# taz.de -- Museumschef über Desinteresse an Kunst: „Das Wissen bröckelt“ | |
> Christoph Martin Vogtherr, neuer Chef der Hamburger Kunsthalle, über die | |
> Schwierigkeit, neue Kreise für Kunst zu interessieren. | |
Bild: Will Verständnis für Kunst schaffen: Christoph Martin Vogtherr | |
taz: Herr Vogtherr, braucht jeder Mensch Kunst, oder ist das ein Dogma | |
interessierter Kreise? | |
Christoph Martin Vogtherr: Ich glaube, nicht jeder Mensch braucht Kunst, | |
aber sehr viele. Und einigen würde es gut tun, mit Kunst in Berührung zu | |
kommen. Kunst transportiert eine grundlegende Energie, sonst wäre sie keine | |
Konstante seit Zehntausenden Jahren. Aber die Art, wie man sich mit Kunst | |
verbindet, ändert sich, und Museen sind da derzeit ein wichtiges Vehikel. | |
Aber ein armes. Warum sind Sie von der Londoner Wallace Collection an | |
Hamburgs unterfinanzierte Kunsthalle gewechselt? | |
Während der Jahre, in denen ich die Londoner Sammlung geleitet habe, wurden | |
die Subventionen für alle Nationalmuseen um 33 Prozent gekürzt. Auf | |
kommunaler Ebene war es noch ärger, da wurden viele Museen geschlossen. In | |
anderen Worten: Museen sind weltweit strukturell unterfinanziert, aber | |
damit kann man arbeiten. Auch in Hamburg müssen wir durch Eigeneinnahmen | |
und Fundraising sicherstellen, dass alles funktioniert. Aber man klagt hier | |
auf hohem Niveau. | |
Sie brauchen gar nichts? | |
Die Frage kommt zu früh; so gut kenne ich die Strukturen hier noch nicht. | |
Tatsache ist: Wir haben ein weitgehend saniertes Haus in sehr gutem | |
Zustand. Noch nicht saniert ist im Altbau der Bereich für Zeichnungen und | |
Druckgrafik, das Archiv und die Bibliothek. Außerdem müssen wir die | |
Zuständigkeiten für Neue Medien zusammenführen. | |
Außerdem wollen Sie die Sammlung ins Zentrum rücken. Wird es keine | |
Sonderausstellungen mehr geben? | |
Ausstellungen und Sammlungspräsentationen sollten in einem guten Verhältnis | |
stehen, ohne dass ich mich auf Prozentzahlen festlegen möchte. Der | |
internationale Kunstbetrieb hat ja absurde Ausmaße erreicht. Da hat eine | |
Beschleunigung stattgefunden, die niemandem mehr gut tut. | |
Mit Sonderausstellungen in immer kürzerer Folge. | |
Ja, Kunstwerke werden stark beansprucht, wenn sie häufig auf Reisen in | |
andere Museen geschickt werden. Das führt auch zu einer kürzeren | |
Aufmerksamkeitsspanne bei den Besuchern durch schnell wechselnde | |
Ausstellungen. Einige Museen reagieren, indem sie die Sammlung als | |
Sonderausstellung betiteln – und plötzlich sind alle begeistert. | |
Wie die Kunsthalle mit ihrer Reihe „Honey, I Rearranged The Collection“. | |
Ja. Und das zeigt, wo das Problem liegt: dass man unglaublich gute Sachen | |
im Haus hat, die nicht bekannt sind. Mit guten Ideen für | |
Sammlungspräsentation können sie bekannt gemacht werden. Ausstellungen mit | |
geliehenen Arbeiten bleiben wichtiger Teil der Museumsarbeit, dürfen aber | |
nicht das ganze Haus übernehmen. | |
Aber die behördliche Vorgabe, sich auf die Sammlung zu fokussieren, ist | |
doch der Finanznot geschuldet. | |
Nein, mit dieser Idee bin ich selber angetreten. Und vernünftig mit der | |
eigenen Sammlung zu arbeiten, ist ja auch nicht billig. Aber letztlich geht | |
es nicht ums Geld, sondern um die Frage: Was soll ein Museum für eine Stadt | |
bedeuten, was kann es einer Gesellschaft offerieren? Und ist für die | |
jeweilige Frage die Sammlung, eine Ausstellung oder eine Kombination das | |
richtige Medium? Es geht mir um Dialog. | |
Ist die Kunsthalle für Sie ein politischer Ort? | |
Sie ist ein kommunikativer Ort, wo sich die Gesellschaft über Kunst äußern | |
kann. Und wo sie neue Welten entdeckt, indem sie mit den Augen anderer | |
blickt. | |
Welcher „anderen“? | |
Es ist für jedes Kunstmuseum die große Herausforderung, wie es neben dem | |
Bürgertum, das mit Neugier auf Kunst groß wurde, auch Bevölkerungsschichten | |
mit geringem Einkommen und niedrigerem Bildungsniveau anziehen kann. | |
Zweites Ziel: Menschen zu erreichen, die neu in Hamburg und im europäischen | |
Kulturkreis sind. | |
Eine Museumspädagogin berichtete von der Weigerung muslimischer | |
Viertklässler, Nackte auf Gemälden anzugucken; die Führung musste | |
abgebrochen werden. Was tun? | |
Wenn man an den Punkt gekommen ist, ist es wahrscheinlich zu spät. | |
Museumspädagogik ist kein Reparaturbetrieb, sondern etwas, das auf eine | |
Gesellschaft um das Museum herum reagiert, mit ihr arbeitet. Ich habe in | |
London die Erfahrung gemacht – und diese Politik verfolgt auch unsere | |
Vermittlungsabteilung –, dass am besten langfristige Initiativen mit festen | |
