# taz.de -- Diskussion in El Salvador: Ein Fanal für legale Abtreibungen | |
> In El Salvador werden Frauen selbst nach einer Fehlgeburt wegen Mordes | |
> verurteilt. Eine Filmemacherin setzt ein sehr persönliches Zeichen. | |
Bild: Am 8. März forderten die Frauen auf den Straßen El Salvadors die Legali… | |
SAN SALVADOR taz | In Mitteleuropa wäre das eine Geschichte, die man der | |
besten Freundin erzählt. Es wäre kein Bekenntnis, sondern einfach eine | |
Geschichte, die man irgendwann einmal erzählen muss. Marcela Zamora hat sie | |
öffentlich erzählt, in El Faro, Lateinamerikas ältester und viel beachteter | |
Internet-Zeitung, die in El Salvador erscheint. Der Titel ihres Textes: | |
„Ich habe abgetrieben.“ Das war Ende Januar. Seither ist die öffentliche | |
Debatte darüber nicht mehr verstummt. | |
In El Salvador ist ein solcher Text mehr als ein Bekenntnis, er ist ein | |
Fanal. Das zentralamerikanische Land gehört – neben dem Vatikan oder | |
Nicaragua – zu den weltweit ganz wenigen Staaten, in denen ein | |
Schwangerschaftsabbruch unter allen Umständen verboten ist. Unter wirklich | |
allen. | |
Selbst zehnjährige Mädchen, die nach einer Vergewaltigung schwanger werden, | |
müssen das Kind austragen. Krebskranken Schwangeren wird eine Chemotherapie | |
verweigert, weil die den Fötus schädigen könnte. Es gibt selbst Fälle, in | |
denen Frauen nach Fehlgeburten verurteilt wurden. Und das nicht nur zu acht | |
Jahren Haft, der Höchststrafe für eine Abtreibung. Siebzehn Frauen wurden | |
zu dreißig bis vierzig Jahren verurteilt, weil das Ableben des Fötus von | |
den Gerichten als Mord bewertet wurde. | |
Dabei ist noch nicht einmal klar, was eine Abtreibung im juristischen Sinn | |
eigentlich ist. Im Strafrecht ist weder die Grenze zwischen einem | |
Schwangerschaftsabbruch und einer eingeleiteten Geburt definiert noch der | |
Unterschied zwischen einer Abtreibung (spanisch: aborto provocado) und | |
einer Fehlgeburt (aborto espontáneo). Der entsprechende Artikel 133a | |
spricht einfach nur von „aborto“. | |
„Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob das, was ich vor über zehn Jahren | |
in einem anderen Land erlebt habe, mich in El Salvador ins Gefängnis | |
bringen würde“, schreibt Marcela Zamora. „Ich habe nachgeforscht. Ich kann | |
es erzählen.“ In welchem Land der Eingriff vorgenommen wurde, sagt sie | |
nicht. | |
## Weiterleben und irgendwann Mutter sein | |
Ihr Text erzählt in ganz schlichten und eben deshalb ergreifenden Worten | |
ihre Geschichte: dass sie sich unwohl gefühlt habe, zum Arzt gegangen sei, | |
und der habe, obwohl sie damals die Pille nahm und regelmäßig ihre Periode | |
hatte, eine Schwangerschaft festgestellt. Bei einer Ultraschalluntersuchung | |
stellte sich heraus: Der Fötus hatte ein großes Blutgerinnsel am Kopf. Der | |
Arzt riet zu einer sofortigen Abtreibung. Sollte der Fötus sich lösen und | |
absterben, sei ihr Leben in Gefahr. | |
Sie fragte nach anderen Möglichkeiten. Einen Monat Bettruhe und dann eine | |
weitere Untersuchung, meinte der Arzt. Nach einer Woche fühlte sie sich | |
noch elender, ging wieder zum Arzt, und der stellte weitere Blutgerinnsel | |
am Fötus fest. Am selben Nachmittag wurde der Eingriff vorgenommen. „Ich | |
habe nicht geweint. Ich fühlte mich nicht wie ein schlechter Mensch“, | |
schreibt Zamora. „Ich habe entschieden, dass ich weiterleben und irgendwann | |
einmal Mutter zu sein wollte.“ Sie hat heute eine vierjährige Tochter. | |
Marcela Zamora ist in El Salvador nicht irgendwer. Sie ist die bekannteste | |
Dokumentarfilmerin des Landes, hat internationale Preise gewonnen. Die | |
Lateinamerika-Ausgabe der Zeitschrift Forbes zählt sie in ihrem jüngsten | |
Ranking zu den einflussreichsten Frauen Zentralamerikas. | |
Die 36-Jährige hat helle Haare, ihre Haut ist blass. Man sieht ihr | |
europäische Vorfahren an. So etwas schätzt man in der lokalen Elite. Man | |
sieht dann gerne darüber hinweg, dass diese Haut voller Tattoos ist. Sie | |
ist eben ein bisschen verrückt, Kinoleute sind so. Was zählt, ist Erfolg | |
und ein guter Name. | |
Marcela ist die Tochter von Rubén Zamora, der im Bürgerkrieg (1980 bis | |
1992) einer der führenden Köpfe der zivilen Opposition war. Gemeinsam mit | |
ihm hat sie damals ein Bombenattentat überlebt. Nach dem Krieg war Zamora | |
der erste Präsidentschaftskandidat der Linken, heute ist er Botschafter bei | |
den Vereinten Nationen. Marcela gehört zu den besseren Kreisen. | |
