# taz.de -- Gedenken am Breitscheidplatz: Zu ihrem Gedächtnis | |
> Vor zwei Monaten fuhr Anis Amri mit einem Lastwagen in die Menge auf dem | |
> Breitscheidplatz in Berlin. Wie soll man daran erinnern? | |
Bild: Gegenwärtig erinnern Kerzen vor der Gedächtniskirche an die Opfer des A… | |
Den Steinen fehlt die Erinnerung. Hellgrau und ungerührt liegen die | |
Bodenplatten an diesem eisigen Februarvormittag da. Man meint, etwas sehen | |
zu müssen auf der Fläche nordöstlich der Gedächtniskirche. Reifenabdrücke | |
oder Flecken. Spuren des Grauens, das der Attentäter Anis Amri über die | |
Menschen brachte. Aber hier, wo der Lastwagen durch den Weihnachtsmarkt | |
fuhr, ist nichts. Nur irritierende Normalität. | |
Auf den Stufen der Gedächtniskirche haben Leute Grablichter neben den | |
Bildern der Getöteten aufgestellt. „WARUM?“, hat jemand in großen Lettern | |
geschrieben. Daneben flattert die Titelseite einer Boulevardzeitung, die | |
die „Asylabzocke“ anprangert, im Wind. | |
[1][Zwei Monate ist es her], dass der Attentäter Anis Amri 12 Menschen in | |
den Tod riss und 56 teils schwer verletzte. Der erste islamistische | |
Terroranschlag in Berlin. Was ist davon geblieben auf dem Breitscheidplatz? | |
Jenseits des Kerzenfeldes nicht viel, meint man auf den ersten Blick. | |
Schulklassen und Touristen drängen in die Gedächtniskirche. Beim | |
Fast-Food-Laden im Europa-Center stehen die Leute Schlange, es riecht nach | |
Frittierfett. Der Alltag hat den Platz längst wieder fest im Griff. Doch | |
man muss die Menschen nur antippen, schon kommen die Geschichten. | |
Dug-dug, dug, dug-dug-dug. So klang es, als der Lastwagen Menschen und | |
Buden umfuhr, erzählt Tarek M. Der 19-Jährige jobbt in einem Laden für | |
Outdoor-Kleidung im Bikinihaus, die Fensterfront geht hinaus zum Ort des | |
Anschlags. Dort stand er, mit freiem Blick, als der Anschlag passierte. Sah | |
den Lastwagen, hörte ihn. Das sei krass gewesen, sagt M. heute, aber der | |
Alltag gehe weiter. Inzwischen denke er kaum mehr darüber nach. Nur | |
manchmal, wenn die Tram über die Schienen holpere, dug-dug-dug, dann sei | |
die Erinnerung wieder da. | |
## Erwartbar, aber nicht so | |
Ein Bankangestellter, der mit seinem Partner hinter dem Europa-Center | |
wohnt, sagt: „Das hier ist mein Kiez, meine Heimat.“ Er habe immer | |
erwartet, dass es mal einen Anschlag in Berlin geben werde. Aber direkt | |
neben der eigenen Wohnung? Man hört das Staunen darüber, wenn er spricht. | |
Der Terror hätte auch mich treffen können – das ist das Gefühl vieler | |
Menschen nach dem Anschlag. Der 19. Dezember 2016 markiert einen | |
Einschnitt. | |
Wie aber angemessen damit umgehen? Diese Frage stellte sich bald. Auf dem | |
Breitscheidplatz wurden nach drei Tagen wieder Glühwein und Bratwürste | |
verkauft, ohne Partymusik und grelle Beleuchtung. War das des Ortes würdig, | |
die richtige Reaktion? | |
Die Frage stellt sich auch an diesem Sonntag wieder, wenn der | |
Karnevalsumzug durch die westliche Innenstadt zieht. Eigentlich wollten die | |
Jecken am Breitscheidplatz enden. [2][Doch dagegen hat sich der Bezirk | |
Charlottenburg-Wilmersdorf ausgesprochen.] Jetzt feiern die Karnevalisten | |
ihren Abschluss ein Stück weiter auf dem Wittenbergplatz. Wenn sie am Ort | |
des Anschlags vorbeiziehen, müssen sie die Musik runterdrehen, lautet die | |
Auflage des Ordnungsamts. | |
Wie lange will man einen begehrten, zentralen Platz für Feierlichkeiten | |
sperren? Macht man einen Unterschied zwischen den Veranstaltern? Dürften | |
Menschen an der Gedächtniskirche für den Frieden demonstrieren, nicht aber | |
Karneval feiern? | |
„Wir haben da noch keine Richtlinie“, sagt Reinhard Naumann, Sozialdemokrat | |
und Bürgermeister in Charlottenburg-Wilmersdorf. Das Bezirksamt wolle | |
