# taz.de -- Theater auf dem Dorf: Geprobt wird im Kuhstall | |
> Seit zehn Jahren bespielen Thomas Matschoß und Anja Imig einen Hof in | |
> Wettenbostel – mit selbst geschriebenen Dramen von ernst bis albern | |
Bild: Der schönste Tag ist, wenn im Theater das Wetter mitspielt | |
Raus aufs Land, hinein ins Retro-Glück analogen Daseins. Mitten in der | |
Lüneburger Heide, Landkreis Uelzen, Wettenbostel. Äußerste Schwarte des | |
Hamburger Speckgürtels. 1295 gegründet, so lautet die Inschrift eines | |
Monsterkieselsteins an der Haltestelle des Busses, der dort für die rund 50 | |
Bewohner allerdings nur auf telefonische Voranmeldung hält. | |
Aber im Sommer ist Schluss mit der dörflichen Ruhe. Seit zehn Jahren nutzt | |
das „Jahrmarkttheater“ den idyllischen Hof von Ergotherapeutin Maria Krewet | |
als Freilichtbühne. Da muss dann die Freiwillige Feuerwehr anreisen und die | |
Autos von 250 Besuchern auf eine abgesperrte Wiese lenken. Sie strömen | |
schon eine Stunde vor Aufführungsbeginn mit Picknickdecke und -korb aufs | |
Festivalgelände. Käse- und Vorspeisenplatten werden arrangiert, Weine | |
verköstigt. Manchmal ist auch nur eine Dose mit Erdnüssen, ein Glas mit | |
Oliven, eine Tupperdose mit Kuchenresten oder Schwarzbrotstullen geöffnet. | |
Als Dessert und Verdauungsspaziergang in einem funktioniert dann das | |
Theater. | |
## Picknicktheater | |
Jeder Besucher bekommt mit der Eintrittskarte einen Klappstuhl, mit dem von | |
Spielort zu Spielort gewandert werden kann. Bei kurzfristigen | |
Regenstörungen wird einfach zur Strohballenbühne der Reithalle | |
weitergezogen. Zwischendurch wird auch mal zum Kaiserwalzer gebeten – große | |
Tanzpause auf dem Voltigiergelände. Der Abend endet in kuscheliger Runde am | |
Lagerfeuer. | |
Das zeremonienmeisterliche Jahrmarkttheater wird als GbR geleitet vom | |
Regisseur, Autor und Schauspieler Thomas Matschoß und seiner Frau Anja | |
Imig, die Bühnen- und Kostümbildnerin ist. 2005 tauschten sie Hamburgs | |
Hektik gegen die Ruhe der Heide-Dörflichkeit. Ihre Heimat ist nun etwa 30 | |
Autominuten von Wettenbostel entfernt: Bostelwiebeck. Dort haben sich Imigs | |
Eltern einen Schweinstall als Altersruhesitz hergerichtet, der Pferdestall | |
wird als Lager genutzt, zur Probebühne und zum Theater für die Wintersaison | |
ausgebaut ist der Kuhstall und der Heuboden nun Fundus hunderter Kostüme. | |
Plus WG-Bereich. | |
Schauspieler und Techniker wohnen dort während der sechswöchigen | |
Probephasen und Aufführungswochenenden. Das formidable Ensemble mit dem Mut | |
zum Übermut setzt sich großenteils aus Absolventen der Hamburg School of | |
Entertainment zusammen, wo Matschoß einst Schauspiellehrer war und | |
Musicaldarsteller für die Abendunterhaltung auf den | |
„Aida“-Kreuzfahrtschiffen und in Corny Littmanns Schmidt-Imperium | |
ausgebildet hat. | |
Zur Jubiläumsspielzeit gestalten die Theatermacher das Schmausen der Gäste | |
besonders angenehm. „Der schönste Tag oder Die Erfindung der Liebe“ wird | |
inszeniert und beginnt mit einem Hochzeitsfest. Also nehmen die Besucher | |
Platz an Festtafeln vor der Scheune, in der sich die Künstlergarderobe | |
versteckt. Vier Spiegel und ein paar Quadratmeter zum Umziehen reichen dem | |
14-köpfigen Ensemble. Ihr Buffet ist bestückt mit Kaffee, Wasser und | |
Nudelsalatresten. Im Hochzeitsornat mischen sich die Mimen unters | |
Picknickvolk, begrüßen und herzen als wären es Verwandte. Andere jazzen | |
Dinner-Musik. | |
Bis auf einem kleinen Podest die Peinlichkeiten beginnen: Partyspiele, | |
Festreden, erste Eheknatscherei und Recycling uralter Scheidungsdramen – | |
gewürzt mit Comedy-Humor über Zweisamkeitstristesse und entsorgte | |
Sexualität. Matschoß entwickelt sein Stück aus dem Vorwurfssumpf | |
enttäuschter und verblasster Liebe. In Siine Behrens hat er eine ideale | |
Schauspielerin gefunden. Als Braut agiert sie genau auf der Bruchlinie des | |
Textes. Droht zu zerreißen zwischen zwei Liebeskonzepten – für den älteren | |
Mann, der ihr Herz glühen lässt, und den Jüngling, den sie heiratet. | |
Behauptet feines Seelenkammerspiel im großen Open-Air-Kontext. | |
Die gesamte Szenenfolge bezieht sich auf Shakespeare, setzt poesiewillig | |
