| # taz.de -- Staatsbürgerschaft nach dem Brexit: Elke will Britin werden | |
| > Seit 30 Jahren lebt Elke Heckel in London. Nach dem Brexit-Votum steigt | |
| > die Ausgrenzung. Dennoch begibt sie sich in den Einbürgerungsprozess. | |
| Bild: Elke Heckel und ihr Papiersalat | |
| London taz | Elke Heckel, 54, Wahllondonerin aus Hackney, war selten so | |
| engagiert. Im Februar stand die Deutsche und gebürtige Nürnbergerin noch | |
| geduldig in der Schlange vor dem britischen Parlament. Damals wollte sie | |
| mit ihrer Parlamentsabgeordneten, Labours Diane Abbott, ein Wörtchen | |
| reden. Anlass war ein Massenlobbytag, zu dem verschiedene Organisationen, | |
| die die EU-Bürger in Großbritannien repräsentieren, aufgerufen hatten. | |
| Während sie Abbott an diesem Tag nicht zu sehen bekam, erhielt sie | |
| zumindest einen Brief mit der Zusicherung, dass sich die Labourdame für die | |
| Rechte der EU-Bürger einsetzen werde. | |
| Einen Monat später marschierte sie dennoch wieder, diesmal unter | |
| Zehntausend anderen auf einer großen EU-Demo durch London. Im April, bei | |
| einem Besuch in ihrer Wohnung im zwölften Stock eines 70er-Jahre-Wohnbaus, | |
| kamen schließlich die ersten Anzeichen von Müdigkeit auf. | |
| Etwas genervt blickte sie aus ihrem Wohnzimmerfenster, von dem aus man über | |
| die offenen Wasserreservoirs Stoke Newingtons hinweg sieht. Aufgeben, das | |
| sei gegen ihre Natur, persönlich und als ausgebildete Hebamme sei sie | |
| positiv und für alles Unvorhergesehene vorausplanend. „Ja, einen schönen | |
| Ausblick habe ich schon von hier, aber was sind das für Aussichten!“, | |
| bemerkte sie damals. | |
| Seit dem Referendum quält sie der Gedanke, dass sie nach 30 Jahren in | |
| London eines Tages hier nicht mehr gewollt werde und man sie aus dem Land | |
| werfen könne. Dabei hatte sie bei der Frage nach dem Brexit im Gegensatz zu | |
| den in der EU-lebenden Briten noch nicht einmal das Mitspracherecht. Um | |
| eine Einbürgerung oder britische Staatsbürgerschaft musste man sich ja | |
| wegen der Unionsverträge vorher nie kümmern. | |
| ## Besessen vom Brexit | |
| Überall in ihrer Wohnung lagen damals Akten in verschiedenen Stapeln. Vor | |
| dem Referendum wollte sie eigentlich ein Jahr Pause machen, denn sie | |
| arbeitete jahrzehntelang ohne Unterbrechung als Hebamme. Als sie sich | |
| letztes Jahr vom Ersparten diese kleine Wohnung kaufte, freute sie sich auf | |
| ein entspanntes Jahr, nicht zuletzt, weil sie auch endlich eine langwierige | |
| Trennung von ihrem Mann hinter sich hatte. Über Dinge wie das Referendum | |
| machte sie sich kaum Gedanken, und nun sei sie „brexitbesessen“. Dass die | |
| Mehrheit der Briten den Austritt aus der EU fordern würden, konnte sie sich | |
| nicht vorstellen, erst nach dem Referendum begann sie sich zu fragen, ob | |
| auch sie in Zukunft hier leben dürfe und was mit ihren Rentenansprüchen | |
| oder ihrer Gesundheitsversorgung geschehe. | |
| Nach vielen Überlegungen stellte sie einen Staatsbürgerschaftsantrag, um | |
| der Richtung der Politik vorzubeugen. Den ersten Schritt hierzu | |
| symbolisierte das Bestehen eines Bürgerschaftstests, wo sie in einem | |
| Multiple-Choice-Verfahren allerlei Fragen über das Leben und die Geschichte | |
| Großbritanniens beantworten musste, als ob 30 Jahre aktives Leben in London | |
| und Hunderte von Babys, denen sie auf die Welt half, nicht reichten. Elke | |
| bestand den Test. Der Staatsbürgerschaftsantrag war eine andere Sache. | |
