| # taz.de -- Kolumbien nach dem Bürgerkrieg: Ein Land ohne Geschichte | |
| > Selbst nach dem Friedensschluss ist die Aufarbeitung des Konflikts selten | |
| > Thema in der Schule: Geschichte steht nicht einmal auf dem Lehrplan. | |
| Bild: Die Schüler der Grund- und weiterführenden Schule von San José de Apar… | |
| San José de Apartadó taz | Vor der Schule von San José de Apartadó steht | |
| ein alter klappriger Bus, dahinter grasen ein paar Maultiere in der | |
| kräftigen Vormittagssonne. „Das sind unsere beiden wichtigsten | |
| Transportmittel: Der Bus taugt für die Verbindung mit der Stadt, die Mulis | |
| für die Reise zu den höher gelegenen Dörfern“, sagt Freddy Vidal Puerta. | |
| Davon gibt es einen ganze Reihe in der Umgebung der kolumbianischen | |
| Provinzstadt. | |
| Die rund 3.000 Einwohner zählende Stadt liegt am Rande der Bananenregion | |
| Urabá und von hier ist es nicht weit bis zur Grenze mit Panama. „Über die | |
| Berge und immer geradeaus“, scherzt Vidal Puerta. Der 48-jährige Kakaobauer | |
| vertritt die Bauernorganisation der Region und hofft, dass sich mit der | |
| [1][Unterzeichnung des Friedensabkommens] zwischen der Regierung und der | |
| Farc-Guerilla auch endlich etwas in der kleinen Stadt tun wird. „Wir sind | |
| wie so viele andere Dörfer auch vom Staat vollkommen vergessen worden. In | |
| San Jose de Apartadó gibt es genau zwei staatliche Institutionen: Schule | |
| und Ordnungskräfte.“ | |
| Die Schule, an der 360 Grund- und weiterführende Schüler unterrichtet | |
| werden, liegt genau zwischen der an eine Festung erinnernden Polizeiwache | |
| und dem auf einer Bergkuppe angesiedelten Armeeposten. Von unten sind nicht | |
| viel mehr als die Funkantenne und der Fahnenmast zu sehen, doch die vor | |
| vier Jahren neu gebaute Schule zwischen potentiellen Angriffszielen der | |
| Guerilla zu positionieren, hat dem Bildungsministerium viel Kritik | |
| eingebracht, so Freddy Vidal Puerta. Auch seine Töchter, 13 und 15 Jahre | |
| alt, gehen an die „I.E.R. El Mariano“. | |
| Die Mariano ist für die ganze Region zuständig. Nicht weniger als 34 | |
| Dorfschulen werden von ihr mitverwaltet und für die Koordination ist | |
| Ricardo Quintana Franco verantwortlich. „Wir wollen die Bildungschancen der | |
| Menschen in den Dörfern verbessern. Die liegen oft sechs, acht Stunden | |
| entfernt und um die Halbwüchsigen aus den entlegenen Dörfern mehr Bildung | |
| zu bieten, wollen wir die alte Schule zum Internat umbauen“, erklärt der | |
| Lehrer. | |
| ## Schlechte Aussichten für die Landjugend | |
| An rund einhundert Plätze denken Franco und Rektor Efren Pineda Rojas, aber | |
| bei den lokalen Bildungsverantwortlichen der Regionalverwaltung Antioquia | |
| ist die Idee bisher auf wenig Resonanz gestoßen. „Bildung für die Menschen | |
| auf dem Land hat in Kolumbien nicht gerade Priorität“, ärgert sich Rektor | |
| Rojas, „dabei gibt es viel zu viele vergessene Dörfer, wo sich seit Jahren | |
| kein staatlicher Entscheidungsträger hat sehen lassen.“ Dass Dorflehrer, | |
| die langen Wege in Kauf nehmen, oft nur einmal im Monat für ein paar Tage | |
| nach Hause fahren, ist vollkommen normal. Ebenso, dass die Infrastruktur | |
| auf dem Land oft miserabel ist. Computer, Internetzugang und Telefon sind | |
| selten obligatorisch, meist schlicht nicht vorhanden. Außerdem ist üblich, | |
| dass die Kinder nach der vierten Grundschulklasse der Schule den Rücken | |
| kehren. Oft auch noch früher, kontrolliert wird der Schulbesuch ohnehin | |
| meist nicht. | |
| Strukturen, die auch Schülern wie Jhonatan Valderama oder Ledys Gaviria, | |
| die beiden Schulsprecher, auf die Nerven gehen. „Um meinen Wunsch, | |
| Ingenieur zu werden, realisieren zu können, brauche ich eine gute | |
| Grundlage. Die gibt es in aller Regel auf dem Land nicht“, moniert der | |
| 15-Jährige. Dafür ist das Stadt-Land-Gefälle in Kolumbien verantwortlich. | |
| Das versuchen engagierte Eltern wie Freddy Vidal Puerta, Lehrer wie | |
| Quintana Franco und Rektor Pineda Rojas zu ändern. „Gerade ein Prozent der | |
| Kinder aus den ländlichen Regionen schafft es an die Universitäten“, | |
| kritisiert Vidal Puerta. Er will, dass seine beiden Töchter zumindest die | |
| Chance auf einen akademischen Abschluss haben. | |
| Dafür wird an der Mariano einiges getan. So unterrichtet | |
| Gemeinschaftskundelehrer Jesús Armando Lemus eben nicht nur, was im | |