schauen, wie sich die Stimmung entwickle. Sicherlich werde es wieder | |
Anfragen von Veranstaltern geben, sagt Naumann. Das müsse man dann von Fall | |
zu Fall neu beurteilen. | |
Der entscheidende Punkt ist für den Bezirksbürgermeister aber ein anderer: | |
Wie soll der Breitscheidplatz langfristig als Gedenkort gestaltet werden? | |
Es bedarf eines materiellen Ausdrucks, da ist sich Naumann sicher. Nur: | |
Welcher ist der richtige? | |
Denkbar ist vieles. Man könnte eine dezente Tafel anbringen, in Erinnerung | |
an die Opfer. Oder etwas Größeres auf den Platz stellen. Künstler hätten | |
sich angeboten, Skulpturen oder Monumente zu entwerfen, erzählt Naumann. | |
„Es gibt ein ganzes Spektrum von Ideen.“ | |
## Welche Idee ist die richtige? | |
Wie erinnern? Martin Germer legt die hohe Stirn in Falten. Der Pfarrer der | |
Gedächtniskirche sitzt an seinem Schreibtisch im Untergeschoss der Kirche. | |
Auf dem Regal stapeln sich Papierbögen: Kondolenzblätter. Botschaften für | |
den Frieden, aber auch: „Merkel muss weg.“ Germer will die Blätter | |
demnächst zu einem Buch binden lassen. | |
Aus seiner Erfahrung als Seelsorger weiß Germer, dass Menschen sehr | |
unterschiedlich trauern. Manche wünschten sich etwas Sichtbares wie ein | |
Grab, erzählt er, andere nicht. Germer selbst verlor vor zwanzig Jahren | |
seine damalige Frau bei einer Bergwanderung. Ihm selbst bedeute das | |
Sichtbare nicht so viel. „Aber mir war es ein Bedürfnis, an die Stelle zu | |
gehen, wo sie gestorben ist.“ | |
Eine Platte im Boden könne er sich für den Breitscheidplatz gut vorstellen. | |
Jemand habe vorgeschlagen, die Reifenspuren des Lastwagens in die | |
Steinfläche zu fräsen, erzählt Germer. Da wäre er dagegen. Er überlegt eine | |
Weile, um die richtige Formulierung zu finden für das, was ihn daran stört. | |
„Muss man das martialisch dauerhaft sichtbar machen? Welche Bedeutung gibt | |
man damit der Mordabsicht?“ | |
Und noch etwas sollte man bedenken: Was, wenn in einiger Zeit wieder ein | |
Anschlag in Berlin passiert? Ein Gedenkort für die Opfer vom 19. Dezember | |
setzt auch Maßstäbe, nach denen sich andere später möglicherweise richten | |
müssen. | |
In München hat man sich dafür entschieden, zur Erinnerung an die Opfer des | |
Amoklaufs am Olympia-Einkaufszentrum einen Ginkgobaum mit einem Ring aus | |
poliertem Edelstahl zu errichten. In Paris hängen an den Orten der | |
Attentate Gedenktafeln. Außerdem soll vor dem Palais de Tokyo ein vom | |
amerikanischen Künstler Jeff Koons entworfener, riesiger Tulpenstrauß | |
aufgestellt werden. | |
Die Federführung über das Berliner Gedenken hat die Senatskanzlei im Roten | |
Rathaus übernommen. „Auch die Angehörigen der Opfer sollen eingeladen | |
werden, ihre Wünsche einzubringen“, sagt Sprecherin Claudia Sünder. | |
Vertreter der Gedächtniskirche, der Wirtschaft im westlichen Zentrum und | |
des Schaustellerverbands würden ebenfalls einbezogen. „Unsere Idee ist, | |
einen Wettbewerb auszuschreiben und alle Beteiligten zur Jury zu machen“, | |
sagt die Sprecherin. Es wäre schön, wenn zum ersten Jahrestag etwas fertig | |
sei, sagt sie. „Da darf es aber keinen Druck geben. Es kriegt die Zeit, die | |
es braucht.“ | |
Am Mittag vor der Gedächtniskirche, ein kalter Wind weht. Touristen fahren | |
auf Segways, diesen wendigen Elektrogefährten auf zwei Rädern, über den | |
Platz. Einige Meter vor dem Kerzenfeld entschleunigen sie, zücken ihre | |
Smartphones, machen Fotos. Dann surren sie weiter, zur nächsten Berliner | |
Sehenswürdigkeit. | |
Den Namen von Tarek M. haben wir auf seinen Wunsch hin nachträglich | |
abgekürzt. | |
17 Feb 2017 | |
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## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
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