| # taz.de -- Ausstellung zur Zeitschrift „Sibylle“: Kultivierte Randständig… | |
| > In Rüsselsheim hat die Schau „Sibylle – die Fotografen“ eröffnet. Die | |
| > Zeitschrift war viel mehr als eine alltags-praktische Frauenzeitschrift. | |
| Bild: Inszenierte Wirklichkeit: Die Zeitschrift „Sibylle“ zeigte modischen … | |
| Was für ein Flair! Gleich auf der ersten Doppelseite. Da fotografiert | |
| Günter Rössler 1967 zwei schlanke junge Frauen, die lässig in kurzen | |
| Kleidchen mit Hahnentrittmuster durch ein Straßencafé schlendern, in dem | |
| gut angezogene, attraktive Männer auffallen. Dann kommt das | |
| Inhaltsverzeichnis, und danach rahmt Arno Fischer 1963 das Mädchen im | |
| Plisseerock mit einer Bande cooler Motorradtypen in schwarzen Lederjacken | |
| und Schmalzlocken à la Elvis Presley ein. | |
| So viel schicken Nachkriegsglamour in Großformat, so viel pure Fotografie | |
| in Form des scheinbar dokumentarischen Schnappschusses zeigt das | |
| Begleitbuch zur Sibylle-Ausstellung, die jetzt nach Rostock in den | |
| Opelvillen in Rüsselsheim Station macht, auf den nachfolgenden Seiten nicht | |
| mehr. Da konzentrieren sich seine Herausgeber, die langjährige Fotografin | |
| der Zeitschrift, Ute Mahler, und Uwe Neumann von der Kunsthalle Rostock | |
| sowie die Autoren Andreas Krase, Ulrich Ptak sowie taz-Redakteurin Anja | |
| Maier und taz-Autor Thomas Winkler, auf das Gesamtkonzept der Zeitschrift, | |
| die alles andere war als eine alltagspraktische Frauenzeitschrift im | |
| Sozialismus. | |
| Denn nur so versteht man, wie die Zeitschrift, die alle zwei Monate in | |
| einer stets im Nu vergriffenen Auflage von 200.000 Exemplaren erschien, | |
| Mode und Lifestyle als kulturelle Selbstverständlichkeit der DDR behaupten | |
| konnte. Das Erfolgsrezept war die paradoxe Verschmelzung von Mode und | |
| Realismus, von Modeinszenierung und fotografischer Alltagsbeobachtung. Das | |
| gelang gerade dort, wo im Alltag weder von weltläufigem, urbanen Schick | |
| noch einer rebellischen Jugend die Rede sein konnte − der Realismus der | |
| fotografisch-dokumentarischen Erzählweise deckte die Behauptung. Dass sie | |
| in Wirklichkeit inszeniert war, stellte weniger ein Problem dar als | |
| Situationen, in denen die Fotografie die Realität, so wie sie war, | |
| widerspiegelte. | |
| Dann trat das Zentralkomitee auf den Plan und rügte die Mauern im | |
| Hintergrund, von denen der Putz bröckelte und aus denen eine | |
| „pessimistische Haltung“ sprach, wie es Thomas Winkler in seinem Beitrag | |
| zitiert. Die Sibylle sei, als Nischenprodukt wahrgenommen, relativ wenig | |
| reglementiert worden. Dabei brauchte es gar nicht die Partei, um zu | |
| verstehen, wie riskant es war, in die Wirklichkeit der „Industriestadt | |
| Bitterfeld“ hinauszugehen. In Zuschriften zur gleichnamigen Fotostrecke | |
| beklagten die Leserinnen, man könne doch in Bitterfeld gar kein schönes | |
| Kleid tragen, weil es „gleich mit dem Dreck aus unseren Schornsteinen | |
| berieselt“ werde. Das brachte die Fotografen schnell wieder in die | |
| Friedrichstraße zurück. | |
| ## Sibylle-Gründerin wurde Opfer der Nürnberger Rassegesetze | |
| Zumal Ostberlin Ende der 1960er Jahre als Hauptstadt der DDR modernisiert | |
| und fotogen wurde. Vor den neuen Plattenbauten ließen sich grandiose | |
| Modestrecken inszenieren. Die Neubauten waren das architektonische Echo auf | |
| die Gestaltung der Sibylle, die sehr deutlich am Modernismus des Schweizer | |
| Designs orientiert war. Axel Bertram verantwortete sie, einer der | |
| einflussreichsten deutschen Gebrauchsgrafiker der Nachkriegszeit. Die von | |
