# taz.de -- Verhandlungen EU-Großbritannien: So geht Brexit – oder auch nicht | |
> Nach zwei Verhandlungsrunden konstatieren die Chefunterhändler | |
> „fundamentale Differenzen“. Worum geht es eigentlich? | |
Bild: Optik ist alles | |
BRÜSSEL/BERLIN taz | Sie duzen sich und sie loben sich. „Konstruktiv und | |
positiv“ sei die zweite Verhandlungsrunde über den EU-Austritt | |
Großbritanniens gewesen, sagten Michel Barnier und David Davis am | |
Donnerstag vor ihrem abschließenden gemeinsamen Mittagessen in Brüssel – | |
doch in der Sache sind sich die Chefunterhändler aus Brüssel und London | |
nicht nähergekommen. In einigen Fragen gebe es noch „fundamentale | |
Differenzen“, so Barnier. | |
Streit gibt es vor allem über die Bleiberechte für die EU-Bürger in | |
Großbritannien und über die „Brexit-Rechnung“, also die Kosten der | |
Scheidung. Davis habe zwar grundsätzlich anerkannt, dass London vor dem | |
Austritt seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber der EU erfüllen muss, | |
so Barnier. Doch die rechtlichen Grundlagen für die EU-Forderungen sind | |
ebenso umstritten wie die Gesamthöhe. Von 60 bis 100 Milliarden Euro | |
spricht man in Brüssel, keinen einzigen Cent hat London bisher angeboten. | |
„Wir werden dieses Problem nicht in kleinen Schritten lösen“, räumte | |
Barnier ein. Doch ein großer Sprung zeichnet sich auch nicht ab. | |
Meilenweit auseinander liegen beide Seiten auch bei den Bleiberechten. Die | |
Zusagen der britischen Premierministerin Theresa May, dass die EU-Bürger | |
auch nach dem Brexit auf der Insel bleiben dürfen, sind aus EU-Sicht zu | |
vage. Einen Grundsatzstreit gibt es zudem über die Frage, wessen Gerichte | |
nach dem Brexit für sie zuständig sind. | |
Die Verhandlungen seien „robust“ gewesen, gab Davis nach den viertägigen | |
Gesprächen in Brüssel zu Protokoll. Beide Seiten müssten „dynamisch und | |
flexibel“ sein, betonte er – was man wohl als indirekten Vorwurf deuten | |
darf, dass dies auf die Europäer nicht zutreffe. | |
Barnier forderte dagegen mehr Anstrengungen von Davis. „Wir machen mehr | |
Fortschritte, wenn die Positionen klar sind“, sagte er. Die noch fehlenden | |
„Klarstellungen“ sollen nun in der dritten Verhandlungsrunde erfolgen, die | |
am 28. August beginnt. | |
Klar ist im Moment nur, dass beiden Seiten die Zeit davonläuft. Denn | |
bereits im Herbst soll eine erste Einigung stehen, damit über die | |
Gestaltung der zukünftigen Beziehungen gesprochen werden kann. „Die Uhr | |
tickt“, betonten Barnier und Davis. Immerhin in dieser Frage sind sie sich | |
völlig einig. In allen anderen nicht. | |
## Bleiberecht | |
Was sagt London? Alle EU-Bürger in Großbritannien, die dort seit fünf | |
Jahren leben und gegen die keine Sicherheitsbedenken bestehen, bekommen ein | |
unbeschränktes Aufenthaltsrecht („settled status“). Sie genießen dann | |
dieselben Rechte wie britische Bürger, außer Staatsbürgerschaft. Das heißt: | |
Familiennachzug nur unter Bedingungen wie Einkommensnachweis. Nach sechs | |
Jahren Aufenthalt besteht ein Recht auf Einbürgerung. | |
Was sagt Brüssel? Die EU fordert, dass alle bisherigen Rechte von | |
EU-Bürgern in Großbritannien – uneingeschränkter Familiennachzug oder auch | |
alle bisher schon gewährten Leistungen aus dem britischen Sozial- und | |
Rentensystem – zeitlich unbegrenzt weiterbestehen und der Europäische | |
Gerichtshof (EuGH) darüber wacht. | |
Wie geht es weiter? Der Streit, welche Gerichte für diese Fragen zuständig | |
sind, belastet die Verhandlungen. Dass der Europäische Gerichtshofs über | |
die Rechte von EU-Bürgern wacht, sei „eine rechtliche Verpflichtung, das | |
kann gar nicht anders sein“, sagte Barnier. Doch es genüge völlig, wenn | |
Großbritannien die entsprechenden Vereinbarungen in britisches Recht | |
überführe und dieses dann eigenständig anwende, heißt es in den | |
Positionspapieren aus London. | |
## Austrittsrechnung | |
Was sagt London? Mit dem britischen EU-Austritt enden die britischen | |
EU-Beitragszahlungen. Eine Grundlage für nachträgliche EU-Geldforderungen | |
gibt es nicht. Aber an weiteren gemeinsamen Aktivitäten von Großbritannien | |
und der EU wird man sich finanziell beteiligen, allerdings sind britische | |
Anteile an EU-Einrichtungen gegenzurechnen. | |
Was sagt Brüssel? Es geht um laufende oder bereits für die Zukunft | |
eingegangene Verpflichtungen aus der mittelfristigen Finanzplanung der EU, | |
die bis 2020 reicht. Dem kann sich Großbritannien nicht entziehen. Je nach | |
