| # taz.de -- Debatte Berliner Sicherheitspolitik: Esoterik statt echte Diskussion | |
| > Dass Videoüberwachung mehr Sicherheit bringe, ist eine Legende. Die | |
| > Debatte bewegt sich zwischen religiösem Glauben und Verschwörungstheorie. | |
| Bild: Für Ihre Sicherheit? Die U-Bahnhöfe Berlins sind schon mal videoüberwa… | |
| Wenn es um Menschenleben geht, kennt der deutsche Gesetzgeber keinen Spaß: | |
| Medikamente müssen auf Ungefährlichkeit getestet werden, Autos auf die | |
| notwendige Verkehrstauglichkeit und selbst Kinderspielzeug wird Tests | |
| unterzogen, um sicherzustellen, dass von ihm keine Gefahr ausgeht. Sicher | |
| ist schließlich sicher. Das, was einige abschätzig als staatliche | |
| Regelungswut abtun, ist einer der Gründe, warum man in Deutschland | |
| tatsächlich aus einer Toilette trinken kann, ohne Ausschlag zu bekommen. | |
| Dieses Prinzip aus anerkannten Kriterien, Normen, Prüfverfahren, | |
| Richtwerten und Testreihen gilt für fast jeden Bereich des Gemeinwesens, | |
| nur nicht, und das ist traurig und bitter, für die öffentliche Sicherheit. | |
| Hier herrscht einsam und allein die Sicherheitsesoterik. | |
| Sicherheitsesoterik sind wie auch immer geartete Verfahren, denen – ohne | |
| tatsächlichen Beleg – eine Sicherheit herstellende Wirkung zugeschrieben | |
| wird. Oft nicht trotz, sondern gerade weil es absolut überhaupt keine | |
| Hinweise dafür gibt, dass die beschriebenen oder geforderten Verfahren | |
| tatsächlich auch nur irgendetwas bringen. | |
| Damit bewegt sich Sicherheitsesoterik gedanklich und auch sprachlich | |
| irgendwo zwischen Glauben an religiöse Wunder und Verschwörungstheorien. | |
| Denn Sicherheitsesoterik kommt immer dann ins Spiel, wenn aufrichtig | |
| geführte Debatten über öffentliche Sicherheit dazu führen würden, dass es | |
| ans Eingemachte gehen würde. Zum Beispiel dann, wenn man fragen müsste, ob | |
| die Gemeinschaft noch ihren sozialen Verpflichtungen nachkommt, wenn sie | |
| Radikalen jeder Couleur die Kinder- und Jugendarbeit überlässt und junge | |
| muslimische Männer dann eben bei den Salafisten abhängen und nicht in einem | |
| Jugendzentrum. | |
| ## Das ist keine Überwachung | |
| Sicherheitsesoterik geht so: Nach dem feigen und zum Glück nur mäßig | |
| erfolgreichen Anschlag vom Breitscheidplatz wurde, leider auch von meiner | |
| Partei, mehr anlasslose Videodokumentation an öffentlichen Plätzen | |
| gefordert. Warum schreibe ich nicht „Videoüberwachung“? Weil das Wort in | |
| die Irre führt. „Überwachung“ erweckt den Eindruck, es würde tatsächlich | |
| jemand schützend hinter einer Videokamera sitzen und im Notfall schon was | |
| tun. Dem ist aber nicht so, weswegen ich den Begriff anlasslose | |
| Videodokumentation für angemessener halte. | |
| Denn von der Kamera werden ja nicht nur Straftaten dokumentiert, sondern | |
| auch sehr private Dinge, wie das Knutschen mit dem Partner, das Bohren in | |
| der Nase oder, nach durchzechter Nacht, das eruptive Entleeren des | |
| Mageninhalts in Bus und Bahn. Ganz schön private Dinge also, die man | |
| möglicherweise nicht auf Video sehen möchte und bei denen man sich fragen | |
| kann, warum die Gemeinschaft Infrastruktur für das Aufzeichnen von so etwas | |
| zur Verfügung stellen muss, nur weil es Kriminelle gibt, die auch anders | |
