# taz.de -- Der Koch der Kreuzberger: „Zum Essen bin ich zu hibbelig“ | |
> 30 Jahre lang hat Jürgen Palla die Kantine im Rathaus Kreuzberg geleitet. | |
> Im Juli hört er auf – auch wegen des Bürgerbegehrens für veganes Essen. | |
Bild: „Ich bin immer gern hierher gekommen“: Jürgen Palla in seiner Rathau… | |
taz: Herr Palla, macht Fleisch essen schlank? | |
Jürgen Palla: Mit Fleisch ist es wie mit jedem Essen: Wenn ich es in der | |
Waage halte, ist es okay. Wieso? | |
Weil Sie als Chef der Rathauskantine Kreuzberg täglich von Buletten und | |
Rouladen umgeben sind, aber keinen Bauch haben. | |
Ich probiere, und damit ist gut. Essen tue ich hier nichts. | |
Gar nichts? | |
Ich kann hier nicht essen. Dafür habe ich nicht die Ruhe. Ich schau, ob in | |
der Küche alles läuft, löse die Frauen an der Kasse ab, bereite Dinge für | |
den nächsten Tag vor. Nee, zum Essen bin ich zu hibbelig. | |
Sie müssen doch im Laufe des Tages irgendwas zu sich nehmen. | |
Ich esse morgens mal ’ne Bockwurst. Das reicht. Sie werden auch keinen | |
Konditor finden, der auf der Arbeit Kuchen isst, oder einen Metzger, der | |
Wurst isst. Die Metzger essen Kuchen. Die Konditoren essen Wurst. Und der | |
Koch isst sein Essen nicht. So ist das. Wenn ich aus der Kantine rausgehe, | |
dann hab ich schon Hunger und nehme mir meistens was mit für zu Hause. | |
30 Jahre lang haben Sie die Kreuzberger bekocht. Ende Juli hören Sie auf. | |
Warum? | |
Eine so lange Zeit an einer Stelle reicht, die ganze Kocherei, die ganze | |
Verantwortung. Ich bin 24 Stunden mit dem Kopf auf Arbeit. Nachts wache ich | |
auf und denke, uh, ich hab vergessen, dies oder jenes zu bestellen. Ich bin | |
selbständig. Wenn es heiß ist draußen, gehen die Leute lieber zum Imbiss. | |
Dann stehe ich hier oben und das Essen bleibt übrig. Wer irgendwo | |
angestellt ist, muss sich diese Gedanken nicht machen. Und dann gab es auch | |
noch diese Unterschriftensammlung für veganes Essen… | |
Eine Initiative will, dass in Schulkantinen und in der Rathauskantine des | |
Bezirks täglich ein Gericht ohne tierische Produkte angeboten wird, und hat | |
ein Bürgerbegehren durchgeführt. | |
Das war der letzte Knaller. So was braucht doch kein Mensch. Da könnte ich | |
ja gleich einen Sack Möhren hinstellen! Oder Weißkohl. Oder Sellerie. Klar, | |
jeder soll glücklich werden, wie er will. Aber es muss doch nicht sein, | |
dass man den Kantinen-Betreibern das vorschreibt. Wo sind wir denn hier? | |
In Kreuzberg. Es haben immerhin fast 10.000 dafür unterschrieben. Offenbar | |
gibt es ein Bedürfnis nach veganem Essen. | |
Wenn mich Gäste hier nach veganem Essen gefragt hätten, hätte ich mich | |
informiert. Aber es hat nie einer gefragt. Wenn es so sein soll, gerne, | |
aber ohne mich. Ich bin raus. | |
Sie sind ein Mensch mit Prinzipien. | |
Was ich mir vorgenommen habe, ziehe ich durch. Vegan kommt mir nicht in die | |
Tüte. | |
Was haben Sie nur gegen Sellerieschnitzel? | |
Sellerieschnitzel? Das haben wir auch schon gemacht, aber das haben wir | |
nicht vegan genannt. Dazu eine schöne Remoulade, hmm… Klar, da ist dann | |
wieder Ei drin. Aber irgendeinen Geschmacksträger braucht es schon. Wenn | |
man wirklich vegan kochen will, muss man die Grundlagen gelernt haben, | |
