# taz.de -- Gescheiterte Polizeitaktik beim G20-Gipfel: Alles richtig eskaliert? | |
> Nach dem G20-Gipfel entpuppen sich Behauptungen der Polizei als falsch. | |
> Inzwischen sind zahlreiche Übergriffe durch Polizist*innen dokumentiert. | |
Bild: Die Polizei mit schwerem Gerät | |
HAMBURG/BERLIN taz | „Neue Maßstäbe“ wollte die Hamburger Polizei mit ihr… | |
Einsatz zum G20-Gipfel setzen – so hatte sie es im Vorfeld angekündigt. In | |
vielerlei Hinsicht ist ihr das gelungen. Die Anzahl der eingesetzten | |
Beamt*innen und des schweren Geräts, das Vorgehen mit | |
Sondereinsatzkommandos und auch die Einschränkung von Grundrechten gehen | |
über alles bislang Bekannte hinaus. | |
Der Aufklärungsbedarf ist groß, auch vor dem Hintergrund der besonderen, | |
massenhaften Militanz der Gipfelgegner*innen. | |
Die verantwortlichen Politiker*innen und Polizeichefs haben sich derweil | |
auf eine Sichtweise geeinigt: Die Polizei hat alles richtig gemacht – ihr | |
ist für ihren heldenhaften Einsatz zu danken. | |
Unter den Bildern, die der Gipfel lieferte, sind auch jene, die den größten | |
Tabubruch bezeugen: der Einsatz von Sondereinsatzkommandos gegen | |
Demonstrant*innen – mit der Freigabe, im Zweifel zu schießen. | |
Geschossen wurde tatsächlich. Wie der Kommandoführer des sächsischen | |
Sondereinsatzkommandos (SEK), Sven Mewes, der Nachrichtenagentur dpa sagte, | |
wurden „geschlossene Türen mittels Schusswaffen mit spezieller Munition | |
geöffnet“. Geplant war der SEK-Einsatz nicht, wie der sagte: „Wir waren | |
eingesetzt, um sowohl bei Anschlägen gegen Politiker als auch gegen die | |
Bevölkerung sofort reagieren und agieren zu können. Aber nur im Falle eines | |
Terroranschlags oder einer Terrordrohung.“ Zur Frage, warum die Kommandos | |
aus mehreren Bundesländern trotzdem am Freitagabend im Schanzenviertel zur | |
Erstürmung mehrerer Häuser zum Einsatz kamen, sagte Mewes: „Nach dem, was | |
ich gesehen habe, war das kein Demonstrationsgeschehen mehr. Das war | |
deutlich weiter fortgeschritten.“ | |
## Böller statt Molotowcocktails | |
Eines der zentralen Argumente für den Einsatz: Die Polizist*innen seien | |
von Häuserdächern aus mit Betonplatten und Molotowcocktails attackiert | |
worden. Zumindest der Einsatz Letzterer scheint inzwischen fraglich. Die | |
[1][Hamburger Morgenpost zitierte die Einschätzung von Georg Dittié], | |
Fachingenieur für Wärmebildtechnik. Dittié sagte, das von der Polizei | |
vorgeführte und vielfach verbreitete Video des Wurfs eines brennenden | |
Gegenstands auf einen Wasserwerfer zeige einen Böller. Darauf deuten sowohl | |
die Infrarot-Emission auf dem Bild als auch das mehrfache Aufflackern des | |
Feuers sowie die ausbleibende Explosion beim Aufprall auf dem Boden hin. | |
Sicher ist indes, zumindest der Einsatz der SEKs war wirkungsvoll. | |
Kommandoführer Mewes schildert, wie sich die Situation allein durch das | |
Erscheinen der militärisch hochgerüsteten Beamten sofort beruhigt habe: | |
„Auf jeden Fall war die Dynamik der Straftäter absolut raus“, so Mewes. | |
Vermutlich war das auch das Ziel, als einige SEK-Teams am Samstagabend | |
erneut zum Einsatz kamen, gegen eine überwiegend friedliche Menge am Neuen | |
Pferdemarkt, einer großer Kreuzung zwischen St. Pauli und Schanzenviertel. | |
Zuvor war es zu vereinzelten Flaschenwürfen gekommen, denen die Polizei mit | |
dem Einsatz eines Wasserwerfers begegnet war. Plötzlich rückten mehrere | |
Zivilfahrzeuge an, darin: behelmte und schwer bewaffnete | |
Sondereinsatztruppen. Die Beamt*innen marschierten auf der Kreuzung auf, wo | |
sie von Schaulustigen und Journalist*innen umringt wurden. Nach zwanzig | |
Minuten war der Spuk vorbei. Die Spezialkommandos zogen ab, die | |