| Lehrplan steht, sondern auch etwas, was die Kinder interessiert: die | |
| Ursachen des Krieges aus lokaler Perspektive. Dazu gehört auch die Frage, | |
| warum die Mordquote an Linken in Urabá in der Vergangenheit besonders hoch | |
| gewesen ist. Durchaus brisant in einer Kleinstadt, wo Paramilitärs nachts | |
| noch immer Parolen an Hauswände malen, und wo Neutralität im Bürgerkrieg | |
| schlicht nicht erwünscht ist. Das zeigt das Beispiel der | |
| [2][Friedensgemeinde], die vor der Kleinstadt eine Siedlung aufgebaut hat, | |
| wo Bewaffnete unerwünscht sind – egal aus welchem Lager. | |
| Eine gefährliche Position: In den zwanzig Jahren seit der Gründung der | |
| Friedensgemeinde wurden 300 Menschen ermordet. Deren Neutralität haben die | |
| bewaffneten Akteure, staatliche Sicherheitskräfte genauso wie Paramilitärs, | |
| Farc-, ELN- und EPL-Guerilla nie akzeptiert. „Wir Bauern sitzen zwischen | |
| den Stühlen, sind Spielball der bewaffneten Akteure“, erklärt Kaffeefarmer | |
| Vidal Puerta mit leiser Stimme. Seine Bauernorganisation tritt für den | |
| Frieden ein, engagiert sich für den Neuanfang in San José de Apartadó – und | |
| da gehört die Bildung dazu. Das bedeutet auch Auseinandersetzung mit der | |
| Geschichte des Krieges. | |
| ## Geschichtsunterricht – zu brisant für den Lehrplan | |
| „Das ist ein heißes Eisen, auch wenn ich mit den Älteren darüber im | |
| Unterricht schon mal diskutiere“, sagt Jesús Armando Lemus. Er stammt aus | |
| dem benachbarten Chocó, wo Paramilitärs für ähnlich viele Massaker | |
| verantwortlich sind wie in Urabá und hat wenig Lust, dass Schüler ihren | |
| Vätern brühwarm erzählen, was der Lehrer gesagt hat. „Geschichte steht | |
| ohnehin nicht im Lehrplan und gerade der lokale Bezug ist riskant, denn die | |
| Region gilt als Guerillaregion“, schiebt er mit einer entschuldigenden | |
| Geste hinterher und setzt den Rundgang durch die Schule fort. | |
| Geschichte wurde zu Beginn der 1990er Jahre gestrichen und in | |
| Gemeinschaftskunde integriert, wo es um die Auseinandersetzung mit | |
| gesellschaftlichen Strukturen, aber auch um Themen wie Umweltschutz oder | |
| Klimawandel geht. Dadurch sei für die kritische Aufarbeitung der Geschichte | |
| Kolumbiens wenig Platz, kritisiert Carolina Albornoz Herrán, Leiterin des | |
| Zentrums für Erinnerung, Frieden und Versöhnung in Bogotá. Weder in der | |
| Bevölkerung noch bei der Regierung sei die Erinnerung und Aufarbeitung der | |
| jüngsten Geschichte derzeit ein Thema. | |
| Auch wenn Experten wie der Jurist Gustavo Gallón von der kolumbianischen | |
| Juristenkommission (CCJ) betonen, dass mit dem Ende des bewaffneten | |
| Konflikts auch dessen Analyse immer wichtiger wird. Lediglich die | |
| Gewerkschaften bemühen sich, ihre langjährige blutige Verfolgung auch im | |
| Unterricht zum Thema zu machen. Das aber, räumt Luciano Sanín von der in | |
| Medellín ansässigen Gewerkschaftsschule (ENS) ein, sind punktuelle | |
| Kooperationen. | |
| Die laufen dann auch über engagierte Kollegen mit gewerkschaftlichem | |
| Hintergrund statt über das Bildungsministerium. Das bestätigt auch Jesús | |
| Armando Lemus beim Schulrundgang. In der geräumigen, hellen Kantine gibt es | |
| gerade Mittag für die Grundschüler. Die Schule umfasst fünf moderne | |
| Unterrichtsgebäude und könnte noch erweitert werden. Deshalb ärgern sich | |
| Ricardo Quintana Franco und Rektor Pineda Rojas über das mangelnde | |
| Engagement im Bildungsministerium. Das hat die Schule als Landschule mit | |
| einem Ausbildungsschwerpunkt lokale Landwirtschaft konzipiert. Erklärtes | |
| Ziel ist, die Heranwachsenden auf Jobs in der lokalen Wirtschaft, die vom | |
| Anbau von Bananen, Kakao und Nahrungsmitteln lebt, vorzubereiten. | |
| „Aber bisher funktioniert es nicht, weil es die dafür qualifizierten Lehrer | |
| nicht gibt und die Mittel für die Einrichtung von Gewächshäusern, das | |
| Anlegen von Beeten und so fort nicht bewilligt wurden“, sagt | |
| Gemeinschaftskundelehrer Armando Lemus. Ein wiederkehrendes Dilemma, denn | |
| Geld für die Ausbildung ist in Kolumbien chronisch knapp. Relevante Themen | |
| für die Zukunft – wie die Aufarbeitung der Geschichte des nun beigelegten | |
| Kriegs – fallen da schnell unter den Tisch. | |
| 10 Jan 2017 | |
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| Knut Henkel | |
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