| # taz.de -- SPD-Klausur in Erfurt: Kein Kuschelkurs in Sicht | |
| > Nach dem Machtkampf zwischen Regierungschef Michael Müller und | |
| > Fraktionschef Raed Saleh versucht die SPD die Wogen zu glätten. Das | |
| > gelingt ihr nur bedingt. | |
| Bild: Die meisten SPD-Abgeordneten und Senatoren wollen nur eins: arbeiten | |
| Es ist mucksmäuschenstill, als die Sozialpädagogin Rebecca Friedmann über | |
| Stolz und Scham sinniert, über fehlendes Selbstbewusstsein und mangelnde | |
| Affektkontrolle. Aber die Gastrednerin und Verhaltenstrainerin Friedmann | |
| spricht nicht über die Berliner SPD und die Querschüsse ihres | |
| Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh, sondern über die Deradikalisierung | |
| jugendlicher Intensivtäter. Ein bisschen Deradikalisierung im | |
| innerparteilichen Streit aber täte auch der SPD gut. | |
| Die SPD-Fraktion ist mal wieder auf Klassenfahrt, und natürlich stand | |
| während der dreitägigen Klausur in der thüringischen Landeshauptstadt | |
| Erfurt die Frage im Raum, ob und wie Raed Saleh und der Regierende | |
| Bürgermeister Michael Müller miteinander klarkommen. Eine gute Woche zuvor | |
| hatte Saleh die Bühne des Berliner Abgeordnetenhauses genutzt, um den | |
| Sicherheitskompromiss, den Rot-Rot-Grün zuvor auf einer Senatsklausur | |
| ausgehandelt hatte, in Bausch und Bogen zu verdammen und mehr | |
| Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen zu verlangen. Jugendliche, die | |
| Obdachlose anzündeten, hatte Saleh zudem gesagt, hätten ihr Gastrecht | |
| verwirkt. | |
| ## Hat Saleh verstanden? | |
| Saleh hatte viel Beifall für diese Provokation bekommen – von CDU und AfD. | |
| Die Grünen dagegen zeigten sich „irritiert“. Beim Koalitionspartner die | |
| Linke hieß es sogar, der SPD-Fraktionschef sei eine „tickende Zeitbombe“. | |
| In der SPD selbst griffen sechs Kreisvorsitzende zu einer Protestform, die | |
| es bis dahin noch nicht gegeben hatten. Sie schrieben dem „lieben Raed“ | |
| einen Brief, in dem es heißt, er sei der eigenen Partei „in den Rücken | |
| gefallen“. | |
| Erfurt sollte nun zeigen: Hat der „liebe Raed“ verstanden? Oder war er ganz | |
| wohlkalkuliert in den Konflikt gegangen? In seiner Rede schlägt der | |
| Fraktionschef zunächst versöhnliche Töne an. „Michael hat richtig | |
| gehandelt, in dem er Andrej Holm vor die Tür gesetzt hat“, lobt er das | |
| Vorgehen des Regierenden, der von der Linken die Entlassung des | |
| stasibelasteten Staatssekretärs Holm gefordert hatte. „Unsere | |
| Glaubwürdigkeit stand in dieser Frage auf dem Spiel.“ Auch gelobt der | |
| Fraktionschef künftig mehr Kommunikation: „Auf dich wird in den nächsten | |
| Jahren eine große Verantwortung zukommen. Das ist sicher schwierig, aber | |
| gemeinsam werden wir es schaffen.“ | |
| Gleichzeitig aber macht der 39-jährige, der im Westjordanland geboren wurde | |
| und in Spandau den Weg in die SPD fand, deutlich, dass die SPD wieder | |
| stärker auf die kleinen Leute zugehen müsse. „Wir stehen für die ganze | |
| Gesellschaft, für die Armen und die Abgehängten, für die Menschen mit zwei | |
| drei Jobs genauso wie für die ganz normale Bevölkerung“, zeigt sich Saleh | |
| kämpferisch. | |