Bereitschaftspolizei räumte die verbliebenen Menschen mit Wasserwerfern von | |
der Kreuzung. | |
Der Leiter des gesamten G20-Polizeieinsatzes, Hartmut Dudde, sagte am | |
Sonntag vor den Medien, bei einem solchen Ausmaß von Gewalt müsse man sich | |
auch künftig auf den Einsatz von Spezialkräften einstellen. Doch was sollen | |
SEK-Beamte, die mit beiden Händen schwere Waffen tragen, machen, wenn ein | |
Verrückter sich nicht abschrecken lassen und sie attackieren sollte? | |
Schießen? | |
## Polizisten wurden selbst gegen kleinste Gruppen eingesetzt | |
Nicht nur die Taktik beim Einsatz des SEKs ist problematisch. Auch die | |
generelle Polizeistrategie für die Zeit des Gipfels und der Proteste | |
hinterlässt viele Fragen. Der Eindruck ist: Wo immer die Demonstranten | |
friedlich waren – in den Camps, beim hedonistischen Massenauflauf am | |
Dienstag, bei der Aufstellung der „Welcome to hell“-Demo oder bei der | |
Großdemonstration am Samstag –, kamen Polizist*innen massiv zum Einsatz. | |
Selbst kleinste Gruppen wurden durch Hundertschaften und Wasserwerfer | |
zerstreut. Auf der anderen Seite stehen jene Momente, in denen sich | |
Autonome und Krawalllustige zusammenfanden, wie beim Streifzug durch Altona | |
oder dem Abend in der Schanze, und die Polizei davon entweder nichts | |
mitbekam oder zuschaute. | |
Von der Zerstörungstour der Autonomen durch die Elbchaussee und Altona | |
schien die Polizei überrascht worden zu sein. Fragwürdig ist dennoch, warum | |
bei annähernd 20.000 Polizist*innen in der Stadt innerhalb einer halben | |
Stunde keine Einsatzkräfte vor Ort waren. Anders verhielt sich die | |
Situation am Freitagabend. Hier kam es seit dem Nachmittag am Brennpunkt | |
Neuer Pferdemarkt über Stunden zu Scharmützeln zwischen einigen Dutzend | |
Randalierer*innen und Polizeieinheiten mit drei Wasserwerfern, die auf | |
jeden Stein- oder Flaschenwurf sofort reagierten. | |
In den frühen Abendstunden dann wurden die Randalierer*innen und vielen | |
Schaulustigen in Richtung Schanzenviertel getrieben, die ersten Barrikaden | |
brannten. Und plötzlich spritzte keiner der zuvor eingesetzten Wasserwerfer | |
mehr. Bei voller Leistung reicht der 10.000 Liter umfassende Tank nur für | |
maximal achteinhalb Minuten. | |
## Wasserwerfer schreckten kaum ab | |
Im Viertel selbst, auf dem Schulterblatt, der Straße, in der die Rote Flora | |
liegt und es traditionsgemäß am 1. Mai und nach dem Schanzenfest zu | |
Auseinandersetzungen kommt, hatte die Polizei keine Beamt*innen | |
stationiert. Doch die Strategie der offenen Schanze geriet außer | |
Kontrolle. Das Nichteindringen der Polizei gibt Rätsel auf. Es war den | |
Beamt*innen an beiden Enden des Schulterblatts, wo sich die Autonomen | |
sammelten, nicht ohne Weiteres möglich, ins Viertel zu dringen. Durch die | |
Seitenstraßen, in denen überwiegend Partyvolk unterwegs war, hätte es | |
jederzeit gelingen können. | |
Dem Einsatz wurde zuletzt immer wieder die Taktik der Berliner Polizei | |
gegenübergestellt. Diese setzt viel mehr auf gezielte Festnahmen und eine | |
andauernde Zerstreuung der Menge durch Polizisten, die sich direkt durch | |
die Protestierenden bewegen. Das dauerhafte Einsetzen von Wasserwerfern in | |
Hamburg jedoch führte kaum zur Abschreckung, die Anzahl der Festnahmen | |
blieb über die gesamte Zeit vergleichsweise gering. Deeskalierend hat die | |
Polizei in Hamburg zu keiner Zeit agiert. Öffentlich beschwerten sich | |
Berliner Polizisten über die Hamburger Strategie. | |
Allerdings waren es vor allem Beamt*innen aus der Hauptstadt, die die | |
Einkesselung des zweiten Blocks auf der „Welcome to Hell“-Demo vornahmen – | |
und das, während an der Spitze der Demo noch Einsatzleiter und | |
Demonanmelder miteinander verhandelten. Auf zahlreichen Videos ist | |
