# taz.de -- Ein Jahr Varoufakis' DiEM-Bewegung: Die Macht der Ideen | |
> Vor einem Jahr gründete Yanis Varoufakis in Berlin DiEM25, eine Bewegung | |
> zur Rettung Europas. Was ist daraus geworden? | |
Bild: Hat was ins Rollen gebracht: Yanis Varoufakis | |
BERLIN taz | Demoplakate pflastern die Wände im Treppenhaus des | |
Mehringhofs, einem linken Kulturzentrum in Berlin-Kreuzberg. Hausbesetzer | |
kamen in den 80er Jahren hier zusammen, ein kleiner Buchverlag hat seinen | |
Sitz in einem der Ladengeschäfte. Jeden ersten Montag im Monat trifft sich | |
hier abends die Berliner Ortsgruppe von DiEM25, der Bewegung „Democracy in | |
Europe Movement 2025“, die vor einem Jahr von Yanis Varoufakis ins Leben | |
gerufen wurde. Nun sitzen 30, vielleicht 40 Leute hier zusammen, sie | |
arbeiten in Kleingruppen an Themen wie „Europäische Verfassung“ oder | |
„Transparenz“. Hat Varoufakis erreicht, was er wollte? | |
Neben viel Aufmerksamkeit erntete der ehemalige griechische Finanzminister | |
zu Beginn nicht wenig Häme: Eine Bewegung, kritisierten viele, gründe man | |
nicht von oben nach unten. Wer an der Auftaktveranstaltung zur Rettung | |
Europas in der Volksbühne teilnehmen wollte, musste zwölf Euro Eintritt | |
zahlen – elitär, hieß es. Und schließlich trug das Manifest, das | |
vorgestellt wurde, zwar eine düstere und glaubhafte Prognose im Titel – | |
„Europa wird demokratisiert oder es wird zerfallen“ – blieb ansonsten aber | |
vage. | |
Varoufakis und erste prominente Mitstreiter hatten sich darin auf den | |
kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt, auf den sich eine gesellschaftliche | |
Linke verständigen kann: Europa solle sozial, transparent, friedlich, | |
ökologisch und pluralistisch werden. Die Philosophen Noam Chomsky und | |
Slavoj Žižek, Barcelonas linke Bürgermeisterin Ada Colau oder der Musiker | |
Brian Eno unterstützten es. Nur wie das alles passieren sollte, wie die | |
Ziele konkretisiert werden, wie eine radikaldemokratische EU Gestalt | |
annehmen könnte – das alles blieb offen. | |
Nun, ein Jahr später, in dem Europa weiter nach rechts gerückt ist und die | |
Warnung vor dem Zerfall drängender scheint denn je, kann sich eine erste | |
zahlenmäßige Bilanz von DiEM sehen lassen. Ortsgruppen wie die Berliner | |
gibt es europaweit 70, zusätzlich sind um die 40 Gruppen im Entstehen. | |
Aktiv sind zwischen 10 und 100 Personen pro Gruppe, in Städten gibt es mehr | |
Aktive als auf dem Land. Insgesamt 31.000 Mitglieder hat DiEM aktuell, von | |
denen jedes Stimmrecht hat, sich aber nicht alle in den Gruppen einbringen. | |
## Europa zurückholen | |
Dabei beeinflusst nicht nur Europapolitik DiEM: „Allein am Tag nach der | |
Wahl von Donald Trump sind rund 1.000 Menschen Mitglied geworden“, sagt | |
Judith Meyer. Meyer, rote Schuhe, roter Schal, arbeitet mit vielen aktiven | |
Mitgliedern. Die 32 Jahre alte Programmiererin aus Berlin ist europaweit | |
für die Unterstützung der Freiwilligen bei DiEM zuständig und deshalb | |
sowohl an der Basis unterwegs als auch in Kontakt mit dem sogenannten | |
Koordinierungskollektiv, dem zwölfköpfigen engsten Kreis um Varoufakis. | |
„Vor etwa zwei Jahren habe ich gemerkt, dass sich das, was griechische und | |
deutsche Medien zur Krise schreiben, stark unterscheidet“, sagt sie. Sie | |
zog sich Analysen über Wirtschaft und Politik aus dem Netz, und immer öfter | |
fiel ihr auf, „dass die Rolle, die Deutschland in der Krise spielt, keine | |
