# taz.de -- Verbrechen des Nationalsozialismus: Wo man gestorben wurde | |
> Im Nachkriegsdrama „Ich werde nicht schweigen“ kommt eine Frau zu Unrecht | |
> in eine „Heil- und Pflegeanstalt“ – und kämpft um Rehabilitierung. | |
Bild: Margaretes (Nadja Uhl) Vormund, der alte Nazi Windhorst (Martin Wuttke), … | |
In dem niederrheinischen Ort, an dem ich zur Schule gegangen bin, gab es | |
während des Kriegs eine „Heil- und Pflegeanstalt“ mit | |
„Kinderfachabteilung“, in der zwischen 1941 und 1943 behinderte Kinder | |
ermordet wurden. Das war kein Geheimnis, die Lehrer haben uns davon | |
erzählt. Es hat dann immerhin bis 2011 gedauert, bis einer ein Buch über | |
diese „Kinderfachabteilung“ geschrieben hat, von denen es in | |
Hitlerdeutschland mehr als 30 gab. | |
Man kann also nicht sagen, dass das Thema tabuisiert wurde. Man kann aber | |
auch nicht sagen, dass die von den Nazis so genannte „Euthanasie“ ähnlich | |
interessiert hätte oder aufgearbeitet worden wäre wie der Holocaust. Das | |
scheint sich erst jetzt zu ändern. | |
Etwa mit dem Film „Ich werde nicht schweigen“ von Esther Gronenborn. Es | |
handelt sich um einen prominent besetzten Spielfilm mit Heldin in | |
dramatischer Handlung, er wird von Arte zur 20.15-Uhr-Primetime gezeigt. | |
Die konventionelle Machart soll offenbar die Erwartungshaltung eines | |
möglichst großen Fernsehpublikums bedienen. Aufklärung über die Verbrechen | |
des Nationalsozialismus und subtile Filmkunst, das geht eben nicht | |
zusammen. Irgendwie so müssen sich das die zuständigen ZDF-Redakteure | |
gedacht haben. Sie haben natürlich völlig falsch gedacht – siehe zum | |
Beispiel Christian Petzolds „Phoenix“. | |
Es ist nicht alles schlecht an dem Film. Einiges gelingt tatsächlich sogar | |
sehr gut. Zum Beispiel diese grauen, nicht nur äußerlich früh vergreisten | |
Menschen, die das Land 1948 bevölkern. Da ist dieser kriegsversehrte | |
Nachbar mit SS-Vergangenheit, gespielt vom Theatersuperstar und | |
Ex-„Tatort“-Kommissar Martin Wuttke. Der ist auf eine Weise unangenehm, | |
dass man sein Altmännermüffeln aus dem Fernseher riechen zu können meint. | |
Und in dieses Setting schickt die Filmemacherzeitmaschine nun als Heldin | |
eine durch und durch heutige, selbstbestimmte, moderne Frau (Nadja Uhl, | |
„Sommer vorm Balkon“), die ihrer Zeit also um Generationen voraus ist; die | |
deshalb als Einzige nichts unter den Teppich zu kehren hat; die deshalb | |
eine Gefahr darstellt; die deshalb wegmuss. | |
Es soll die wahre Geschichte von Esther Gronenborns Großmutter sein. | |
## Ein Jahr Leid, drei Minuten im Film | |
Durch eine üble Intrige landet die bis dahin noch völlig gesunde Heldin für | |
ein Jahr in der „Heil- und Pflegeanstalt“ im norddeutschen Wehnen. | |
Diagnose: Schizophrenie. Behandlung: Elektroschocktherapie, das ganze | |
Programm. Im Film dauert dieses Jahr keine drei Minuten. Die Heldin ist | |
danach traumatisiert, aber nicht gebrochen. „Sei froh, dass du noch da | |
bist“, sagen sie ihr: „Unter Hitler wärst du nicht rausgekommen!“ Sie ab… | |
will die volle Rehabilitierung, schwarz auf weiß: dass sie nicht etwa | |
geheilt ist, sondern dass die Diagnose falsch war. | |
So zufällig wie in einem ganz schlechten Krimi verirrt sie sich auf dem | |
Gelände der „Heil- und Pflegeanstalt“ ausgerechnet in den Raum, in dem | |
genau die Akten abgelegt sind, die genau das Geheimnis bergen, das die | |
Heldin nicht entdecken sollte, weswegen sie ja in genau die Anstalt | |
gesteckt worden war, in der genau das passiert war, was sie nicht | |
herausfinden durfte . . . „Wo die Leute hier jeden Tag gestorben worden | |
sind“, wie ein Pfleger das nennt. Leute, die im Verlauf des Films auch | |
„Tiermenschen“, „Halbwesen“, „Volksschädlinge“ genannt werden. | |
Am Ende kommt es zum verbalen Schlagabtausch, zum großen Showdown mit dem | |
alten und neuen Leiter des Gesundheitsamtes (Rudolf Kowalski). Der | |
Intrigant lässt die Maske fallen: „Das einmal infizierte Blut einer Rasse | |
wird von Generation zu Generation durchseuchter, kränker, todbringender. | |
Wollen Sie in einer Welt leben, in der Ihre Kinder mit Krüppeln und Kretins | |
dieselbe Schule besuchen?“ | |
Sie sagt es nicht, aber man würde sich auch nicht wundern, wenn der | |
übermodernen Heldin der Begriff „Inklusion“ bereits geläufig wäre. | |
8 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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