| # taz.de -- Polizeigewalt oder nicht?: Ein zerstörtes Leben | |
| > Vor knapp zehn Jahren wurde Johannes M. nach dem Hamburger Schanzenfest | |
| > durch einen Schlag verletzt. Seitdem ist er arbeitsunfähig. | |
| Bild: Späte Ermittlungen, lückenhafte Polizei-Videos: Johannes M. klagt gegen… | |
| Hamburg taz | Den Morgen des 13. September 2009 wird Johannes M. nie | |
| vergessen. Es ist der Morgen, so sagt der 45-Jährige heute, fast zehn Jahre | |
| später, der sein „Leben komplett zerstört hat“. | |
| Mit Freunden hat er auf dem alljährlichen Schanzenfest gefeiert, getrunken | |
| und von dem Festflohmarkt noch ein paar Platten abgestaubt. Es ist kurz vor | |
| halb zwei, Johannes schon müde, doch die Freunde, mit denen er unterwegs | |
| ist, sind noch in Feierlaune. Die Polizei hat begonnen, das Schanzenfest, | |
| das vom Umfeld der Roten Flora veranstaltet wird und nicht offiziell | |
| angemeldet ist, zu räumen. | |
| Polizeieinheiten drängen mit zwei Wasserwerfern ins Schulterblatt vor, die | |
| Freunde verlassen die Piazza vor dem linksautonomen Zentrum, sammeln sich | |
| etwas abseits, dort wo die Eifflerstraße ins Schulterblatt mündet. Johannes | |
| M. ist ins Gespräch vertieft. Er merkt spät, dass Hektik aufkommt. | |
| Plötzlich beginnen seine Freunde zu laufen, intuitiv läuft er mit. Er hört | |
| die Polizeieinheit hinter sich, die überraschend in die Eifflerstraße | |
| hineinläuft. Im Laufschritt vor ihr die Straße hochlaufend schießt Johannes | |
| M. eine Frage durch den Kopf: „Warum laufe ich denn weg? Ich habe doch | |
| nichts getan.“ | |
| Es ist die richtige Frage zum falschen Zeitpunkt. Johannes M. stoppt. Will | |
| sich an die Häuserwand pressen, die Einheiten vorbeilaufen lassen. Er dreht | |
| sich um, sieht nur kurz das, was sich ihm als „schwarze Wand, die auf mich | |
| zukam“ einprägen wird. Er sieht schwarze Uniformen, schwarze Helme, die ihn | |
| spontan an „Darth Vader“ erinnern. Dann wird alles schwarz. Im Fall sieht | |
| er noch Pflastersteine, auf denen sein Körper den Bruchteil einer Sekunde | |
| später aufschlägt. | |
| Als das Bewusstsein zurückkehrt, wird er von Passanten die Eifflerstraße | |
| hoch geschleppt. Er sieht sein Blut, seine ganze Kleidung ist damit | |
| verschmiert. Dann Krankenwagen, schließlich ein Polizeizelt an den | |
| Messehallen, wohin die Polizei die Verletzten bringen lässt, um ihre | |
| Personalien festzustellen. Erst eine Stunde später landet er in der Klinik | |
| Altona. Dort wird zunächst ein offenes Schädel-Hirn-Trauma festgestellt, | |
| dass von dem Sturz aber auch von einem Schlag herrühren kann. | |
| Genauere Untersuchungen ergeben schließlich, dass alles noch viel schlimmer | |
| ist. Das Schädeldach ist durchschlagen, die Stirnhöhlenvorder- und | |
| -hinterwand sind gebrochen. Eine wegen hoher Infektionsgefahr | |
| lebensgefährliche Verletzung. | |
| Und die rührt, so wird ein Sachverständigengutachten des Hamburger | |
| Instituts für Rechsmedizin ein gutes dreiviertel Jahr später eindeutig | |
| feststellen, eindeutig von einem Schlag her. Die Wunde ist geformt wie ein | |
| Abdruck. Und der kann, so das Gutachten, „sehr gut in Deckung gebracht | |
| werden“ mit der Form eines Tonfa, der Sorte Schlagstock, mit der die | |
| Polizeieinheit, die die Eifflerstraße hinaufstürmte, bewaffnet war. Radius | |
| und Querdurchmesser von Schlagstock und Narbe stimmen exakt überein. | |
| ## Kopfschmerzen, Übelkeit, Tinnitus | |
| Seit diesem 13. September ist im Leben von Johannes M. nichts mehr, wie es | |
| war. Ständige Kopfschmerzen, morgendliche Übelkeit, gravierende | |
| Konzentrationstörungen, ein rapider Abfall seiner Belastungsfähigkeit und | |
