Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Preisgekröntes Freilufttheater: Jahrmarkt auf unbekanntem Törö
> Das Jahrmartktheater in Bostelwiebeck hat den Theaterpreis des Bundes
> bekommen. Diesen Sommer geht es auf Expedition in die Antarktis.
Bild: Angenehm divers: das Ensemble des Jahrmarkttheaters
Hamburg taz | Verschwunden sind die Minischweine in ihre Feierabendkoje,
ihren Hängebauch und ihre Schlabberschnauzen haben sie eben noch über
Zivilisationskrümel geschleift. Hühner picken noch die letzten Reste vom
Picknick der gestrigen Zuschauer zwischen dem Gestühl – und werden dann
auch in den Stall gescheucht. Nur vier Katzen dürfen weiterhin
sommerabendlich schleichen über den Landlust-idyllisch anmutenden Hof des
[1][Jahrmarkttheaters im Dörfchen Bostelwiebeck], Landkreis Uelzen, in der
äußersten Schwarte des Hamburger Speckgürtels. Denn alle Aufmerksamkeit
soll auf die diesjährige Freilufttheater-Produktion gelenkt werden.
Dick eingemummelte Schauspieler:innen beginnen, von der [2][heroisch
scheiternden Antarktis-Odyssee des britischen Forschers Ernest Shackleton]
zu erzählen. Das Stück „Patience Camp“ funktioniert als Memento mori
dessen, was der Klimawandel gerade [3][abtaut], die Eislandschaften an den
Polen, aber auch als Beispiel zur Bewältigung von Krisen wie der
menschlichen Isolation – ob nun als Expeditionsteam im Packeis oder allein
mit der Familie daheim wegen Corona. Beiden Kleingruppen gemein sind eine
Bedrohungssituation, erhebliche Alltagsveränderungen und das Gefühl von
Unkontrollierbarkeit – sodass aus leichter Unruhe starke Angst werden kann.
Aber Sein oder Nichtsein ist zumindest in der Open-Air-Produktion nicht die
Frage. Geboten wird eine Geschichte vom Überleben als Auseinandersetzung
mit Zivilisation, also den Formen und Werten des Zusammenlebens.
„Männer gesucht. Für waghalsige Reise. Geringe Löhne, extreme Kälte.
Monatelange völlige Dunkelheit. Permanente Gefahr, sichere Heimkehr
ungewiss. Ehre und Ruhm im Falle eines Erfolgs.“ Aus dieser Anzeige
Shackletons klingt schon 1913 die Arroganz der Zivilisation, sich der Natur
überlegen zu fühlen, sie für bezwingbar zu halten. Nicht ahnend, dass der
Versuch, die Antarktis zu durchqueren, zu einem zweijährigen Horrortrip
wird. Shackletons „Endurance“, zu ihrer Zeit wohl das stärkste Holzschiff,
wird vom Eis zermalmt und versinkt.
## Gegen Dezivilisierung
28 Männer, 49 Schlittenhunde und eine Katze zelten daraufhin weitab der
menschlichen Zivilisation auf einer Eisscholle. Wie das auf einem Gehöft in
der Lüneburger Heide inszenieren? Auf Scheunenbreite hängt ein Prospekt mit
skizzierter Eislandschaft, zwei Musiker servieren mit Hall- und
Echoeffekten prima knisternde Eismusik und das fünfköpfige Ensemble
berichtet in philosophischer Verzückung, dass der Mensch angesichts der
gleichgültig feindlichen Natur „von der Erkenntnis seiner Ohnmacht geradezu
überwältigt werden“ könne.
Zentrale Frage: Was macht die Crew in monatelanger Nacht bei –57 Grad
Celsius, wenn die Nahrungsmittel zur Neige gehen? Sie bibbert eben nicht
depressiv dem Erfrieren entgegen, sondern fängt und verspeist Robben wie
auch Pinguine, heizt mit deren Fett, isst schließlich auch die Hunde, wird
aber nicht kannibalistisch tätig.
Gegen Verzweiflung und Dezivilisierung organisiert der Kapitän jeden Tag
ein großes Arbeitspensum wie auch Kartenspiel- und Fußballturniere. Die
Seeleute müssen sich von allem Ballast befreien, auch des königlichen
Bibel-Geschenks, aber nicht von einem Banjo. Gilt es doch, täglich
gemeinsam zu singen. Auch ihre Bücher lesen sich alle immer wieder vor und
bringen jede Woche ein neues Drama zur Premiere: Kunst funktioniert im
Wortsinne als Überlebensmittel. Daran labt sich das Ensemble.
Autor und Regisseur Thomas Matschoß collagiert Literaturschnipsel von und
über die Abenteurer zu flottem Erklärtheater, das chronologisch
rekapituliert, was bereits lückenlos erforscht ist. Überzeugend dabei, dass
der Durchhaltetriumph aus heutiger Sicht hinterfragt wird. Etwa das Warum
dieses Himmelfahrtskommandos. Ausbeutung und Eroberung? Noch einen
Kontinent zu einer Kolonie ihrer machtgierigen Könige machen? Weil sie es
zu Hause nicht aushielten?