| gefasst werden könnten. | |
| Abgesehen davon ist bis heute nicht klar, in welchem Zusammenhang | |
| anlasslose Videodokumentation und die Verhinderung eines Anschlages stehen | |
| könnten. Früher trauten sich die Befürworter der anlasslosen | |
| Videodokumentation noch zu behaupten, Videodokumentation hätte eine | |
| präventive, also Straftaten verhindernde Wirkung. Nach vielen Debatten und | |
| der Erkenntnis, dass eine im Affekt begangene Straftat tatsächlich eine | |
| ist, die vom Täter vorher nicht minutiös geplant wurde, begnügt man sich | |
| mit dem Verweis, „spektakuläre Straftaten“ hätten nur mithilfe von | |
| anlassloser Videodokumentation aufgeklärt werden können. | |
| Allein diese Wankelmütigkeit in der Begründung zeigt, dass sich | |
| Sicherheitsesoteriker vielleicht gar nicht wirklich mit öffentlicher | |
| Sicherheit auseinandersetzen möchten, sondern einfach nur mal ein paar | |
| markige Sprüche klopfen wollen, wenn medial mal wieder das Thema | |
| öffentliche Sicherheit durchs Dorf getrieben wird. Denn man kann die | |
| anlasslose Videodokumentation nicht erst wegen ihrer präventiven Wirkung | |
| einführen und dann, wenn sich rausstellt, dass es keine präventive Wirkung | |
| gibt, einfach sagen: Aber es gibt doch einige Ermittlungserfolge. Dann war | |
| nämlich der erste Grund, die anlasslose Videodokumentation überhaupt | |
| einzuführen, falsch. | |
| Abgesehen davon unterliegen diejenigen, die auf die Ermittlungserfolge bei | |
| „spektakulären Straftaten“ verweisen, einem argumentativen Kurzschluss. Es | |
| ist nämlich nicht die anlasslose Videodokumentation, die zu den | |
| Ermittlungserfolgen führt, sondern die Öffentlichkeitsfahndung. | |
| Videokameras sind nicht exklusiver Bildlieferant für die Polizei. Der | |
| erfolgreich durch drei syrische Flüchtlinge gefasste Jaber al-Bakr wurde | |
| von der Polizei beschattet, wodurch diese über Bildmaterial verfügte. Anis | |
| Amri wurde über die Fotos seines Passes gesucht. Dass in Zeiten sozialer | |
| Medien Öffentlichkeitsfahndungen erfolgreich sein können, verwundert nicht. | |
| Aber selbst die Öffentlichkeitsfahndung ist kein Garant auf Erfolg: Amri | |
| wurde bei einer Standardkontrolle in Italien gefasst. Uwe Mundlos und Uwe | |
| Böhnhardt flogen erst durch ihren Tod auf. Eine Statistik darüber, in wie | |
| vielen Fällen eine Öffentlichkeitsfahndung in Berlin zu einem | |
| Ermittlungserfolg führte, gibt es meines Wissens nicht. | |
| ## Einzelfälle statt Wirkungsanalyse | |
| Das alles zeigt, wie gefährlich Sicherheitsesoterik ist: Denn für diese | |
| Leute heiligt der Zweck die Mittel, „spektakuläre Einzelfälle“ sollen auf | |
| einmal ein Verfahren rechtfertigen, das in 99,9 % der Fälle vielleicht gar | |
| nichts bringt. Wer weiß es? Denn auch in Berlin gibt es keine Statistik | |
| oder Studie zu Nutzen und Effekten von anlassloser Videodokumentation. Jede | |
| Pommesbude von hier bis Bischkek muss Kontrollen über sich ergehen lassen, | |
| Vorschriften einhalten, aber wenn es um einen anlasslose Dokumentation von | |
| Millionen von Fahrgästen geht, dann nimmt man es nicht so genau. | |
| Eine beantragte Studie wurde in der letzten Legislatur vom damals | |
| konservativ geführten Innensenat abgelehnt. Schweizer Studien, eine erst im | |