| ## 12 Kilo Aktensalat | |
| Sie sollte nun lückenlose Fakten, besonders über ihren Finanzhaushalt, | |
| zusammentragen, mindestens der letzten fünf bis sechs Jahre – eine | |
| Mammutoperation. Auf der Suche nach Hilfe wurde sie Mitglied einer | |
| Facebook-Hilfsgruppe und bezahlte obendrauf einen Rechtsanwalt, um | |
| herauszufinden, was sie für eine erfolgreiche Bewerbung alles benötigte. | |
| Manche hätten da 12 Kilo Aktensalat an die Behörden geschickt, erfuhr sie. | |
| Um nicht ihren deutschen Pass einsenden zu müssen und dann nicht reisen zu | |
| können, wollte sie zusätzlich einen deutschen Personalausweis beantragen. | |
| Für den ersten freien Termin in der Londoner Botschaft musste sie ganze | |
| zwei Monate warten, auch dort herrscht seit dem Referendum hoher Andrang. | |
| Dann musste ihre Steuerberaterin Erklärungen der letzten Jahre | |
| zusammenkratzen. Von der Bank wurden Kontoauszüge der letzten sechs Jahre | |
| angefordert. Dazu kam die Notwendigkeit von Beweisen, dass sie in der Zeit | |
| hier lebte. Elke schrieb einstige Kundinnen für Zeugnisse an. „Entwürdigend | |
| und als eine Art Strafe“ empfand sie das, trotz der glücklichen Mütter, die | |
| das gern taten. | |
| An einem Freitag, es war der 12. Mai 2017, ein Datum, dass sie nie | |
| vergessen wird, stand Elke dann endlich zufrieden mit einem vollen dicken | |
| und riesigen Briefumschlag am Postschalter des Stoke Newington Postamts. An | |
| ihrem Mantel war ein Button angebracht. „Ich bin kein Faustpfand“ stand da | |
| auf EU-blauem Hintergrund. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob alles | |
| richtig ist, aber ich schicke es jetzt ab“, sagte sie und fischte ihren in | |
| der Woche zuvor angekommenen deutschen Personalausweis aus dem Umschlag. | |
| Den Großteil ihrer Anmeldung erledigte sie über das Internet, auch das | |
| Ankreuzen der Erklärung, dass sie keine Terroristin sei. Für 65 Pfund | |
| Anmeldegebühr musste dieser Umschlag nun samt dem Beweismaterial innerhalb | |
| von zehn Tagen an die Einbürgerungsbehörde. | |
| ## Was ist mit der ganzen Mühe? | |
| Die Gesamtkosten des Staatsbürgerschaftsantrag betrugen inzwischen 500 | |
| Pfund, und sollte ihr Antrag bewilligt werden, darf sie noch mal weitere | |
| 1.200 für die Ehre hinblättern. 2.044 Gramm Papier hatte sie da | |
| zusammengeklaubt. Als der Postangestellten auffiel, dass die Adresse der | |
| Einbürgerungsbehörde gar nicht im Postcomputer steht, fiel Elke beim Zahlen | |
| gleich die Kreditkarte auf den Boden. Vorsichtig und aufgeregt machte sie | |
| den Umschlag wieder auf und prüfte die Adresse. Alles richtig! Der zur | |
| Hilfe geeilte Manager des Postamts entdeckte die Adresse stattdessen als | |
| die des Britischen Grenzschutzes aufgelistet, eines völlig anderen Amts. | |
| Mit einem kleinen Vermerk, dass es nicht an den Grenzschutz soll, sondern | |
| an die Stelle für Einbürgerung, wurde der Umschlag dann doch noch | |
| abgesendet. Elke vergaß fast ihre Quittung, den notwendigen | |
| Absendungsbeweis, beim Gehen. Kommt sie dann auch an, die ganze Mühe? | |
| Im Café neben der Post kamen die ersten Nachgedanken. Nicht nur die | |
| Prozedur, sondern die Rufe vieler Briten nach weniger EU-Migranten ohne | |
| Ausbildung gingen unter die Haut, findet sie. Damals, vor 30 Jahren, als | |
| sie hier nach London gezogen war, hatte sie auch keine Ausbildung. Sie | |
| studierte hier frei durch einen Fonds des britischen nationalen | |
| Gesundheitssystems. Heute müssen Hebammen das Studium selbst zahlen. Mit | |