damit es am Ende auch nach was aussieht. Ich habe davon aber keine Ahnung. | |
Da soll sich mein Nachfolger mit rumschlagen. | |
Was essen Ihre Gäste denn besonders gern? | |
Alles, was sie sich nicht selbst kochen: Königsberger Klopse, Rinderbraten, | |
Buletten. Es gibt bei uns auch jeden Tag ein vegetarisches Gericht, aber | |
kein veganes. Mir ist beim Essen wichtig, dass es gut aussieht und | |
schmeckt. Und preiswert ist. 5,90 Euro kostet das teuerste Gericht hier. | |
Ich war kürzlich in Amsterdam, die rufen Preise auf – und kochen können die | |
gar nicht, auch nicht vegan. Die tun einfach alles in die Fritteuse. | |
Hat sich der Geschmack der Kreuzberger im Laufe der Jahrzehnte verändert? | |
Früher waren es alles Fleischesser, heute sagen die Leute: Das muss nicht | |
jeden Tag sein. Im Großen und Ganzen koche ich aber dasselbe wie früher, | |
deutsche Gerichte. Wenn ich Chop Suey hinschreibe, fragen die Gäste: Was | |
ist das denn? Mit so Schnickschnack fange ich gar nicht an. | |
Gibt es Innereien? | |
Kaum. Manchmal braten wir Rinderleber. Früher haben wir Lungenhaschee und | |
Kutteln gemacht, aber so etwas gibt es nicht mehr. Als Kind musste ich | |
Innereien essen. Das kann ich heute nicht mal probieren, da hab ich richtig | |
eine Phobie. Das möchte ich den Leuten nicht zumuten. | |
Warum mussten Sie das essen? | |
Ich komme aus Waldshut in Südbaden, vom Dorf. Ich habe vier größere | |
Geschwister. Mein Vater war Elektriker, meine Mutter Bedienung. Jedes Jahr | |
wurde bei uns geschlachtet. Dann mussten wir immer Kesselfleisch essen, | |
gekochte Lunge, solche Sachen, mit Sauerkraut. Später habe ich mal im | |
KaDeWe gearbeitet, da gab es jeden Tag Nierenragout. Ich musste immer die | |
Nieren putzen, waschen, schneiden, uäh. Das kann ich nicht ab. | |
Was hat Sie nach Berlin verschlagen? | |
Ich wollte meinen Wehrdienst bei den Fallschirmjägern machen, da bekam ich | |
aber keinen Platz. 1971 hab ich gesagt: Aus die Maus, jetzt geh ich nach | |
Berlin, dann muss ich gar nicht zur Bundeswehr. Ich habe als Koch im | |
Spätdienst eines großen Hotels angefangen. Ich war damals so ein Landei. | |
Ich habe am Adenauerplatz in einem Zimmer gewohnt. Und wenn ich abends über | |
den Ku’damm gelaufen bin, habe ich mich gefragt: Warum stehen die Frauen da | |
so allein rum? Hier ist doch gar keine Bushaltestelle. Bis jemand gesagt | |
hat: Alter Falter, wo kommst du denn her? | |
Und wie kam es, dass Sie die Kantine im Rathaus Kreuzberg übernommen haben? | |
Ich habe 1984 die Meisterprüfung gemacht. Ein Kollege erzählte, dass die | |
Kantine frei wird. Ich war gerade frisch verheiratet, mit einem Kind. Wir | |
haben uns gesagt: Bei einer Kantine muss ich abends wenigstens nicht | |
arbeiten und habe auch am Wochenende Zeit für die Kinder. Also habe ich | |
mich beworben. Wir wohnten damals schon in Rudow. Dass ich in Kreuzberg | |
gelandet bin, war Zufall. | |
In 30 Jahren haben Sie sicher einige Bezirkspolitiker kommen und gehen | |
sehen. | |
Ich hab sieben Bürgermeister durch. Monika Herrmann hat früher hier | |
gegessen, jetzt hat sie ihr Büro an der Frankfurter Allee. Der | |
Bürgermeister davor, Franz Schulz, kam auch immer her. Ein treuer Gast. Die | |