gute ist“. Eine Nacht im Juli 2015, als Varoufakis schon nicht mehr im Amt | |
war und in der der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras mit der | |
Eurogruppe über neue Schulden verhandelte, sei der Knackpunkt für sie | |
gewesen. Die Rentenkürzungen waren hart, Griechenland wurde die | |
Souveränität abgesprochen, eigene Gesetze zu verabschieden. „Das hat mein | |
Bild der EU zerstört“, sagt Meyer. | |
Am nächsten Tag schickte sie Varoufakis eine Mail. Sie kannten sich nicht, | |
aber sie habe ihren Frust ausdrücken wollen, sagt sie. Und Varoufakis | |
antwortete. „Wir müssen uns Europa zurückholen“, schrieb er, „von denen, | |
die es sich unter den Nagel gerissen haben. Es ist unseres!“ | |
Judith Meyer wurde Teil des Teams, noch bevor DiEM vor einem Jahr an die | |
Öffentlichkeit ging. Mittlerweile ist sie viel unterwegs, in Rom und in | |
London zum Beispiel, wo sie Lokalgruppen dabei unterstützt, landesweite | |
Organisationen aufzubauen. Ein Großteil ihrer Arbeit aber findet virtuell | |
statt, in der Kommunikation mit den Freiwilligen. Meyer war früher Mitglied | |
der Piratenpartei – und was digitalen Aktivismus angeht, erinnert DiEM | |
durchaus an die Politpioniere auf diesem Feld. | |
Allein [1][die Website] ist in neun Sprachen abrufbar, einige Bereiche | |
müssen ständig übersetzt und aktualisiert werden, vor allem im | |
Mitgliederbereich der Seite, wo die Abstimmungen stattfinden. Dazu kommen | |
unzählige Facebook-Gruppen und Twitter-Feeds, um die sich größtenteils die | |
Ortsgruppen kümmern. Dass das manchmal unübersichtlich werden kann, liegt | |
auf der Hand. | |
„Momentan sind wir noch sehr mit 'Capacity Building’ beschäftigt“, sagt … | |
Aktivist aus der Berliner Gruppe, mit dem Aufbau von Strukturen und | |
Kompetenzen. Daneben geht es aber auch immer mehr um die inhaltliche | |
Ausrichtung. Denn die Positionen, die DiEM vertreten will, sind noch in der | |
Diskussion. Und da die mit basisdemokratischem Anspruch geführt wird, | |
braucht das seine Zeit. | |
Im Kreuzberger Mehringhof sitzen die AktivistInnen zusammen, viele | |
Studierende, aber auch ein paar InteressentInnen um die 50. Ein paar waren | |
mal bei den Grünen, andere vorher noch nie politisch organisiert, aber von | |
Varoufakis und seinen Ideen fasziniert. Sie arbeiten an den sechs Themen, | |
die DiEM momentan beschäftigen: Transparenz der EU, Migration, ein | |
„europäischer New Deal“, Arbeit, „grüne“ Investitionen und eine europ… | |
Verfassung. | |
## Kleine, machbare Schritte | |
Positionen aller Gruppen werden in einem ausgeklügelten Austausch zwischen | |
ihnen und einem Expertenkomitee zusammengefügt, dem Fachleute wie der | |
Wirtschaftswissenschaftler James Galbraith angehören. Erst dann werden sie | |
der Öffentlichkeit präsentiert – am 9. Februar zuerst der „europäische N… | |
Deal“ und im Lauf des Jahres die weiteren Themen. Angelehnt an den New Deal | |
Franklin Roosevelts aus den 1930er Jahren sollen alle Europäer in ihrem | |
Heimatland das Recht auf einen angemessen bezahlten Arbeitsplatz, eine | |
ausreichende Unterkunft, gute Gesundheitspflege und Ausbildung sowie auf | |
eine saubere Umwelt haben. | |
Diese Ziele sollen durch fünf Maßnahmen erreicht werden, die innerhalb der | |
bestehenden EU-Verträge umgesetzt werden können, etwa durch eine | |
Partnerschaft öffentlicher europäischer Investitionsbanken wie der KfW mit | |