dokumentiert, wie die Hundertschaft unvermittelt von der Seite in die Demo | |
prescht und eine Paniksituation auslöst. Dabei soll es von einem Arzt, der | |
schon bei der Love Parade in Duisburg im Einsatz gewesen war, vor Ort | |
Warnungen gegeben haben, dass sich das Szenario von damals an dieser Stelle | |
wiederholen könnte. Die attackierten Demonstrant*innen versuchten über eine | |
Mauer zu entkommen. Teilweise wurden sie von Polizist*innen daran gehindert | |
und mit Schlägen traktiert. | |
Die bislang unbeantwortete Frage hier: Kam die Order zum Sturm auf die | |
Demonstration vom Einsatzleiter oder hat eine Berliner Hundertschaftsführer | |
autonom gehandelt? Für letztere Version spricht, dass sich die Lage im | |
ersten Block durch die Demaskierung der Teilnehmer schon beruhigt hatte, | |
als die Polizist*innen weiter hinten dazwischen gingen. | |
## Systematische Eskalation durch die Polizei? | |
Für die Autonomen lieferte das Vorgehen der Polizei am Donnerstagabend die | |
Steilvorlage für alles an Randale, was in den darauf folgenden Nächten | |
folgte. Aber auch die Polizei ging alles andere als zimperlich vor, zielte | |
mit Wasserwerfern auf Demonstrant*innen und Schaulustige auf abschüssigen | |
Häuserdächern, fuhr Einsatzwagen mit hoher Geschwindigkeit in | |
Menschenmengen, trieb Protestierende mit Schlägen vor sich her und trat zu, | |
auch wenn Menschen am Boden lagen. | |
Eine Gruppe Netzaktivist*innen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die | |
Vorfälle von Polizeigewalt zu dokumentieren. Unter [2][g20-doku.org] können | |
Augenzeug*innen Videos hochladen. „Wir sind der Ansicht, dass der | |
G20-Gipfel eine völlig neue Dimension in Sachen rechtswidriger | |
Polizeigewalt darstellt“, schreiben die Aktivist*innen auf ihrer | |
Homepage. In einem der Videos sieht man zwei Polizist*innen mit | |
Schlagstöcken auf einen flüchtenden Demonstranten einprügeln, bis ein | |
dritter ihm von der anderen Seite die Faust ins Gesicht schlägt. | |
Auf einem anderen Video schleifen Beamt*innen einen bewusstlosen | |
Demonstranten über den Boden, er ist halbnackt, seine Hose hängt ihm an den | |
Knöcheln. Insgesamt ergebe sich der Eindruck einer „systematischen | |
Eskalation“ durch die Polizei, sagte ein Mitglied der anonymen | |
Redaktionsgruppe der taz. Er selbst habe noch nie ein solches Maß an | |
Polizeigewalt in Deutschland gesehen – und er sei bei vielen Großaktionen | |
gewesen. | |
Auch auf Seiten der Polizei soll es Aufklärung geben – allerdings mit einem | |
anderen Fokus. Die Sonderkommission „SoKo Schwarzer Block“ hat ihre | |
Ermittlungen aufgenommen. In den nächsten Tagen und Wochen sollen 170 | |
Beamt*innen damit beschäftigt sein, ihr eigenes Videomaterial auszuwerten. | |
Dazu kommen Hinweise aus der Bevölkerung, die aufgerufen ist, Handyvideos | |
auf einer Polizeihomepage hoch zu laden. Auch Material von | |
Überwachungskameras an öffentlichen Orten wollen die Polizist*innen | |
auswerten. | |
Was aber passiert, wenn auf den Aufnahmen Fehlverhalten und mögliche | |
Straftaten der Polizei dokumentiert sind? Vom Dezernat Interne | |
Ermittlungen, das für Ermittlungen gegen die eigenen Beamt*innen zuständig | |
ist, sitzt jedenfalls niemand in der Kommission, gab eine Hamburger | |
Polizeisprecherin an. Aber natürlich seien die Beamt*innen angehalten, das | |
Material weiterzugeben, sollten sie solche Fälle in ihren Videos finden. | |
13 Jul 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.mopo.de/hamburg/g20/schanzen-randale-war-das-ein-molotow-cocktai… | |
[2] https://g20-doku.org/ | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
Katharina Schipkowski | |
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