zumindest im alltäglichen | |
Sprachgebrauch darunter. Der Philosoph Hans Jonas hoffte in den siebziger | |
Jahren des letzten Jahrhunderts noch, dass auch ökologische Ideen ins | |
selbstverantwortliche Handeln einfließen. Seine Aufforderung, sich so zu | |
verhalten, dass die Wirkungen eigenen Handelns „verträglich sind mit der | |
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, mag sofort einsichtig | |
erscheinen. Doch wie oft scheitert diese Aufforderung an Urlaubsplänen, an | |
Grillgelüsten oder dem nächsten Autohaus. | |
So sind mittlerweile auch die letzten Moralisten unter den Ökologen und | |
Klimaforschern skeptisch, dass individuelles Handeln die global zunehmende | |
Klimaerwärmung zu berücksichtigen imstande ist, wenn es Einschränkung und | |
Verzicht bedeutet oder unbequem ist. Zu mächtig sind die Systemzwänge und | |
Attraktionen der spätmodernen „Spektakelgesellschaft“, ein Begriff, den der | |
Künstler und Revolutionär Guy Debord verwendete. Der homo consumenssaugt | |
die Angebote der kapitalistischen Warenindustrie gierig auf: vom SUV über | |
den Coffee to go und Smartphone-Innovationen bis hin zu Pauschalreisen. | |
Einfach anklicken. | |
Deswegen ist es wichtig, die Politik so auszurichten, dass sich sowohl ein | |
Umdenken ereignen kann (wie beispielsweise in Bezug auf die Atomenergie), | |
als auch ein gesetzlicher Rahmen geschaffen wird, der umweltzerstörerisches | |
Handeln minimiert, sei es durch Verbote oder Anreizsysteme (wie etwa die | |
Förderung von Photovoltaikanlagen). Denn ein kollektiver | |
Bewusstseinswandel, der das technisch-instrumentelle Denken infrage stellt, | |
ist derzeit leider nicht in Sicht. | |
Angesichts der Klimaerwärmung ist es also die Aufgabe der Politik, den | |
Einzelnen von seiner moralischen Überforderung zu entlasten; vor allem | |
dann, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch in anthropologischer Hinsicht | |
bequeme Verhaltensoptionen vorzieht und aufgrund des hohen Anpassungsdrucks | |
bereit ist, dem aktuellen Mainstream zu folgen. Gegenwärtig ist das die | |
konsumistische Lebensweise. | |
Ein Lehrstück, wie Politik nicht sein sollte, ist in dieser Hinsicht der | |
von der Berliner FDP initiierte [1][Volksentscheid zur Offenhaltung des | |
Flughafens Tegel]. Anstatt bundespolitischer Themen wie Krieg und Frieden, | |
Wirtschaftsgerechtigkeit, die EU oder Migration ist in Berlin die | |
Flughafen-Debatte das Wahlkampfthema Nummer eins. Eine FDP-Wahlkampagne | |
ist es, die den Freidemokraten Stimmen sichern soll. Die FDPler ignorieren | |
nicht nur das notwendige klimapolitische Umdenken, sondern sie ignorieren | |
auch, was im Sinne Jonas’ die Aufgabe der Politik ist, nämlich „die | |
Permanenz menschlichen Lebens“ und anderer Lebewesen zu bewahren. | |
Das Engagement für einen veralteten innerstädtischen Flughafen steht für | |
Rückwärtsgewandtheit und Verantwortungslosigkeit. Der Volksentscheid, als | |
Appell formuliert, triggert vor allem Emotionen nostalgischer Westberliner | |
an, anstatt ihre Herzen [2][für einen „Zukunftsstandort“ zu öffnen], der | |
nach der Schließung des Flughafens dort entstehen soll: mit 9.000 | |
Wohnungen, einem Landschaftsraum, einem Wissenschafts- und | |
Technologiezentrum, alles in der Nähe des Tegeler Sees. | |
## Das umweltschädlichste Verkehrsmittel | |
Vielleicht mag es zunächst so scheinen, dass es beim Volksentscheid nicht | |
um Ökologie geht: Ist doch egal, von welchem Flughafen man abhebt, welcher | |
Lebensraum beschallt wird und wo Menschen leiden. Aber sich wie die | |
Berliner FDP, AfD und CDU für einen maroden Flughafen einzusetzen, der | |
300.000 Menschen – also eine ganze Stadt in der Größe von Augsburg, | |
Bielefeld, Karlsruhe – jeden Tag dem krank machenden Lärm aussetzt, dabei | |