Grünen waren am längsten da, die hatten immer den besten Appetit. | |
Was essen Grüne so? | |
Also Franz Schulz hat immer rustikal gegessen. | |
Kochen Sie denn den Grünen zuliebe bio? | |
Nee, zu teuer. Es ist jetzt schon schwer genug, die Preise zu halten. Ich | |
muss die Leute bezahlen, die Pacht, das Finanzamt, die Krankenkasse. Zwei | |
oder drei Feiertage – schon fehlt der Umsatz. Früher war mehr Geschäft. Da | |
haben die Leute einen Schein hingelegt, zack. Heute sortieren sie das | |
Kleingeld aus der Tasche. Die müssen alle sparen. | |
Vielleicht würde das Geschäft besser laufen, wenn Sie Ihr Angebot verändern | |
würden? | |
Das könnte sein. Aber dann müsste ich auch die Preise ändern. | |
Was für Leute kommen zu Ihnen? | |
Alles. Rechtsanwälte, Beamte, die aus dem Rathaus, junge Leute, | |
Arbeitslose. Ich lege Wert darauf, dass wir einen guten Eintopf kochen. | |
Viele leisten sich nur den, deshalb muss er schmecken. Ich habe auch viele | |
Touristen hier. Die Aussicht aus dem zehnten Stock macht was her, wir | |
stehen in einigen Reiseführern. Die Leute müssen nicht auf den Funkturm, | |
hier ist es billiger. | |
Und die Gäste aus der grün dominierten Verwaltung fordern kein Bioessen | |
ein? | |
Da hat sich bisher keiner eingemischt, Gott sein Dank. | |
Fühlen Sie sich in Kreuzberg politisch zu Hause? | |
Ich bin kein politischer Mensch. Ich schaue mir das Elend an und denke, wir | |
werden sowieso nur verarscht. | |
Das klingt jetzt ein bisschen AfD-mäßig. | |
Nein! Das ist einfach so. Wenn ich mir die Nachrichten angucke, denke ich, | |
das geht doch nicht. Zum Beispiel das Theater um Anis Amri, den Attentäter. | |
Da versucht die Polizei im Nachhinein, Fehler zu vertuschen. Oder der Müll | |
mit dem Flughafen, wo sowieso nie ein Flugzeug starten wird. Das ist doch | |
eine Lachnummer. Andere Staaten bauen in zwei Jahren ganze Städte auf, wir | |
sind blamiert vor der ganzen Welt. Glauben Sie mir, viele Leute denken | |
genauso wie ich, sie sind frustriert. | |
Haben Sie je mit Monika Herrmann und Franz Schulz über Politik geredet? Die | |
hätten da bestimmt was zu sagen. | |
Nee, so weit kam es nicht. Hätte ich aber gern gemacht. | |
Gehen Sie denn wählen? | |
Ja klar. Wer nicht wählt, hat verloren. Man kann nicht meckern, aber nicht | |
wählen gehen, das geht nicht. | |
Aber wenn Sie sich von Politikern nur verarscht fühlen, was für einen Sinn | |
hat das dann? | |
Ich kann ja trotzdem wählen gehen, um den anderen keine Pluspunkte zu | |
geben. Die AfD bekommt meine Stimme aber nicht. | |
Zurück zum Essen: Ist Ihnen auch mal etwas so richtig misslungen? | |
Das passiert. Da hast du einen neuen Lieferanten, bestellst günstige | |
Fleischspieße, dann sind die Dinger so knüppelhart, dass man sie nicht | |
essen kann. Schnäppchen sind meistens ein Schuss in den Ofen. Einmal habe | |
ich Gänsekeulen gemacht für 100 Personen, dazu sollte es hausgemachte Klöße | |
geben. Im Wasser haben sich dann alle aufgelöst. So eine Blamage! Ich hatte | |
nie vorher Klöße gemacht. Wir haben dann schnell Salzkartoffeln gekocht. Es | |
sind auch andere Sachen schiefgelaufen. Einmal ist die Waschmaschine hier | |
oben in Feuer aufgegangen. Seitdem haben wir Rauchmelder im ganzen Haus. | |