Rechnung kann es um 60 bis 100 Milliarden Euro gehen, aber offizielle | |
Zahlen gibt es noch nicht. Eine grundsätzliche Einigung gilt als | |
Vorbedingung für alles weitere. | |
Wie geht es weiter? Zunächst soll eine detaillierte juristische Analyse | |
klären, welche rechtlichen Verpflichtungen bestehen. Ohne Einigung wird die | |
Geldfrage vor Gericht landen – aber vor welchem? | |
## Nordirland | |
Was sagt London? Die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland | |
muss so offen wie möglich bleiben, eine Rückkehr von Grenzkontrollen ist | |
nicht erwünscht. Die Common Travel Area zwischen Großbritannien und Irland | |
vor dem EU-Beitritt beider Länder, die offene Grenzen garantierte, wäre ein | |
Vorbild für die Zukunft. | |
Was sagt Brüssel? Die EU sieht das ähnlich. Allerdings fordert sie | |
Klarstellungen und Garantien für das Karfreitagsabkommen, das 1998 den | |
Nordirlandkonflikt beendete und für das die EU einer der Garanten war. | |
Wie geht es weiter? Da es hier um Sonderfragen britischer und irischer | |
Innenpolitik geht, wurden die Verhandlungen zu dieser Frage ausgegliedert. | |
## Finanzplatz London | |
Was sagt London? Der Austritt aus der EU hat keinen Einfluss auf den | |
globalen Finanzplatz London, da dessen Regeln nicht von der | |
EU-Mitgliedschaft abhängen. Es gibt auch keinen Zwang, Euro-Geschäfte (zum | |
Beispiel Clearing) aus London in die Eurozone zu verlagern. Entsprechende | |
Vorstöße der Europäischen Zentralbank hat der Europäische Gerichtshof | |
zurückgewiesen. | |
Was sagt Brüssel? Die EU ist der Ansicht, dass sie bei Euro-Geschäften das | |
letzte Wort haben muss. Die Aufsichtsbehörde ESMA in Paris soll zunächst | |
das Recht erhalten, die Geschäfte in London näher unter die Lupe zu nehmen. | |
Wenn ein Institut außerhalb der EU (also in Großbritannien) | |
„systemrelevant“ ist, soll sie gegebenenfalls dessen Abzug aus London | |
anordnen können. | |
Wie geht es weiter? Um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, werden | |
Londoner Finanzhäuser mit erheblichen EU-Geschäften Zweigstellen in der | |
Eurozone errichten, sollten sie noch keine haben. | |
## Europäischer Gerichtshof | |
Was sagt London? Mit dem Austritt aus der EU erlischt die Gültigkeit von | |
EU-Recht und die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für | |
Großbritannien. Damit ist auch ein Verbleib im Binnenmarkt nicht möglich. | |
Geltendes EU-Recht wird in britisches Recht überführt und kann danach | |
verändert werden. | |
Was sagt Brüssel? Der EuGH soll auch nach dem Brexit für EU-Bürger | |
zuständig bleiben, die in Großbritannien sind. Hier will Brüssel auch keine | |
Konzessionen machen. | |
Wie geht es weiter? Es wird sondiert, ob für einzelne Themen gemeinsame | |
britisch-europäische Schiedsgerichte möglich sind. Außerdem könnten | |
bisherige EuGH-Entscheidungen vor britischen Gerichten als Case Law | |
anerkannt bleiben. | |
## Euratom | |
Was sagt London? Der EU-Austritt beinhaltet zwar den Austritt aus der | |
Europäischen Atombehörde, aber da diese eine eigenständige Organisation | |
ist, muss separat geklärt werden, wem die Euratom-Bestände radioaktiver | |
Abfälle und Produkte wie Plutonium – wovon der größte Teil in | |
Großbritannien liegt – gehören. | |
Was sagt Brüssel? Bisher wenig. Anders als London darlegt, seien aber EU | |
und Euratom „vollständig miteinander verbunden“, sagte der Liberale Guy | |
Verhofstadt im EU-Parlament. | |
Wie geht es weiter? Eine assoziierte britische Mitgliedschaft in Euratom, | |
wie sie bereits die Schweiz hat, wird erwogen. | |
## Zukünftige Beziehungen | |
Was sagt London? Angestrebt wird eine „tiefe und besondere Partnerschaft“ | |
mit der EU – unter anderem ein Freihandelsabkommen. | |
Was sagt Brüssel? Über die künftigen Beziehungen möchte man erst dann | |
reden, wenn die großen Knackpunkte geklärt sind. Dies werde frühestens im | |
Spätherbst der Fall sein, heißt es in Brüssel. Dahinter steckt auch die | |
Hoffnung, dass es sich die Briten noch einmal anders überlegen könnten. | |
Wie geht es weiter? Es könnte nach dem offiziellen EU-Austritt eine | |
Übergangsphase unbestimmter Dauer in Kraft treten. Bei einem solchen | |
„weichen Brexit“ könnten Regeln des Binnenmarktes vorerst weitergelten. | |
Wenn aber die Knackpunkte offen bleiben, könnte Großbritannien ohne | |
Vereinbarung die EU verlassen – und alles bliebe ungeklärt. | |
21 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
Dominic Johnson | |
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