Zentralbanken, die grüne Investitionen finanziert, und einen europaweiten | |
Fonds zur Armutsbekämpfung, der auch als Basis einer künftigen Sozialunion | |
dienen soll. „Wir wollen nicht die Welt revolutionieren“, sagt Judith | |
Meyer. Es gehe um viele kleine, machbare Schritte. „Und ich glaube an die | |
Macht der Ideen: Viele Menschen, viele Gruppen werden sich Teile unseres | |
Programms aneignen.“ | |
Das sieht auch Thomas Seibert so, das deutsche Mitglied im | |
Koordinierungskollektiv, der das künftige Programm von DiEM hierzulande | |
öffentlich vertritt. Seibert, 59, ist Philosoph, politischer Aktivist und | |
im Vorstand des Instituts Solidarische Moderne, einer Programmwerkstatt für | |
linke Politikkonzepte, die sich etwa für Rot-Rot-Grün starkmacht. | |
„DiEM versucht, eine realpolitische progressive Programmatik für Europa zu | |
entwerfen“, sagt er. Wesentlich dafür sei neben der Demokratisierung der | |
politischen Institutionen, an deren vorläufigem Ende 2025 eine | |
verfassungsgebende Versammlung stehen soll, eine transnationale | |
Sozialstaatlichkeit, die auf postfordistische Verhältnisse Bezug nimmt. | |
Dazu gehören einzelne bekannte Punkte, wie etwa ein Grundeinkommen, und | |
andere, die erst entwickelt werden: So wird DiEM auf eine Bürgerschaft | |
setzen, die sich weniger an Nationalstaaten, sondern vielmehr an Städten | |
orientiert. Die sollen mehr Entscheidungsgewalt etwa bei der Aufnahme von | |
Flüchtlingen bekommen, weshalb Gelder auch nicht mehr an Staaten, sondern | |
an Lissabon, Berlin oder Madrid fließen sollen. | |
Eine klassische Bewegung, sagt Seibert, sei DiEM natürlich nicht. Letztlich | |
entstehe „eine hybride Organisation im linken Spektrum“: Zwar gebe es | |
wichtige aktivistische Momente innerhalb der Basis, aber kombiniert mit | |
Aspekten eines Think-Tanks. Dabei bringen sich Intellektuelle und | |
Einzelpersonen ein, von denen einige nur ihren Namen zur Verfügung stellen | |
und so für Reichweite und Prominenz sorgen, andere konkret politisch | |
arbeiten. | |
## Im Mai in Berlin | |
Zudem bestehen zu verschiedenen Parteien in Europa gute Kontakte, zur | |
spanischen Podemos, der britischen Labour, in Deutschland etwa zum Kreis um | |
Linkspartei-Chefin Katja Kipping. „Es ist eine Netzwerkarbeit im breiteren | |
Sinn“, sagt Seibert: „Leute werden an DiEM gebunden, Positionen sickern in | |
andere Zusammenhänge ein.“ Das soll nicht nur nach und nach passieren, | |
sondern auch mit Hilfe öffentlichkeitswirksamer Aktionen, vor allem großen, | |
prominent besetzten Veranstaltungen. Zuletzt gab es eine in London zum | |
Umgang mit dem Brexit, in Amsterdam zur bevorstehenden Wahl, in Paris, | |
Athen und Rom soll im März und April das Programm des New Deal vorgestellt | |
werden, Berlin ist im Mai dran. | |
Dabei sein wird auch Varoufakis, auf den DiEM nach wie vor oft reduziert | |
wird. Aber das verändere sich, die einzelnen Teile des Netzwerks seien | |
dabei, an Autonomie zu gewinnen, sagt Seibert. Viel werde erreicht sein, | |
wenn erst eine stabile Struktur bestehe, die Auseinandersetzungen zu | |
europäischen Fragen trägt, die zum ersten Mal eine Art europäische | |
Gegenöffentlichkeit herstellen kann. „DiEM ist kein utopisches Projekt“, | |
sagt Seibert. „Es kann gelingen.“ | |
9 Feb 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://diem25.org/ | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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