Ansprechpartnern funktionieren. Leider sind sie schwer zu finanzieren, weil | |
viele Unterstützer und Stiftungen befristete Projekte vorziehen. | |
Aber welche Regeln gelten vor Ort? Sollte man die Aktdarstellungen für | |
Muslime abdecken? | |
Natürlich nicht. Wir sind eine staatliche Einrichtung und folgen den | |
Prinzipien und Idealen der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Aber an | |
diese Prinzipien muss man langfristig heranführen und überlegen: Wie baut | |
man Verständnis füreinander auf, statt sich Glaubenssätze um die Ohren zu | |
hauen. Das darf aber nicht zu Kompromissen auf der Werte-Seite führen, | |
sondern muss zu einer Einladung werden. | |
Es geht auch um Blickgewohnheiten. Wir Europäer erkennen, was auf einem | |
expressionistischen Bild ist, jemand aus einem anderen Kulturkreis nicht. | |
Wie wollen Sie das ändern? | |
Zunächst dadurch, dass man sich über diese Unterschiede austauscht, wie zum | |
Beispiel bei unserem Projekt „Open Access“. Da haben wir Menschen | |
eingeladen, die zwischen 1945 und 2016 aus inner- und außereuropäischen | |
Ländern nach Hamburg kamen. Wir haben sie gebeten, ihre persönliche Auswahl | |
aus Kunsthallen-Werken zu treffen, die wir im ab Mai zeigen werden. | |
Haben diese Treffen Ihren Blick auf die Sammlung verändert? | |
Ja. Besonders eindrucksvoll war der Austausch über eine Küstenszene bei | |
Mondlicht, gemalt vom Romantiker Caspar David Friedrich. Ein syrischer | |
Geflüchteter, der 2016 nach Hamburg kam, sagte: Genauso habe ich mich | |
gefühlt, nach meiner Ankunft auf einer griechischen Insel. Ich begriff | |
schlagartig: Dieses Ostsee-Bild kann eine völlig andere Lebensrealität | |
darstellen. | |
Aber der Ostsee-Anrainer kann so einsam sein wie der Flüchtling. | |
Entwurzelungsgefühle erfordern kein äußeres Drama. | |
Nein. Und genau deshalb kann die Ostsee zum Medium, zur Brücke für | |
Verständigung werden. | |
Die Außenperspektive offenbart auch den ho hen Anteil christlicher Kunst in | |
Europas Museen. Die versteht der Flüchtling so wenig wie der hiesige | |
18-Jährige. | |
Mit diesem bröckelnden oder ganz fehlenden Wissen kämpfen zurzeit alle | |
Museen älterer Kunst. Und bei einem mittelalterlichen Altarbild voller | |
Figuren und Symbole stellt sich die Frage: Geben wir seitenlang | |
Informationen oder finden wir einen neuen Zugang? | |
Sollte man diese Informationen weglassen, weil sie unsere Realität nicht | |
spiegeln? | |
Nein. Wir können nicht so tun, als ob es das alles nicht gegeben hätte. Wir | |
müssen bloß überlegen, wie wir das auf relevante Art vermitteln. Oft | |
erklären die Beschriftungen, was dargestellt ist und wer es malte. Das ist | |
eine gute Grundlage, wenn man wissen will, warum 13 Männer um einen Tisch | |
beim „Abendmahl“ sitzen. Danach muss man aber sagen, warum das Abendmahl | |
damals wichtig war. Und dass darin eine menschliche Grundsituation | |
durchgespielt wird. | |
Auch zeitgenössische Künstler beziehen sich oft auf biblische Geschichten. | |
Soll man die jedes Mal neu erklären? | |
Moderne Kunst hat sogar noch eine zweite Ebene, denn sie bezieht sich oft | |
selbst auf moderne Kunst. Wenn sich ein Werk auf Malewitschs Schwarzes | |
Quadrat bezieht, muss man erstens Malewitsch kennen und zweitens wissen, | |
dass er sich auf Ikonenmalerei bezieht. Man muss drei Ebenen erklären. Wir | |
überlegen gerade, wie wir das geknackt kriegen. Im Idealfall hätte man den | |
Multimedia-Guide für jedes Exponat. Das ist ein kostspieliges, | |
langfristiges Ziel. | |
Außerdem muss man es Bildungsbürgern anders erklären als bildungsfernen | |
Schichten. | |
Ja, aber da mache ich mir keine Sorgen: Wir haben in der Hamburger | |
Kunsthalle Kunst vom Mittelalter bis heute. Es gibt Malerei, Fotografie, | |
Video, Skulptur. Jeder kann bei dem andocken, was ihm liegt. An uns ist es, | |
Angebote zu machen, die das erleichtern. Wenn die Neugier erst geweckt ist, | |
kommen die Leute. | |
Aber wie bekommen Sie sie hier rein? | |
Schwierig. Für viele ist das hier ein großes Gebäude an einer sechsspurigen | |
Straße, das ein teures Eintrittsgeld kostet. Einer unserer Versuche ist | |
derzeit, eine langfristige Zusammenarbeit mit Schulen zu initiieren. Dafür | |
müssen wir die Schulen und deren Klientel besser verstehen. Und die Schulen | |
müssen wissen, was die Kunsthalle anbieten kann. Wenn wir es dann schaffen, | |
die Schüler zu begeistern, bringen sie irgendwann ihre Eltern mit. | |
11 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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