| Dabei schlägt Saleh auch einen großen historischen Bogen. „Der absolute | |
| Wille, die Gesellschaft voranzubringen, hat seinen Anfang hier in Erfurt.“ | |
| Saleh beruft sich dabei auf den Erfurter Parteitag der SPD von 1891, auf | |
| dem Leute wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht die SPD erst „erfunden“ | |
| hätten. Nun, so der SPD-Fraktionschef, gelte es die SPD „neu zu erfinden“. | |
| „Der Geist von Erfurt kann auch für unserer Projekt beflügelnd sein, lasst | |
| uns ein Beispiel an Bebel nehmen“, beschwört Saleh den Erfolg der | |
| rot-rot-grünen Koalition in Berlin und spricht dann den Regierenden | |
| persönlich an. „Herzlich willkommen bei deiner SPD-Fraktion.“ | |
| Michael Müller, wie immer bei Fraktionsklausuren leger gekleidet, reagiert | |
| nicht gerade euphorisch auf das Friedensangebot seines Kontrahenten. In | |
| seiner Rede richtet er den Blick nach vorne, mahnt, man müsse nun seine | |
| Arbeit machen und nicht darüber diskutieren, „wer welche Befindlichkeiten | |
| hat“. Dabei betont der Regierende die positiven Botschaften, die während | |
| des holprigen Starts von R2G untergegangen seien. „In den Bürgerämtern | |
| bekommt man wieder Termine“, sagte Müller. „Das 100 Tage Programm mit 60 | |
| Punkten ist ein wichtiger Schritt nach vorne.“ All das habe man in den | |
| ersten fünf Wochen, trotz des Anschlags auf dem Breitscheidplatz, auf den | |
| Weg bringen können. „Wir haben eine Grundlage, auf der wir aufbauen | |
| können.“ | |
| Dennoch muss Müller sogleich den nächsten Fehlschlag einräumen. „Beim BER | |
| sind wir an einem Punkt, wo wir sagen müssen: Das kann 2017 nicht mehr | |
| funktionieren mit der Eröffnung.“ | |
| Den SPD-Fraktionschef fechten solche Hiobsbotschaften nicht an. Während | |
| Müller mit den Herausforderungen eines Dreierbündnisses zu kämpfen hat, | |
| sieht er sich selbst für das Große und Ganze zuständig. Saleh will Signale | |
| setzen, auch für den Bundestagswahlkampf. Seine Stichworte sind ein starker | |
| Staat und soziale Gerechtigkeit. Den Abgeordneten rät er, im | |
| Bundestagswahlkampf „in die Kneipen und in die Kleingärten zu gehen“ – | |
| dorthin also, wo Saleh die AfD-Wähler vermutet, die er gerne wieder für die | |
| SPD zurückgewinnen möchte. | |
| Soziale und innere Sicherheit, für Saleh gehört das zusammen. Auch deshalb | |
| betont er, dass er an seiner Rede im Abgeordnetenhaus nichts zurückzunehmen | |
| habe. Nur vom Asylrecht als „Gastrecht“ würde er nicht mehr sprechen. So | |
| viel Abgrenzung zu Sahra Wagenknecht und der AfD darf dann doch sein. | |
| ## Wer hat mehr Rückhalt? | |
| Nach Erfurt jedenfalls ist klar, dass der Streit bei den Sozialdemokraten | |
| weiter gehen wird. Und mit ihm die Frage, ob Saleh an Rückhalt in der | |
| Fraktion verloren hat. Acht der neun neuen Abgeordneten stünden hinter ihm, | |
| heißt es in seinem Lager. Die Neuen selbst aber machten in einer | |
| Vorstellungsrunde deutlich, dass sie eher wenig von einem Machtkampf in der | |
| SPD halten. Ihnen geht es um die Sacharbeit – und um den Erfolg von | |
| Rot-Rot-Grün. | |
| 22 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
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