| ein beidseitiger Tinnitus sind seine ständigen Begleiter. Permanent muss er | |
| Tabletten nehmen. | |
| Die Auswirkung der Kopfverletzung sind so schwer, dass Johannes M. seine | |
| Ausbildung als Technischer Zeichner abbrechen muss. Er muss aufhören, als | |
| Gitarrist Musik in einer Band zu machen. Er kann nicht mehr arbeiten, | |
| selbst Hilfstätigkeiten überfordern ihn. Seit 2011 ist Johannes M. auch | |
| offiziell „voll erwerbsgemindert“. Seitdem versucht er, mit einer Rente von | |
| knapp 500 Euro über die Runden zu kommen. | |
| Natürlich hat Johannes M. bald nach dem Vorfall Strafanzeige gegen | |
| Unbekannt gestellt. Der Täter konnte nicht ermittelt werden, das Verfahren | |
| wurde eingestellt. Bekannt ist nur, dass es die „Beweissicherungs- und | |
| Festnahmeeinheit Blumberg der Bundespolizei“ war, die den Ausfall in die | |
| Eifflerstraße probte. Videosequenzen der Polizei zeigen das Geschehen kurz | |
| vor der Tat, doch in dem Bildmaterial fehlen erstaunlicherweise genau die | |
| Momente, in denen Johannes M. zu Schaden kam. | |
| ## Ermittlungen eingestellt | |
| Schließlich stellt die Staatsanwaltschaft Hamburg im Oktober 2010 die | |
| Ermittlungen ein. Der Kernsatz der Einstellungsverfügung lautet: „Die | |
| durchgeführten Ermittlungen haben (…) nicht zur Identifizierung einer | |
| konkreten Person geführt, die ihren Mandanten in jener Nacht verletzt haben | |
| könnte.“ | |
| „Es wurde nie versucht, den Täter wirklich ausfindig zu machen“, sagt | |
| Johannes M. Dabei wird ihm sogar DNA abgenommen. Sieben Monate nach dem | |
| Vorfall werden die 24 Tonfa-Stöcke der Einheit Blumberg daraufhin | |
| untersucht, ob einem von ihnen genetisches Material des Geschädigten | |
| anhaftet. Wenig überraschend finden sich keine DNA-Anhaftungen an den | |
| Schlagstöcken. | |
| Bereits 2014 hat der Hamburger Rechtsanwalt Dieter Magsam eine | |
| Schadensersatzklage vor dem Zivilgericht angestrengt. Es geht um rund | |
| 250.000 Euro Schmerzensgeld und Verdienstausfall. Eine viertel Million Euro | |
| als Preis für ein zerstörtes Leben. Über vier Jahre hat die überlastete | |
| Hamburger Justiz gebraucht, um die Klage zuzulassen und den ersten | |
| Verhandlungstag auf den 8. Januar 2019 zu terminieren. | |
| ## Die Theorie vom unbekannte Störer | |
| Es gibt eine Erwiderung der Beklagten, der Freien und Hansestadt Hamburg, | |
| die den Polizeieinsatz geleitet hat. Danach könnte theoretisch auch ein | |
| anderer Gegenstand als ein Tonfa die Verletzung verursacht haben. Und | |
| selbst wenn es ein Tonfa gewesen sei, so heißt es im Schreiben, käme auch | |
| „einer der Störer“ als Täter infrage, da ein Tonfa auch im Internethandel | |
| von jedermann zu erwerben sei. | |
| Dass die Polizei nach Anwaltsrecherchen während der gesamten Ereignisse | |
| rund um das Schanzenfest bei keiner einzigen Zivilperson das Mitführen | |
| eines Tonfastocks festgestellt hat, ficht diese Argumentation nicht an. | |
| Denn wenn tatsächlich ein Polizeibeamter den Schlag ausgeführt hätte, so | |
| der Schriftsatz, hätten andere Mitglieder der Einheit Blumberg das bemerken | |
| müssen – doch keines habe solch eine Beobachtung zu Protokoll gegeben. Dass | |
| dies nicht geschehen sei, sei eine eindeutige „Indiztatsache“, dass solch | |
| ein Übergriff der Einsatzkräfte nicht stattgefunden habe. Oder, wie ein | |
| Hamburger Bürgermeister acht Jahre später nach dem G20-Gipfel erklärt hat: | |
| „Polizeigewalt hat es nicht gegeben.“ | |
| 1 Jan 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Marco Carini | |
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