auf Worte der wahren Empfindung, geizt nicht mit Zitaten und garniert mit | |
grobkomischen Trunkenboldszenen, Verwechslungen, Versteckspielen sowie | |
ständigen Brüchen. Auf einen herzzerreißenden Blick in lieblose Abgründe – | |
folgt ein zotiger Witz. | |
„Knallhart gegeneinander setzen von sehr ernst und sehr albern, das mache | |
ich gern“, sagt Matschoß. Auf dass sich eine emotionale und intellektuelle | |
Achterbahnfahrt ergebe. Was 2016 erstmals eine Nominierung für den | |
George-Tabori-Förderpreis eingebracht hat. | |
## Regie-Hans-Dampf | |
Begonnen hat das Jahrmarkttheater in Wettenbostel mit Shakespeares „Was ihr | |
wollt“ und „Hamlet“ sowie Goldonis „Diener zweier Herren“. Dann wagte | |
Matschoß, sein in Hamburg entwickeltes szenisches Schreiben für den | |
Heide-Einsatz fortzuspinnen. Ist er doch Autor der Kiez-Revue „Heiße Ecke“, | |
die seit 14 Jahren die Touristen an der Reeperbahn im Tivoli bespaßt. „Die | |
Tantiemen sind meine Grundsicherung“, sagt der Theatermann. | |
Matschoß jr. war jahrzehntelang ein Regie-Hans-Dampf an Hamburgs Bühnen, | |
vom Ernst-Deutsch-Theater über Kampnagel bis hin zum Schauspielhaus. Und | |
hat mit dem „Jedermann“ in der Speicherstadt und dem „Jahrmarkt des | |
Abschieds“ in der Hafencity bereits Ambiente-Spektakel inszeniert. | |
Auch mit dem Jahrmarkttheater läuft es glänzend. In Werbung muss nicht | |
investiert werden. Alle 18 Vorstellungen der Bauernhofbespielung sind schon | |
vor der Premiere ausverkauft. „90 Prozent der Besucher sind Stammgäste aus | |
der Region, zumeist keine Theatergänger. Inklusive Kinderstück, Gastspielen | |
und Wintersaison haben wir 6.000 Besucher pro Jahr“, so Matschoß. An eine | |
Expansion der Spielzeit, Produktionen und Aufführungen ist aufgrund der | |
großen Nachfrage allerdings nicht gedacht. „Den Charme der Leichtigkeit, | |
den das jetzt hier hat, den wollen wir behalten und klein bleiben“, so | |
Matschoß. | |
In der freien Theaterszene Niedersachsens werden die Zuschauerzahlen auch | |
scheel beäugt. Wer so viel Publikum hat, biedert sich doch an, oder? „Wir | |
profitieren von der quasi Monopolstellung“, so Imig. Kultureller Höhepunkt | |
der Region ist sonst nur das Heideblütenfest in Amelinghausen. Damit es | |
auch Theater gibt, überweist das niedersächsische Ministerium für | |
Wissenschaft und Kunst 10.000 Euro als institutionelle Förderung. Für ein | |
Projekt wie die „Erfindung der Liebe“ wirbt Imig noch 15.000 Euro | |
Projektmitteln des Ministeriums ein, die Stiftung Niedersachsen gibt 12.000 | |
Euro hinzu und der Fonds darstellender Künste des Bundes legte 15.000 Euro | |
drauf. | |
Imig weiß, wie Anträge zu formulieren sind: „Wir müssen und wollen | |
zeitgenössisch innovativ sein – und da gerade das Partizipative angesagt | |
ist, haben wir diesen Aspekt bei unserem Hochzeitsfest in den Vordergrund | |
gestellt.“ Was ja prima klappt. | |
Besonders charmant ist das nachmittäglich zelebrierte Kinderstück | |
„Zebraline“. Text und Regie: natürlich Thomas Matschoß. Gespielt wird auf | |
der Insel des mit Seerosen überwucherten Dorftümpels, aber auch in einem | |
Ruderboot und den umliegenden Bäumen. Das Publikum macht es sich am Ufer | |
bequem. Ist gebannt von einer (im positivsten Sinne) rampensäuisch fidelen | |
Schnodderprinzessin (Tahere Nikkhoyemehrdad), die schwarz und weiß | |
Gestreiftes über alles schätzt und auch ihrem Kuschelfisch ein | |
Zebrafellleibchen strickt. Dann aber die Liebe für sich erfindet und auf | |
einen bezipfelmützten Riesenzwerg projiziert, der es allerdings vor allem | |
bunt mag. | |
Wie das kompatibel ist? Beide öffnen sich für die Farbvorlieben des | |
anderen. Und müssen fürs Happy End nur noch all die buhlenden | |
Prinzen-Gecken verjagen. Wofür sich Matschoß die Rolle einer Krake, als | |
deus ex machina, auf den Leib geschrieben hat und einen eindrücklichen | |
Auftritt durchs Wasser stapft. Wären nicht das Naturbühnenbild und die | |
spielfreudigen Darsteller, würde das Toleranz-Stück etwas pädagogisch | |
wirken. So ist es ein kleines Verzauberungsfest. | |
27 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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