| dem Studium fertig, gab es in ihren ersten Hebammenteams nur eine einzige | |
| Britin. Alle anderen stammten aus Europa, Uganda, Neuseeland, Malaysia. | |
| Auch heute gibt es nicht genügend Hebammen im Land. | |
| Sechs Monate sollte sie bis zur Entscheidung warten, manchmal dauere es | |
| sogar länger, heißt es bei der Einbürgerungsbehörde. Diese war mit 35 | |
| Prozent mehr Anträgen so überfordert, dass die Regierung im April EU-Bürger | |
| dazu aufforderte, keine Einbürgerungsanträge mehr einzureichen, sondern die | |
| Entwicklungen und Verhandlungen der nächsten Monaten abzuwarten. Elke | |
| schickte ihren Antrag dennoch ab. | |
| Fünf Wochen später zumindest eine E-Mail. Trotz des Adressenwirrwarrs sind | |
| die Unterlagen angekommen. Doch die Ungewissheit zermürbt. Auf der | |
| Facebook-Seite für EU-Bürger suchte sie nach Antworten. Dort wusste man | |
| bereits, dass 30 Prozent der Anträge abgelehnt werden. Um auf andere | |
| Gedanken zu kommen, beschloss sie dann in den Urlaub nach Sizilien zu | |
| fliegen. | |
| ## Viele Fragen bleiben | |
| Am vergangenen Wochenende wartete Elke immer noch auf eine Antwort. Es war | |
| Sonntagmittag. Gerade hatte sie auf dem wöchentlichen Landmarkt in Stoke | |
| Newington Einkäufe gemacht. Statt ihrem Mantel mit dem EU-Button trug sie | |
| eine pinke Tunika, einen großen Strohhut und weiße Blümchensandalen mit rot | |
| lackierten Fußnägeln. Seitdem sie ihren Antrag weggeschickt hatte, wurde | |
| Theresa Mays Stellung bei den Wahlen abgeschwächt. | |
| Vor zwei Wochen machte die Premierministerin ihr erstes lang erwartetes | |
| Angebot in Fragen der EU-Bürgerschaft. EU-Bürger sollen nach einem kleinen | |
| Antrag Aufenthaltsrecht und volle Garantien in der sozialen und | |
| gesundheitlichen Versorgung erhalten, die gleichen wie Briten. „Es klang | |
| besser, als ich dachte“, meinte Elke. Es sei gut, dass EU-Bürger ohne | |
| Staatsangehörigkeitsanträge auch hierbleiben könnten. Dennoch bleiben | |
| Fragen. „Was passiert, wenn ich mit meinem neuen Partner für ein paar Jahre | |
| nach Deutschland ziehen möchte? Und was bedeutet es eigentlich, Deutsche zu | |
| sein, und wie stehe ich zur Queen?“ | |
| Elke glaubt, dass Deutschland sicherer und demokratischer vor | |
| Manipulationen wie dem Brexit sei. Ja, seitdem das alles begonnen hätte, | |
| fühle sie sich eigentlich zunehmend deutsch. Aber nicht ganz. „Das | |
| Deutschland, in dem ich aufwuchs, das war eine kleine, geschlossene, | |
| homogene, ländliche Gemeinschaft. Nun lebe ich in der Menschenvielfalt | |
| Hackneys, wo Menschen aller Hintergründe miteinander leben. Ich gebe ja die | |
| deutsche Staatsbürgerschaft nicht auf, sondern werde eine doppelte | |
| Staatsbürgerschaft haben, wenn alles gut geht.“ | |
| Und doch werden sich Dinge mit dem Austritt aus der EU ändern, so wie etwa | |
| die steigende Fremdenfeindlichkeit. „Und wem gegenüber öffnet sich | |
| Großbritannien jetzt, Trump, Modi, Putin? Ich glaube, der Knoten in meinem | |
| Bauch wird bleiben, es sei denn, die Briten lassen vielleicht vom Brexit | |
| ab.“ Die Briten! Bald mag sie selbst eine sein, samt ihrem | |
| unverwechselbaren deutschen Akzent. Angeblich wird nach der Einbürgerung | |
| und dem Schwur, der Königin treu zu bleiben, im Rathaus symbolisch | |
| englischer Tee mit Kuchen angeboten. Sie hätte all das nicht gebraucht. | |
| 5 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn | |
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