| ihm entwickelte Sans Serif Nr. 1 für die Überschriften, kombiniert mit | |
| Adrian Frutigers Univers, ergaben ein schnörkelloses, klares, zugleich | |
| freundliches und zugewandtes Erscheinungsbild der Sibylle. | |
| Nicht nur dort war die Sibylle, überspitzt formuliert, ein Produkt | |
| systemfremder Einflüsse. Durch die Schule mondäner Weltläufigkeit, wenn | |
| auch nicht freiwillig, war etwa Sibylle Boden-Gerstner gegangen, auf deren | |
| Antrag die Gründung der Zeitschrift 1956 erfolgte. 1920 als Tochter eines | |
| jüdischen Pelzhändlers in Breslau geboren, wird sie ein Opfer der | |
| Nürnberger Rassegesetze, erst 1940, illegal nach Paris gelangt, kann sie | |
| dort ihr Kunststudium fortsetzen. Nach dem Krieg bewirbt sie sich als | |
| Kostümbildnerin bei der Defa. Als solche arbeitet sie wieder, als sie | |
| Anfang der 1960er Jahre ihres Postens als stellvertretende Chefredakteurin | |
| wieder enthoben wird. Nach Meinung der Genossen war die Sibylle „zu | |
| französisch“. | |
| Also ihnen verdächtig: Statt vom Institut für Publizistik und | |
| Zeitungswissenschaft der Karl-Marx-Universität in Leipzig kamen die | |
| Moderedakteur*innen aus dem Bereich der Schneiderei und der Modegestaltung. | |
| Für die Kreativen war die Sibylle ein Magnet. Konkurrenzlos konnte die | |
| Zeitschrift jeden begabten Fotografen für sich gewinnen. Wo sonst hätten er | |
| oder sie ihre Bildideen so ungehindert vom üblichen Gremienwesen | |
| formulieren können? Dass sich die schönen Mädchen der Sibylle nicht | |
| verweigerten, versteht sich von selbst. Gerade sie, die Models, die | |
| ehemaligen Offsetdruckerinnen, Krankenschwestern und Verkäuferinnen, | |
| entsprachen dem von der Sibylle als Leserin imaginierten Typus der | |
| emanzipierten, selbstbewussten Frau. | |
| Sie kommen am Ende des Ausstellungbands zu Wort, etwa Aelrun Goette, | |
| freiberufliches oder in DDR-Sprachregelung „unständig beschäftigtes“ | |
| Sibylle-Model der 1980er Jahre. Sie erzählt, wie sie „nach dem | |
| stromlinienförmigen, sozialistischen Alltag, gegen den ich früh rebelliert | |
| hatte, plötzlich das Abenteuer der Modewelt“ entdeckte. Wo die Shootings | |
| oft „Partycharakter“, wie sie richtig bemerkt, und „etwas mit Kunst zu tu… | |
| hatten. Auch deshalb, weil es nie ums Verkaufen hoher Stückzahlen ging, | |
| trotz all des Aufwands, der hinsichtlich der Kleider oder der Locations | |
| betrieben wurde. | |
| ## Nicht von dieser Welt | |
| Auch wenn sich die Sibylle um eine gewisse Bodenständigkeit sogar bemühte, | |
| war sie in vielerlei Hinsicht nicht von dieser Welt. So waren | |
| Schriftstellerinnen wie Anna Seghers, Monika Maron und Christa Wolf, | |
| Schauspielerinnen wie Angelica Domröse, Corinna Harfouch und Katharina | |
| Thalbach in großbürgerlich anmutenden Interieurs gegenüber der normalen | |
| Angestellten und Arbeiterin deutlich überrepräsentiert, deren Alltag mit | |
| Versammlungen, Werkskluft und Aufmärschen erst gar nicht vorkam. | |
| Stattdessen gab es Zirkuszelte und Ostseebäder und etwas im Sozialismus | |
| ganz und gar nicht Erlaubtes: Melancholie. Sibylle-Leserin Anja Maier | |
| beschreibt das als berauschende Erfahrung von „kultivierter | |
| Randständigkeit“ und „Versonnenheit“. Daran mangelte es gewaltig im Oste… | |
| Dass das Gleiche für den Westen gilt und besonders für die dortigen Mode- | |
| oder Frauenzeitschriften, lernte sie später. Verständlich, dass keine von | |
| ihnen sie im wiedervereinigten Deutschland überzeugte. | |
| 29 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
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