| # taz.de -- Klassik im Dienste der Herrschenden: Ein bisschen Musik | |
| > Ist es moralisch, den G-20-Oberhäuptern das von Angela Merkel anberaumte | |
| > Klassik-Konzert zu kredenzen, selbst wenn es nur Beethoven ist? | |
| Bild: Schickimicki in der Elphi: G20-Gipfelteilnehmer sind zum Konzert geladen. | |
| Hamburg taz | Jetzt sind es doch nicht Schönberg, Stockhausen, Rihm oder | |
| andere Zeitgenossen geworden. Nein, [1][Beethovens Neunte Sinfonie] wird | |
| Kanzlerin Angela Merkel den G-20-Teilnehmern am 7. Juli in der Hamburger | |
| Elbphilharmonie kredenzen lassen, wie ihr Sprecher jetzt bekannt gab. | |
| Nehmen wir lieber Altbewährtes, wird sie gedacht haben, keine Experimente, | |
| sicher ist sicher. Und ein bisschen revolutionär ist das Stück ja auch mit | |
| Schillers [2][„Ode an die Freude“], die zum humanitären Bekenntnis und zur | |
| Fortschritts-Utopie des Bürgertums wurde. | |
| Und gerade weil Beethoven vom brutalen Ausgang der Französischen | |
| Revolution, von der Napoleonischen Herrschaft und der in den deutschen | |
| Staaten wieder eingeführten Pressezensur enttäuscht war, wollte er ein | |
| Zeichen setzen. Wollte mit der 1814 – mitten in den Napoleonischen Kriegen | |
| – in Wien uraufgeführten Sinfonie musikalisch gegen den Konservatismus | |
| demonstrieren und zeigen, dass zumindest die Vision noch lebte. | |
| Wer will, kann die Wahl dieses Stück als sachten Hinweis an Putin, Erdoğan, | |
| Trump verstehen. Aber man kann diesen Subtext auch ignorieren und die | |
| Neunte als vermeintlich ur-deutsches Symbol, den klassischen Mythos oder | |
| einfach das perfekte Klischee festlicher Musik lesen. | |
| ## Dasselbe Stück wie bei der Eröffnung, nur besser | |
| Genau wegen dieses Symbolgehalts wurde der Schlusssatz auch [3][bei der | |
| Elbphilharmonie-Eröffnung] am 11. Januar in Merkels Beisein gespielt, und | |
| vielleicht will sie das jetzt einfach noch mal hören. Allerdings kompletter | |
| und besser als beim Eröffnungskonzert des NDR-Elbphilharmonieorchesters | |
| unter Thomas Hengelbrock. | |
| Dessen Performance, das unhomogene Spiel und die mäßige Jonglage der | |
| Elbphilharmonie-Akustik waren seither immer wieder kritisiert worden. Und | |
| lange bevor Anfang dieser Woche bekannt wurde, dass Hengelbrocks 2019 | |
| auslaufender Vertrag nicht verlängert wird, hat Merkel die lokale | |
| Konkurrenz, das Philharmonische Staatsorchester unter Kent Nagano gebeten, | |
| für die G 20 zu spielen. | |
| Nagano, von 2006 bis 2013 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, | |
| ist zwar auch kein Superstar, aber er hat die Musiker wenigstens so weit im | |
| Griff, dass sie nicht gegeneinander spielen, dass sie routiniert ein | |
| klangliches Ganzes bilden und mit der gnadenlos klaren | |
| Elbphilharmonie-Akustik klarkommen. | |
| Offiziell heißt es aus dem Bundeskanzleramt, von einer Underperformance der | |
| NDR-Elbphilharmoniker sei nie die Rede gewesen. Merkel habe vielmehr – | |
| quasi aus Gerechtigkeitsgründen – dem zweiten großen Orchester Hamburgs die | |
| Chance geben wollen, sich zu präsentieren. Außerdem, sagt ein | |
| Regierungssprecher, kenne und schätze Merkel Nagano seit Langem. | |
| Über das Programm durfte Nagano allerdings nicht entscheiden; das erledigte | |