Was sicher sinnvoll ist. | |
Ja klar. Am Anfang hatten sie die Rauchmelder direkt über den Ofen gesetzt, | |
da hatten wir regelmäßig Feueralarm und alle mussten das Rathaus verlassen. | |
Es gab immer wechselnde Pförtner, keiner konnte die Sirene ausschalten. Wir | |
haben uns vor der Tür getroffen und rumgealbert: Danke für die | |
Zigarettenpause! Nach zwei Wochen haben sie die Rauchmelder umgebaut. | |
Sie verstehen sich gut mit Ihren Kollegen? | |
Ich habe tolles Personal. Ohne meine Leute wäre ich nicht 30 Jahre | |
geblieben. Meine besten Frauen sind auch fast 25 Jahre da. Die kennen | |
jeden, halten die Kundschaft aufrecht. Der neue Pächter übernimmt meine | |
Angestellten. Das ist das Beste, was er machen kann. | |
Die Frauen sind wirklich freundlich. | |
Kein Wunder bei dem Chef … Im Ernst, wir haben ein tolles Klima. | |
Kommen Obdachlose hier hoch? | |
Ich hab zwei, drei, die kriegen von mir einen Kaffee und ein Brötchen, dann | |
schick ich sie wieder raus. Die kenn ich schon ein paar Jahre. Manche | |
schmeiße ich auch raus, die kann man den Gästen nicht zumuten. Es kann ja | |
passieren, dass man abstürzt. Trotzdem sollte man sich waschen und | |
benehmen. Und nicht die Toilette versauen. | |
Wie geht es für Sie nach dem Abschied hier weiter? | |
Ich suche mir einen neuen Job, der etwas ruhiger ist. Ich werde zwar 64, | |
aber ich fühle mich noch jung, nur zu Hause sitzen wäre nichts für mich. Am | |
liebsten würde ich für das Gesundheitsamt Restaurants kontrollieren. Es | |
gibt Lokale, die sind vorne schön eingedeckt, die Küche ist aber ein | |
Drecksloch. Das wäre was für mich. Da müsste ich hinterher wahrscheinlich | |
mit Leibwächtern nach Hause gehen … Dafür müsste ich aber geschult werden, | |
das wird eher nichts. Irgendwas werde ich schon machen. Meine Mutter ist | |
letztes Jahr gestorben, mit 96. Wenn ich die Gene habe, bin ich glücklich. | |
Überlegen Sie, nach Süddeutschland zurückzugehen? | |
Meine Geschwister wollten immer, dass ich nach Hause komme und da einen | |
Gasthof aufmache. Aber Dorf ist Dorf. Da klappen sie abends die | |
Bürgersteige hoch, jeder weiß alles von jedem. Das ist mir nichts. Außerdem | |
sind meine Kinder und Enkel hier. Wir fahren im Sommer ein paar Wochen nach | |
Süddeutschland, der erste lange Urlaub seit Jahren. Wir wollen mit dem Rad | |
um den Bodensee. | |
Werden Sie weiter kochen? | |
Ja klar, erst mal zu Hause. Da muss ich mich allerdings umgewöhnen mit den | |
Mengen. Zwei Personen sind etwas anderes als 300 bis 400. | |
Kocht Ihre Frau auch? | |
Nein. Ich bin einmal geschieden, die zweite Frau ist gestorben, ich habe | |
jetzt die dritte Frau. Gekocht hat keine. Das mache ich. Das dauert mir | |
sonst alles zu lange. | |
Was werden Sie an der Rathauskantine vermissen? | |
Die Sonnenaufgänge. Morgens, wenn ich hier reinkomme, ist es jedes Mal ein | |
anderes Bild. Da kann ich noch so schlecht drauf sein, aber wenn die Sonne | |
aufgeht über der Stadt, ist das phänomenal. Auch das Rumalbern und | |
Gequatsche mit den Leuten werde ich vermissen. Ich bin immer gern | |
hierhergekommen. | |
18 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
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