ständig von steigenden Fluggastzahlen zu sprechen und so die Attraktivität | |
Berlins für die Tourismusbranche anzupreisen – das ist genau das Gegenteil | |
einer ambitionierten Klimapolitik. Genau diese fordern viele Klimaforscher | |
und Politiker, um den globalen Temperaturanstieg bis 2100 auf maximal 2 | |
Grad Celsius zu beschränken. | |
Wer seine Politik an Prognosen ausrichtet, die vom ungebremsten Wachstum | |
des Flugverkehrs ausgehen, scheint an einer nachhaltigen Verkehrspolitik | |
für ein „zukunftsfähiges Deutschland“, von dem der Bund für Umwelt und | |
Naturschutz (BUND) immer wieder spricht, nicht interessiert zu sein. Denn | |
Flugzeuge sind wegen ihrer Lärm- und Klimabelastung das umweltschädlichste | |
Verkehrsmittel. Der Flugverkehr verursacht mindestens 5 Prozent der | |
weltweiten CO2-Emissionen. Tendenz: rasant steigend. | |
In Berlin und Brandenburg machen die klimaschädlichen Emissionen des | |
Flugverkehrs über 60 Prozent der gesamten Verkehrsemissionen aus. Ein Flug | |
von Berlin nach New York und zurück belastet mit über drei Tonnen | |
Kohlendioxid das Klima so stark wie zwei Jahre Autofahren. Mit einer | |
solchen Flugreise hat man nach dem Modell des ökologischen Fußabdrucks sein | |
Jahreskontingent an CO2mehr als verbraucht. Viele solcher Fakten kann man | |
im aktuellen BUND-Luftverkehrskonzept für die Hauptstadtregion nachlesen, | |
das der emotionalisierten Tegel-Debatte ein rational-kritisches Fundament | |
gibt. | |
Vor einem Jahr erfuhr der Grünen-Abgeordnete Harald Moritz auf seine | |
Kleine Anfrage, dass am Flughafen Tegel täglich 1.375.000 Liter Kerosin | |
vertankt werden, um vor allem Billigflugreisenden ihre Pauschalreise-Träume | |
zu ermöglichen. Billigflieger treiben Berlins Fluggastzahlen nach oben, | |
fast 40 Prozent der Fluggäste entfallen auf sie. Würde Kerosin mit der | |
Mineralölsteuer, wie sie für Diesel gilt, besteuert, also etwa mit 50 Cent | |
pro Liter, nähme der Fiskus vom Flughafen Tegel täglich 650.000 Euro ein, | |
rechnet Moritz vor. Laut Greenpeace machen die Steuerbefreiungen fürs | |
Fliegen deutschlandweit mehr als 10 Milliarden aus. Weder wird | |
Energiesteuer auf Flugbenzin noch Mehrwertsteuer auf internationale Flüge | |
erhoben. | |
## Große Chance für verdrängte Themen | |
Wenn sich der Flugverkehr nicht reduziert, können Städte mit Flughäfen ihre | |
Klimaziele unmöglich erreichen. Dabei wird gerade die Klimapolitik | |
wachsender Großstädte immer wichtiger, weswegen sich deren Bürgermeister zu | |
einer Klimakoalition „nachhaltiger Städte“ zusammenschließen. | |
Falls die Bürgerinnen und Bürger am 24. September in Berlin für die | |
juristisch und ökonomisch mehr als fragwürdige Offenhaltung des Flughafens | |
Tegel stimmen, wird damit eine Regierungspolitik unter Druck gesetzt, der | |
man noch ein Jahr zuvor die verkehrspolitische Gestaltung Berlins | |
überantwortet hat – mit einem Wahlprogramm, das die Schließung des | |
Flughafens beinhaltete. | |
Die Flughafen-Abstimmung zeigt zum einen, dass man eine parlamentarische | |
Demokratie mittels direkter Demokratie ad absurdum führen kann. Zum anderen | |
aber demonstriert sie, wie aktuell die Frage ist, die der verzweifelte | |
Jorgen Randers im jüngsten Club-of-Rome-Bericht stellte, nämlich ob die | |
kapitalistischen Demokratien in der Lage sein werden, Antworten auf die | |
bedrängenden ökologischen Fragen zu geben. Deswegen bietet die | |
Flughafen-Debatte eine große Chance, über verdrängte Themen zu sprechen: | |
über Fluglärm und die desaströsen Auswirkungen der Vielfliegerei für das | |
globale Klima. | |
9 Sep 2017 | |
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## AUTOREN | |
Nils B. Schulz | |
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