| allein die Kanzlerin. Schließlich geht es bei G 20 nicht um ein | |
| visionär-ausgefeiltes Programm, sondern um ein bisschen Musik für die | |
| Politiker vor dem Abendessen im kleinen Elbphilharmonie-Saal gleich | |
| nebenan. | |
| Das gefällt nicht jedem. Man solle ein Konzerthaus „nicht umstandslos zur | |
| Bühne für die Mächtigen dieser Welt machen“, hat der Hamburger | |
| Ex-Hauptpastor Johann Hinrich Claussen, seit 2016 Kulturbeauftragter der | |
| Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), kürzlich in der Zeit gesagt. | |
| „Besonders dann nicht, wenn sich darunter einige hoch problematische | |
| Autokraten befinden.“ Künstler dürften nicht zu Dienern von Großpolitikern | |
| werden, sondern müssten die Würde der Freiheit öffentlich darstellen. | |
| Außerdem müsse Musik – wie früher die Kirchen-Oberen – der weltlichen | |
| Obrigkeit öffentlich ins Gewissen reden. Die Elbphilharmonie, fordert er, | |
| solle ein „musikalischer Fürstenspiegel“ sein. Doch für welche Art Konzert | |
| „man sich nicht schämen muss“, sagt Claussen nicht. Er verharrt im | |
| Allgemeinen. | |
| Derlei Appelle seien zwar sympathisch, aber hilflos, kontert der Hamburger | |
| Autor und Musiktheoretiker Roger Behrens. Claussen unterstelle, dass Musik | |
| Freiheit repräsentiere. Und wenn man sie bösen Menschen vorspiele, gehe die | |
| Freiheit kaputt. „Kann man ernsthaft glauben, dass solche Ideale, die mit | |
| der Musikkultur verknüpft werden, erst durch ein G-20-Konzert beschädigt | |
| werden?“ | |
| Abgesehen davon sei die Elbphilharmonie ohnehin ein Bau eines äußerst | |
| elitären Kulturverständnisses und eben kein Haus für alle. „Wenn es darum | |
| ginge, den Menschen in Hamburg Hochkultur nahezubringen, hätte man ihnen | |
| Freikarten für die schon existierende Staatsoper verteilen können“, sagt | |
| Behrens. | |
| Zweck des Baus sei nicht das Gemeinwohl gewesen. „Das Kapital, das | |
| verschleudert wurde, muss nun durch den Konzertbetrieb wieder reingeholt | |
| werden.“ Sowie durch den vom Senat geplanten Verkauf der angrenzenden | |
| Luxuswohnungen in 20 Jahren zwecks Querfinanzierung. „Auch der | |
| Musikbetrieb“, sagt Behrens, „folgt dem Profit-Motiv – wie jeder Betrieb. | |
| Was moralisch für Musik gelten soll, müsste dann auch für Brot oder | |
| Kugelschreiber gelten.“ | |
| Dabei geht es auch anders. Klassik kann durchaus Politik überspringen, | |
| Völker einen, Mitmenschlichkeit zelebrieren. [4][Daniel Barenboims | |
| Said-Akademie] für israelische und arabische Musiker zeigt es, auch das | |
| Simón-Bolívar-Jugendsinfonieorchester, mit dem der Venezolaner Gustavo | |
| Dudamel Kinder von der Straße holte. | |
| Das 2015 gegründete [5][Syrian Expat Philharmonic Orchestra] (Sepo) zählt | |
| ebenso dazu wie der deutsch-arabische Projektchor, der kürzlich beim | |
| Festival „Salam Syria“ in der Elbphilharmonie auftrat. Aber diese Risse im | |
| aalglatten Musikbetrieb bleiben Ausnahmen; der Applaus der Wohlmeinenden | |
| übertönt das schlechte Gewissen. | |
| ## Wie sich die Musiker fühlen, fragt niemand | |
| Wobei man doch genau diese reibungslose Inszenierung – für die | |
| G-20-Gipfelteilnehmer durchgeplanter denn je – gut subversiv nutzen könnte. | |
