# taz.de -- Schriftstellerin Wendy Guerra: Unerwünscht und doch präsent | |
> In ihrem Roman schrieb die Autorin Wendy Guerra vom Leben im | |
> revolutionären Kuba, das oft in Auswanderung endet. Sie selbst ist | |
> geblieben. | |
Bild: Wendy Guerra hat Spaß daran, sich mit immer neuen Fotos in den sozialen … | |
Zur Eröffnung der Fábrica de Arte Cubano, dem populären Kulturzentrum im | |
Stadtteil Vedado, war sie geladen. Hin und wieder schaut sie in der | |
ehemaligen Speiseölfabrik vorbei, die vom früheren Studienkollegen | |
X-Alfonso geleitet wird. „Wenn eine neue Ausstellung eröffnet, es eine | |
Lesung gibt oder mein Mann mal wieder auftritt. Aber oft gehe ich ohnehin | |
nicht aus“, sagt Wendy Guerra lächelnd. | |
Die kleingewachsene Frau mit dem markanten Betty-Page-Pony und dem Hang zur | |
extravaganten Kopfbedeckungen hat Spaß daran, sich selbst zu inszenieren. | |
Kaum eine Woche vergeht, ohne dass die modebegeisterte Schriftstellerin ein | |
neues Foto in den sozialen Medien postet. | |
Doch prominente Kulturtermine wie in diesem Jahr die Einweihung des | |
komplett sanierten Gran Teatro de la Habana, Domizil des Nationalballetts, | |
finden ohne sie statt. „Das ist mein Alltag. Ich bin in Kuba nahezu | |
unsichtbar“, erklärt Guerra mit fester Stimme. Der Grund dafür ist „Todos | |
se van“, zu Deutsch: „Alle gehen fort“, ein in Tagebuchform geschriebener | |
Roman, in dem die Autorin ein desillusionierendes Bild einer Jugend im | |
revolutionären Kuba der 1980er Jahre zeichnet, die fast immer mit der | |
Auswanderung endet. | |
## Privates Netzwerk von Kulturschaffenden | |
„Das Buch hat mein Leben auf den Kopf gestellt, seitdem bin ich | |
unerwünscht“, sagt Guerra. 2006 erschien es bei ihrem spanischen Verlag, | |
2013 wurde es von dem Kolumbianer Sergio Cabrera verfilmt und seit zehn | |
Jahren lebt Wendy Guerra außerhalb des offiziellen kubanischen | |
Kulturkosmos. Was ihr bleibt, ist ein privates Netzwerk von | |
Kulturschaffenden. X-Alfonso, Musiker, Videokünstler und Schwungrad der | |
Fábrica del Arte Cubano, gehört genauso dazu wie der aus dem französischen | |
Exil zurückgekehrte Sänger Raúl Paz oder Leonardo Padura, der international | |
populärste Schriftsteller der Insel. | |
Doch es gibt auch viele Kollegen, die Wendy Guerra wie eine heiße Kartoffel | |
haben fallen lassen. Ehemalige Kollegen vom Fernsehen, wo Guerra als | |
Schauspielerin bekannt wurde, oder Filmschaffende, die mit ihr an der | |
Internationalen Filmhochschule von San Antonio de los Baños Regie | |
studierten. | |
Dort hat die Frau, die schon mit 17 Jahren einen prämierten Gedichtband | |
veröffentlichte, endgültig entdeckt, dass sie nicht für den Film, sondern | |
für die Literatur prädestiniert ist, und nicht irgend jemand hat ihr die | |
Augen geöffnet, sondern Kolumbiens Literaturnobelpreisträger Gabriel García | |
Márquez. | |
## Prägende Figuren in ihrem Leben | |
Der 2014 verstorbene Schriftsteller hat die Hochschule Mitte der 1980er | |
Jahre mitgegründet und hat dort immer wieder Seminare zum Drehbuchschreiben | |
gegeben. Da bekam Wendy Guerra den Tipp, es mit der Literatur zu versuchen, | |
und bis heute sind Márquez und der kubanische Liedermacher Sergio Rodríguez | |
zwei prägende Figuren in ihrem Leben. „Sie sind zwei demokratische | |
Referenzen für mich, weil sie meine Meinung akzeptierten. Das wünsche ich | |
mir für Kuba“, erklärt die Schriftstellerin. | |
Von morgens um sechs bis Mittags um eins, so Guerra, arbeitet sie an ihren | |
Gedichten, schreibt Kolumnen über den Wandel auf der Insel oder an einem | |