## Frauenfeindlichkeit und Klassenjustiz | |
„Natürlich spielt es eine Rolle, wer diesen Text geschrieben hat“, sagt | |
sie. Abtreibung werde als Problem von armen, ungebildeten Frauen | |
dargestellt. Für die Töchter der Mittel- und Oberschicht gibt es schon | |
immer Möglichkeiten, für ein paar hundert Dollar abtreiben zu lassen. „Die | |
Gesetzgebung ist nicht nur frauenfeindlich, es handelt sich auch um | |
Klassenjustiz.“ | |
Tatsächlich kommen die siebzehn Frauen, die wegen „Mordes“ an einem Fötus | |
zu Haftstrafen von zwischen dreißig und vierzig Jahren verurteilt wurden, | |
allesamt aus sozial schwächeren Vierteln, keine von ihnen ging länger als | |
drei Jahre zur Schule. Bei keiner ist klar, ob sie tatsächlich abgetrieben | |
hat. Bei etlichen ist offensichtlich: Es handelte sich um eine Fehlgeburt. | |
„Das Thema Abtreibung wurde vorher nur sehr abstrakt behandelt oder als ein | |
Problem, das es nur in den Armenvierteln gibt“, sagt Sara García von der | |
„Agrupación Ciudadana“, einer Initiative aus Feministinnen und Anwälten, | |
die sich um die inhaftierten Opfer dieser Gesetzgebung und seiner absurden | |
Auslegung kümmert. „Marcela hat ihm ein Gesicht gegeben, und das ist eine | |
ganz neue Qualität.“ | |
Die mittelalterliche Gesetzgebung und ihre Auslegung sind gerade einmal | |
zwanzig Jahre alt. Vorher galt in El Salvador eine Indikationslösung: | |
Frauen war nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für ihre Gesundheit, bei | |
schwerer Missbildung des Fötus und bei Schwangerschaften auf Grund von | |
Zwangsprostitution ein Abbruch erlaubt. | |
1997 aber forderte der damalige Erzbischof eine Verschärfung. Er schickte | |
so lange die Kinder der zahlreichen katholischen Privatschulen zu | |
Demonstrationen auf die Straße, bis das Parlament einbrach und den „Schutz | |
des Lebens vom Augenblick der Empfängnis an“ in die Verfassung schrieb. | |
## Die Frauenbewegung ist zu europäisch | |
Im Sommer vergangenen Jahres brachte der rechte Abgeordnete Ricardo | |
Velásquez Parker einen Gesetzesvorschlag ein, nach dem das Strafmaß für | |
Abtreibungen dem von Morden angeglichen werden solle. Die linke Lorena Peña | |
konterte mit einem Gegenvorschlag, der zurück will zur alten | |
Indikationslösung. Beide Gesetzesinitiativen liegen derzeit bei der | |
zuständigen Parlamentskommission. | |
„Ich bin eigentlich gar keine Feministin“, sagt Marcela Zamora. „Ich habe | |
immer Distanz gehalten zur Frauenbewegung.“ Die entsprechenden | |
Organisationen hingen am Tropf europäischer Geldgeber und ließen sich von | |
diesen beeinflussen. Ihre Vorstellungen seien eher europäisch denn | |
zentralamerikanisch: „Ich kann von Frauen, die misshandelt werden, nicht | |
verlangen, dass sie ihre Männer anzeigen“, sagt sie. „El Salvador ist ein | |
gewalttätiges Land. Damit schickt man die Frauen direkt in den Tod.“ | |
In ihren Filmen beschäftigt sie sich mit sozialen Themen und | |
Menschenrechten, mit dem Schicksal von Migrantinnen oder dem von | |
Folteropfern. Sie nähert sich ihren Sujets eher mitfühlend als analytisch, | |
und es war Mitgefühl mit den Frauen im Gefängnis, das sie zum Schreiben | |
ihres Textes veranlasst hat. | |
„Er lag drei Monate lang auf meinem Schreibtisch“, erzählt sie. „Ich habe | |
ihn immer wieder überarbeitet, habe die Überschrift drei Mal geändert.“ | |
Dann habe sie ihr Partner überzeugt: Wenn sie sich schon oute, dann | |
richtig. „Ich habe abgetrieben.“ | |
An dem Tag, an dem der Text erschienen ist – es war der 31. Januar – hat | |
sie das Haus nicht verlassen und ihre Tochter nicht in den Kindergarten | |
geschickt. „Ich dachte, man würde mich in Stücke reißen.“ Ihre Konten auf | |
den sozialen Netzwerken und ihr Mailpostfach liefen über. Sie bekam weit | |
über tausend Hassmails. „Hunderte wünschten, ich wäre besser abgetrieben | |
worden, und alle argumentierten mit Gott.“ Aber auf je zwei Hassmails kam | |
eine sehr nachdenkliche, sogar von evangelikalen Pastoren. | |
„Ich habe eine Debatte angestoßen“, sagt Zamora. „Mehr nicht.“ An einen | |
schnellen Erfolg glaubt sie nicht. So war das auch 1971, als zuerst im | |
französischen Nouvel Observateur und dann im deutschen Stern Hunderte von | |
Frauen in Titelgeschichten bekannten: „Wir haben abgetrieben.“ Bis zu einer | |
wirklichen Liberalisierung des Abtreibungsrechts dauerte es noch Jahre. | |
Aber ein Anfang war gemacht. | |
7 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Toni Keppeler | |
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