| „Wenn man Putin und Trump zwänge, gemeinsam die Solopassagen in Beethovens | |
| Neunter zu Biermanns Gitarrenbegleitung zu singen: Dann würde die | |
| Verlogenheit deutlich hörbar – und dann wäre auch der Zusammenhang von | |
| Musik, Freiheit und Moral zu diskutieren,“ sagt Behrens. | |
| Aber das wird natürlich nicht passieren: Interaktion von Musikern und | |
| Politikern ist nicht vorgesehen, alle werden brav tun, was man ihnen sagt. | |
| Unbeachtet bleibt indessen die Frage, wie die Musiker dazu stehen, dass sie | |
| vor diesem Publikum spielen müssen. Wie sich US-Bürger Kent Nagano fühlt, | |
| wenn er – Trump im Blick – dirigiert. Orchestersprecher Hannes Rathjen | |
| sagt, man wolle sich „weder zum Anlass äußeren, noch ein Urteil über die | |
| Zusammensetzung der Gastnationen abgeben“. Aber was die multinational | |
| gemischten Musiker wohl spüren, wenn sie den ersten Reihen Putin und | |
| Erdoğan sehen? | |
| Denn hier wird ja nicht nur die Musik zum Werkzeug. Es ist genauso misslich | |
| oder zumindest ebenso übergriffig, die Musiker und Musikerinnen zu | |
| instrumentalisieren, die qua Vertrag verpflichtet sind, zur Arbeit zu | |
| erscheinen. | |
| Sicher, auch auf Tourneen spielen sie in autoritär regierten Staaten und | |
| vor entsprechender Personage. Aber der G-20-Gipfel spielt eben hierzulande | |
| und nicht in Russland, bietet in jenen Tagen zudem eine besonders hohe, | |
| weil international bestückte Autokratendichte. | |
| „Ich halte die Instrumentalisierung von Musik grundsätzlich für sehr | |
| verwerflich und könnte jeden Dirigenten und Musiker verstehen, der da nicht | |
| mitmacht“, sagt Amelie Deuflhard, Leiterin von Kampnagel, des | |
| Internationalen Zentrums für schöne Künste. „Allerdings ist es für Leiter | |
| eines Hauses oder Orchesters sicher fast unmöglich, eine solche Anfrage | |
| abzulehnen.“ | |
| Das hat Kent Nagano auch nicht getan. Und Elbphilharmonie-Intendant | |
| Christoph Lieben-Seutter lässt auf die Frage nach seiner Einschätzung | |
| ausrichten, der stehe der taz „für ein Interview zu diesem Thema nicht zur | |
| Verfügung“. | |
| Und die Erfinder der Elbphilharmonie, die Architekten und Projektentwickler | |
| Alexander Gérard und Jana Marko, die das alles kleiner und billiger | |
| planten, bevor man sie aus dem Projekt herauskaufte? Er sehe das „emotional | |
| sehr gelassen“, sagt Gérard. Die Elbphilharmonie sei „ein Ort für alle, | |
| auch für diejenigen, deren politische Ansichten und Handlungen wir zutiefst | |
| ablehnen“. | |
| Ein ganz klein wenig scheint er es auch mit Schiller „Ästhetischer | |
| Erziehung des Menschen“ zu halten. „Kann Kultur tatsächlich keinen Einfluss | |
| nehmen und keinen positiven gesellschaftlichen Beitrag leisten, dann gnade | |
| nicht nur Herrn Claussen Gott.“ | |
| 22 Jun 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=t3217H8JppI | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=-kcOpyM9cBg | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=fmMIhXCREsw | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=EA88v6OM7oc | |
| [5] https://www.youtube.com/watch?v=F7VCRMrIHc8 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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