| Oktober 2016 fertiggestellt, kommen zu dem Ergebnis, dass der Effekt null | |
| ist. In Worten: null. Also gar keiner. Anlasslose Videodokumentation hat | |
| keinen Einfluss auf die Aufklärungsquote, das Sicherheitsgefühl wird nur | |
| kurzfristig positiv beeinflusst, dann entsteht ein Gewöhnungseffekt. | |
| Kriminelle wie zum Beispiel Drogendealer werden verdrängt oder suchen sich, | |
| wenn sie die Kameras kennen, Orte, an denen nicht anlasslos dokumentiert | |
| wird. | |
| Wenn man sich die verfügbaren Zahlen zur Kriminalität im öffentlichen | |
| Personennahverkehr Berlins anschaut, hier speziell die U-Bahn, dann kann | |
| man nur festhalten, dass die Zahl der Körperverletzungen bei steigender | |
| Nutzung seit zehn Jahren zwischen 1.300 und 1.600 Fällen schwankt. Es ist | |
| also ziemlich sicher, U-Bahn zu fahren. Gleichzeitig ging die Gesamtzahl | |
| der Körperverletzungen von fast 45.000 im Jahr 2006 auf 40.675 im Jahr 2015 | |
| zurück – ein Rückgang von fast 10 Prozent. Wenn man sich jetzt die | |
| Aufklärungsquote seit 1993 anschaut, dann schwankt diese bei | |
| Körperverletzung immer um die 80 Prozent. Wenn anlasslose | |
| Videodokumentation also einen signifikanten Einfluss auf die | |
| Aufklärungsquote hätte, müsste sich dieser spätestens seit der Einführung | |
| 2008 bemerkbar machen. Tut er aber nicht. | |
| ## Autoritär vorgetragener Schwachsinn | |
| Das Schlimmste an der Debatte über Sicherheitsesoterik ist aber, dass man | |
| angesichts des möglichst autoritär vorgetragenen Schwachsinns überhaupt | |
| nicht dazu kommt, sich mit tatsächlich wirksamen Strategien für öffentliche | |
| Sicherheit und effektive Kriminalitätsprävention und -bekämpfung | |
| auseinanderzusetzen. Damit bestimmen konservative Dumpfbacken den Diskurs | |
| und treiben alle anderen vor sich her. Beim nächsten Anschlag, bei der | |
| nächsten U-Bahn-Schlägerei wird dann einfach ein bisschen mehr | |
| Sicherheitsesoterik verordnet, an den Problemen ändert sich dadurch nichts. | |
| Kriminelle und Terroristen sind keine Naturgewalten, die unkontrolliert | |
| über uns hereinbrechen. Sie sind – Überraschung – Menschen, oft sogar | |
| welche, die hier geboren wurden und aufwuchsen. Insbesondere eine | |
| sozialdemokratische Innenpolitik sollte sich daher verstärkt damit | |
| auseinander, an welchen Stellen das Gemeinwesen gestärkt werden muss, damit | |
| es zu so wenig Straftaten wie möglich kommt. Die Strafverfolgung muss | |
| evidenzbasiert sein, sie darf sich also nicht irgendwelcher | |
| sicherheitsesoterischer Verfahren bedienen, sondern muss Konzepte anwenden, | |
| die tatsächlich zur Aufklärung eines Großteils der jeweiligen Straftaten | |
| hinreichend erfolgversprechend sind. An den Stellen, wo Aufklärung versagt, | |
| müssen wir dazu beitragen, dass die Opfer von Straftaten die Hilfe | |
| bekommen, die ihnen den Umgang mit traumatischen Erlebnissen ermöglicht. | |
| Starker Staat, einen auf dicke Hose machen, das kann jeder. Ich will aber | |
| einen intelligenten Staat, der Probleme tatsächlich löst und nicht damit | |
| prahlt, eine Lösung zu haben, die eigentlich gar keine ist. | |
| 22 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Christopher Lauer | |
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