| # taz.de -- Raed Salehs Buch über Leitkultur: Der Anti-Sarrazin | |
| > Mit „Ich deutsch“ will Berlins SPD-Fraktionschef eine Debatte über eine | |
| > neue deutsche Leitkultur beginnen. Das könnte für seine Partei von Nutzen | |
| > sein. | |
| Bild: Mitteilungsbedürftig: SPD-Fraktionschef Saleh und sein neues Buch | |
| Das musste ja mal geschehen: Raed Saleh hat ein Buch geschrieben. Dass der | |
| gerade 40 Jahre alt gewordene Vorsitzende der SPD-Fraktion im Berliner | |
| Abgeordnetenhaus ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis hat, erlebt jeder, | |
| der ihm begegnet: Saleh spricht gern, viel und schnell – und über fast | |
| alles. Nun hat er, was er mitteilen möchte, mit dem Journalisten und | |
| Berliner SPD-Fraktionssprecher Markus Frenzel auf 232 Buchseiten | |
| zusammengefasst. Und man könnte dazu in leichter Abwandlung der schon etwas | |
| überstrapazierten Worte eines anderen Berliner Sozialdemokraten sagen: Das | |
| ist zwar nicht immer, aber im Großen und Ganzen doch recht gut so. | |
| „Ich deutsch“ heißt das Werk des in den heutigen palästinensischen | |
| Autonomiegebieten geborenen Deutschen und Berliners – und dieser Titel | |
| verrät Raed Salehs politisches Programm. Der Sozialdemokrat hat, fast genau | |
| sieben Jahre nach Erscheinen von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich | |
| ab“, einen Anti-Sarrazin verfasst. | |
| Dass sich in dem im fehlerhaften Deutsch mancher Zuwanderer verfassten – | |
| und damit zunächst irritierenden – Buchtitel die Auffassung eines „Wir“ | |
| versteckt, die der Sarrazin’schen Haltung konsequent entgegensteht, lässt | |
| hoffen: dass möglichst viele (SozialdemokratInnen) Salehs Buch tatsächlich | |
| lesen. | |
| Der als Vierjähriger nach Deutschland gekommene Einwanderersohn strengte | |
| bereits vor Erscheinen von Sarrazins Buch ein Parteiordnungsverfahren gegen | |
| den ehemaligen Berliner Finanzsenator an: Sarrazin, ein Parteigenosse | |
| Salehs, hatte sich 2009 in einem Interview diskriminierend über Einwanderer | |
| geäußert. Doch der Versuch, Sarrazin aus der SPD zu werfen, blieb | |
| erfolglos, wie Saleh in seinem Buch erneut bedauert. | |
| Raed Saleh macht mit seinem Buch nun einen Vorschlag, wie man eine | |
| religiös, sozial und sonst wie diverse Gesellschaft wie die deutsche (und | |
| gerade die Berliner) auch betrachten und die Lösung ihrer Probleme angehen | |
| kann. Und dabei ist es eben die Definition des „Wir“, die den Unterschied | |
| macht: Wer gehört dazu? | |
| Wo Sarrazin vor allem auf muslimische Einwanderer schaute und dabei stets | |
| Abgründe einer verrohten und verdummten Parallelgesellschaft sah, öffnet | |
| der seinerseits muslimische Saleh Türen zugewanderter Familien oder von | |
| Migranten geführter Betriebe und sieht: Normalität. Was, nebenbei bemerkt, | |
| dazu führt, dass seinem Buch der „Gruselfaktor“ fehlt, der solche Schriften | |
| wie die Sarrazins ja leider auch immer zu Bestsellern macht: Uuuh, diese | |
| Fremden! Wie fremd! Gruselig! | |
| Dabei spart Saleh Themen wie Kriminalität, Gewalt und Radikalisierung nicht | |
| aus. Doch blickt er dabei zuerst auf den zunehmenden Rechtsradikalismus, | |
| für den er ein Versagen von Gesellschaft und Politik bei der Integration | |
| sich an den Rand gedrängt fühlender Milieus verantwortlich macht. Seine | |
| Forderung, „die Jugendlichen in unserer Gesellschaft vor Demagogen und | |
| Hasspredigern jeder Couleur“ zu schützen, kommt deshalb ohne ethnische und | |
| religiöse Differenzierungen aus: Ge- oder missglückte Integration ist eben | |
| keine Frage der ethnischen Herkunft. | |
| Was Saleh aber fordert, ist eine Debatte über eine neue deutsche | |
| Leitkultur. Dass der Sozialdemokrat diesen von Konservativen gerade in | |
| Wahlkampfzeiten gern verwendeten Begriff positiv zu besetzen versucht, wird | |
| und muss nicht jedem gefallen. Und es sind genau diese Stellen in seinem | |
| Buch, an denen Saleh den umstrittenen Begriff zu füllen versucht, die teils | |
| geradezu peinlich sind: etwa dann, wenn der Autor seinen persönlichen | |
| Musikgeschmack von Johann Sebastian Bach bis Peter Maffay als Beispiele | |
| einer deutschen Leitkultur anführt. | |
| Überhaupt hat das Buch Stellen, die ungeheuer naiv wirken: so zum Beispiel, | |
| wenn Saleh Patriotismus mit einer Portion Spaghetti vergleicht, die auf dem | |
| Tisch stehe, die aber noch nicht jeder essen möge – wozu er dann herzlich | |
| einlädt. Wobei das mit den Spaghetti, einstiges Einwanderergericht und | |
| heute fester Bestandteil deutscher Küche, ja auch schon wieder gut ist: ein | |
| Kniff. Wer und was gehört zum „Wir“? | |
| Warum seine Leitkultur unbedingt eine deutsche sein muss, die Erklärung | |
| dafür bleibt Saleh am Ende sowieso schuldig – zumal, wenn er den arabischen | |
| Politiker und Sozialphilosophen Ibn Chaldun und den italienischen Marxisten | |
| Antonio Gramsci als Vorbilder seiner politischen Haltungen anführt. Es geht | |
| doch also um Regeln, nicht um (deutsche) Inhalte: Wie gehen Menschen | |
| sinnvollerweise miteinander um, um trotz aller Verschiedenheit friedlich | |
| zusammenleben zu können? | |
| „Schutz für uns alle und gleichzeitig die Möglichkeit zu unserer | |
| Selbstverwirklichung“ ist das Versprechen, das Saleh mit seiner Idee einer | |
| „neuen Leitkultur“ erfüllen möchte. Darin steckt zugleich die – rechte … | |
| Angst einer als bedroht erscheinenden, weil sich ändernden Gesellschaft und | |
| die – linke – Idee des individuellen Aufstiegs. Saleh ist nicht nur | |
| Einwanderer: Er ist ein Arbeiterkind und selbst ein Aufsteiger. Tatsächlich | |
| verkörpert er vieles, was die SPD sich nicht erst seit gestern als | |
| politische Ziele in ihre Parteiprogramme schreibt. | |
| Kann also Raed Saleh die SPD retten? | |
| Dieser Juli, zwei Monate vor der Bundestagswahl, ist jedenfalls ein | |
| merkwürdiger Erscheinungstermin für das Buch eines Berliner | |
| Landespolitikers. Persönliche bundespolitische Ambitionen hat Raed Saleh | |
| bislang zumindest öffentlich nicht geäußert. Wenn sein Buch in Zeiten des | |
| Wahlkampfs (auch in seiner eigenen Partei) als eins gelesen würde, das | |
| zeigt, wie Sozialdemokraten auch denken können, täte das der alten Dame SPD | |
| sicher ganz gut. | |
| 17 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Alke Wierth | |
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