Das sind so Thesen des Stücks, das im meist ironischen Gestus mit reichlich
Theater im Theater und populären Musiknummern aufwartet und auch Witze
nicht scheut wie: „Was macht der Elefant in der Antarktis? Er befindet sich
auf unbekanntem Törö.“
Aber der Abend behandelt dem ausgelassenen Entertainment zum Trotz sein
Zivilisationsthema mit [4][so ernsthaftem Nachdruck, wie man es lange nicht
beim Jahrmarkttheater erlebt hat]. Reizvoll divers zudem, wie das Ensemble
zusammengestellt ist, spielt und singt – und wie unterschiedlich es die
Rolle des Kapitäns interpretiert, die reihum gereicht wird. Ein Abend als
Argument für den gerade zuerkannten, mit 75.000 Euro [5][dotierten
Theaterpreis des Bundes].
## Blick auf den Kolonialismus
Eine wichtige Ergänzung zum Loblied zivilisierten Verhaltens hat Matschoß
mitinszeniert. Das Ensemble spielt befrackt in wackeliger Putzigkeit auch
Pinguine, die Menschen als zerstörerische Eindringlinge wahrnehmen. Weiter
geht der deutsch-beninische Autor mit Blick auf den Kolonialismus und seine
Folgen. [6][Philipp Awounou], zum Kommentieren des
Jahrmarkttheaterprogramms angeheuerter Journalist, in seinen fürs Publikum
ausgehängten Artikeln. So segensreich Errungenschaften zivilisierten
Miteinanders der bürgerlichen Wertegemeinschaft in Europa funktionierten,
schreibt Awounou.
Passend dazu dürfen Besucher auch einen Parcours der Hochschule für
bildende Künste Hamburg zum [7][verantwortungsvollen Kritiküben]
absolvieren, einer Zivilisationstechnik, um positive Veränderung zu
ermöglichen. So kann an der Streitschaukel das Gewicht der Argumente mit
einem Diskurspartner austariert werden, vor dem Spiegel der
Selbsterkenntnis sind die eigenen Standpunkte zu reflektieren, aber die
ausgelegte Lektüre auf der harten Bank der Theorie wird von einer Katze
bewacht. Matschoß selbst ist in einer Audiostation mit der Kritik präsent,
dass ländliche Räume nur noch als Lebensmittel- und Energiefabriken,
Stichwort Windräder, für die Städte genutzt werden.
Doch es triumphiert die ambivalente Hoffnung. „Das Unglaublichste erscheint
mir, dass es in den ganzen zwei Jahren nicht eine einzige Prügelei zwischen
den Männern gab. Nicht eine. Während zur gleichen Zeit in Europa sich fast
neun Millionen Menschen im Namen ihrer Nationen abschlachteten“, heißt es
im Stück. Wobei man wissen muss: Nach ihrer Rückkehr 1917 tobte die erste
industrialisierte Schlachterei der Menschheit und so blieb vielen
Crewmitgliedern nur, gleich weiter an die Fronten des Ersten Weltkriegs zu
ziehen – in den Tod.
9 Aug 2021
## LINKS
[1] http://www.jahrmarkttheater.de/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Endurance-Expedition
[3] /Das-grosse-Schmelzen/!5780766
[4] /Jahrmarkttheater-in-Bostelwiebeck/!5700061
[5] https://www.iti-germany.de/beratung-foerderung/theaterpreis-des-bundes/thea…
[6] https://philipp-awounou.de/home
[7] /Hamburger-Ausstellung-In-Zukunft/!5619365
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Open Air
Theater
Antarktis
Theater
Theater
Freies Theater
Landleben
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wandertheaterkomödie „Mond“: Ins bedrängte Herz hinein
Das Jahrmarkttheater Bostelwiebeck lässt das Publikum in seinem neuen Stück
dem Mond hinterherlaufen. Das ist charmant, kauzig und tröstlich.
Jahrmarkttheater in Bostelwiebeck: Philosophie am Lagerfeuer
Das Jahrmarkttheater in Bostelwiebeck bespielt den heimischen Hof.
Coronabedingt geht es in dem Stück „Das Gute“ um die Frage: Wie leben wir
richtig?
Theater auf dem Dorf: Geprobt wird im Kuhstall
Seit zehn Jahren bespielen Thomas Matschoß und Anja Imig einen Hof in
Wettenbostel – mit selbst geschriebenen Dramen von ernst bis albern
Theater aus der Pampa: Spielerische Stadtflucht
Seit sieben Jahren bespielt im Landkreis Uelzen das „Jahrmarkttheater“
einen Heidehof und eine Scheune. Nun gastiert es mit „Stadt, Land, Wurst“
in Hamburg.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.