# taz.de -- Debatte Machtpolitik der Kanzlerin: Merkelt euch eins! | |
> Im Wahlkampf wirkt Angela Merkel unpolitisch – und unverwundbar, trotz | |
> aller Kritikpunkte. Wie kann sie sich das alles leisten? | |
Bild: Angela Merkel als Zeugin vor dem NSA-Untersuchungsausschuss | |
Ich weiß nicht, wie sie das schafft: Nach einem Jahr, in dem Deutschland | |
politisiert war wie seit der Wende nicht mehr, in dem die Menschen in | |
Deutschland plötzlich wieder Fragen nach der Lage der Welt stellten und der | |
eigenen Rolle in dieser Welt, nach einem solchen Jahr stolziert Merkel | |
ihrer Wiederwahl entgegen, als wäre das eine Sache der Krönung und nicht | |
des Kreuzes. Doch Demokratie krönt nicht. Demokratie wählt und braucht | |
dafür ein Angebot. | |
Wie schafft sie es so ungestraft von „Wir schaffen das!“ zu „War da noch | |
was?“ Wie schafft sie es, Millionen Bürger, die sich in der | |
Flüchtlingsarbeit engagiert haben, hängen zu lassen, als wäre das Helfen | |
ihr Privatvergnügen gewesen? Sie schweigt über die Einwanderung, die sie in | |
dieser viel kritisierten Weise zugelassen hat, als wäre ihre Entscheidung | |
von damals ein privater Seitensprung gewesen, der mit ihrer sonstigen | |
Karriere nichts zu tun hat. Wie schafft sie es, den Bürgern zu suggerieren, | |
Demokratie funktioniert dann am besten, wenn man von der Politik nichts | |
bemerkt? | |
Demokratie quasi als Vorgang des Vorbeischleusens am Bürger. So wie zuletzt | |
der Staatstrojaner. Selbst an der eigenen Parteibasis schleust sie vorbei: | |
Das CDU-Angstthema „Ehe für alle“ soll jetzt Merkel-Thema werden, wenn es | |
ihr nur hilft. | |
## Demokratie ohne Diskurs | |
Wie kann sie sich das alles im Wahljahr leisten? Und so viel anderes dazu: | |
Entschädigungszahlungen für die vier großen Atomkraftwerksbetreiber auf | |
Kosten des Steuerzahlers? Kein Problem. Vorwürfe, die Regierung könnte das | |
Gesetz gar so konzipiert haben? Geschenkt! Der Armutsbericht prognostiziert | |
weiter steigende Altersarmut. Ach, besser nicht über Renten reden! Soll | |
sich da mal die SPD den Kopf zerbrechen. Wenn Martin Schulz jetzt Merkels | |
Politikstil als „Attacke auf die Demokratie“ bezeichnet, dann spricht er | |
aus einer sozialdemokratischen Tradition heraus: Ohne Diskurs ist jede | |
Demokratie gefährdet. | |
Die Gerechtigkeitsfrage ist eine Frage des sozialen Friedens. Die | |
Konsequenzen von Merkels neoliberalem Kurs der letzten Jahrzehnte liefern | |
nicht nur im Rentenbereich ernüchternde Ergebnisse. Vergleicht man etwa die | |
Situation auf dem Wohnungsmarkt in Deutschland mit der in Österreich, steht | |
Deutschland ebenfalls schlechter da. Doch Merkel schweigt. | |
Wenn Schulz im Wahlkampf mit hehren Begriffen wie Demokratie hantiert, | |
wirkt das wie ein unangemessener Anschlag auf die Belanglosigkeit des | |
lauwarmen öffentlichen Diskurses in diesem Land: Man verwaltet nach | |
Vorschrift, doch welche Prinzipien den Vorschriften zugrunde liegen, wird | |
schon lange nicht mehr diskutiert. Lieber reden wir darüber, ob Merkel | |
lieber per SMS oder WhatsApp kommuniziert. | |
Da wirkt so ein Schulz-Angriff wie eine Reminiszenz an Zeiten, in der | |
Politik noch leidenschaftlich war, in denen man in Wahlkampfzeiten den | |
Bürgern – zumindest nach außen hin – versichern wollte, dass es um sie | |
gehe. Das Verschwinden der Wutrede aus Streitdebatten, die gezielte | |
Platzierung des Zorns über herrschende Zustände ist etwas, woran Schulz nun | |
zu erinnern versucht – doch statt das zu verstärken und auch von Merkel | |
Positionen zu den Problemen, die auch sie diesem Land eingebrockt hat, | |
einzufordern, wird Schulz in die Kontrollbox der Mittelmäßigkeit gesteckt. | |
Das Disziplinarverfahren wider den demokratischen Diskurs greift. | |
Wahljahr: Das heißt in Deutschland seit bald zwei Jahrzehnten, ein | |
SPD-Spitzenpolitiker demontiert sich öffentlich selbst. Für Politiker wie | |
Frank Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und nun auch Martin Schulz | |
erledigen sich ihre Kanzlerkandidaturen von selbst, weil die Gegnerin | |
einfach nicht auftaucht. Gerade in Wahlkampfzeiten haben wir sie wieder, | |
die unpolitische Kanzlerin. Als solche wirkt sie unverwundbar. | |
## War da noch was? | |
Flüchtlinge? War da noch was? Sie kümmert sich jetzt lieber um die | |
Alphabetisierung der Bild-Leser statt um Deutschkurse für Migranten. F wie | |
Feminismus? Fehlanzeige. Das soll doch bitte Alice Schwarzer machen, die | |
will ja auch nicht Kanzlerin werden. Lächeln. Überhaupt ist Merkel die | |
große Lächelnde geworden: M wie Mona Lisa. | |
Auch als sie diese Woche auf dem Brigitte-Forum nach den Attacken von | |
Martin Schulz befragt wird, lächelt sie das weg: „Wahlkampf ist vermutlich | |
anstrengend!“ So mancher Wähler lacht mit ihr, dabei verhöhnt Merkel mit | |
dieser Antwort nicht Schulz, sondern den Wähler selbst. Sie hat nur einmal | |
um einen Kurs geworben und ist fast auf die Nase gefallen damit: Wir | |
schaffen das, hat sie gesagt. Nur das. Und fast wäre es das gewesen. | |
Was haben sich Experten überschlagen mit Prognosen zum Ende der Ära Merkel. | |
Doch Merkel hat das H wie Haltung schnell wieder zu ihrer Privatsache | |
gemacht, hat tatenlos zugesehen, wie das Thema F wie Flucht sich wieder vor | |
die Grenzen Europas geschoben hat und möchte nun – zumindest für diesen | |
Wahlsommer – noch einmal alle glauben machen, die Welt könne heil sein. | |
Merkel beruhigt damit auch die Etwas-Linken, denn weil die CDU wieder | |
rechts ist, verschwindet die AfD zurück in die Bedeutungslosigkeit. Die | |
EU-Grenzen sind dicht. | |
## Das Fukushima-Prinzip | |
Einige Völkerrechtler sind der Meinung, die Abkommen mit Libyen verletzten | |
das Völkerrecht – macht nichts! Merkel ist der „Hau den Lukas“ der | |
Gegenwartspolitik: Sosehr man auch draufhaut, sie steht aufrecht und die | |
anderen kämpfen sich für ein paar Prozentpunkte schweißtreibend ab. | |
Denn Frau Merkel ist wieder Macht-Merkel. Als solche lächelt sie selbst | |
beim Thema „Ehe für alle“. Da ist es wieder, das Fukushima-Prinzip: Wenn | |
die Prognosen versichern, dass sie nichts riskiert, dann ist Merkel da. Ein | |
CDU-Tabuthema wird da flugs zur Gewissensfrage, wenn es ihr die | |
Kanzlerschaft sichern soll. Der Coup der Grünen ist geglückt. Doch Glück | |
bringen wird ihnen das nicht. Genauso wenig wie den anderen Kandidaten, | |
denn das Glück sichert sich Merkel. In jedem Wahljahr wird sie zur | |
Hauptdarstellerin ihres ganz persönlichen Sommermärchens und wir alle sehen | |
eingelullt dabei zu. | |
Das hat nur einen Haken: In einer Demokratie ist ein Wahlkampf keine | |
Kanzlerinnenschau. | |
1 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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