neuen Roman. Manchmal steht nachmittags noch ein Interview mit einem | |
kubanischen Künstler an, denn Kunst, Design und Mode sind ihre | |
Steckenpferde. Nur zu gern wäre sie im Mai beim ersten Catwalk von Chanel | |
in Havannas Altstadt dabei gewesen. „Doch ich musste die Einladung | |
ausschlagen, denn mein neues Buch wurde parallel dazu in Madrid vorgestellt | |
– das hat Priorität“, erklärt sie und lässt die Rollläden herunter, weil | |
die Sonne hoch am Himmel Havannas steht. | |
„Domingo de Revolución“, Sonntag der Revolution, heißt der Band, in dem | |
sich Guerra mit der kubanischen Realität auf fiktiver Basis | |
auseinandersetzt. „Im Zentrum des Romans steht Cleo, eine junge Dichterin, | |
die von den Sicherheitsbehörden verdächtigt wird für das Ausland zu | |
spionieren und sich wehrt. Sie ist eine Jeanne d’Arc“, sagt Guerra. | |
## Für einiges Aufsehen gesorgt | |
Der Roman liefert einen Einblick, wie spioniert wird, aber auch einen | |
Ausblick, weil sich in die fiktive Geschichte die kubanische Realität | |
einschleicht. Die Rede von Barack Obama zum Verhältnis zu Kuba, die | |
Verhandlungen zwischen kolumbianischer Regierung und der Farc-Guerilla und | |
auch der Tod ihres Mentors Gabriel García Márquez haben ihren Platz in dem | |
Roman gefunden. Der hat in Spanien, aber auch in Miami für einiges Aufsehen | |
gesorgt. | |
In Deutschland wird es noch dauern, bis man das Buch lesen kann. Hier hat | |
Kubas derzeit bekannteste Autorin keinen Verlag. Nur ihr Debüt, das sie | |
heute als „politischen Striptease“ bezeichnet, ist auf Deutsch mit dem | |
Titel „Alle gehen fort“ in einem kleinen Lateinamerika-Verlag in der | |
Schweiz erschienen. | |
Das soll sich ändern, hofft Wendy Guerra, die den Wandel auf der Insel | |
beobachtet und für die spanische Zeitung El País kommentiert. Ein | |
Meilenstein war zum Beispiel die Visite von Barack Obama in Havanna im | |
letzten März. „Er hat Eindruck gemacht, weil er den richtigen Ton getroffen | |
hat, die Codes drauf hatte und sich wie ein kubanischer Mestizo (Mischling) | |
bewegt. Das Feindbild USA lässt sich mit Obama nicht aufrechterhalten“, | |
urteilt Guerra. | |
## Backlash und neue Polarisierung | |
Wie es allerdings nach der Wahl Trumps zum US-Präsidenten und dem Tod Fidel | |
Castros weitergeht, lässt sich auch für sie schwer einschätzen. Ein | |
Backlash und einen neue Polarisierung drohen. Guerra ist selber mehrfach in | |
den USA gewesen, hat mit anderen Autoren, darunter dem peruanischen | |
Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, Seminare zu Literatur an der | |
Princeton University gegeben, aber ihr Werk auch auf Literaturmessen in | |
Miami und anderswo vorgestellt. | |
Guerra ist alles andere als ein Fan der USA, orientiert sich eher an | |
Spanien und Frankreich, wo alle ihre Bücher erschienen. Zudem besitzt sie | |
einen französischen Pass. Ihre Familie stammt aus Cienfuegos, aus einer | |
Linie ehemals französischer Plantagenbesitzer, die nach der Revolution in | |
Haiti 1803 nach Kuba emigrierte. | |
Cienfuegos, die koloniale Hafenstadt im Zentrum der Insel, fällt mit ihrer | |
klaren architektonischen Gliederung, den sauberen Straßen und dem etwas | |
breiteren Angebot in den Schaufenstern etwas aus dem Rahmen. Dort ist Wendy | |
Guerra als Kind einer Dichterin, die nie verlegt wurde, aber beim Radio | |
arbeitete, und eines Theaterregisseurs aufgewachsen. | |
Auf die Idee, auszuwandern wie so viele andere Kubaner, ist sie trotz aller | |
Schwierigkeiten bislang nie gekommen. „Kuba ist meine Haut, es ist das, was | |
ich esse, was ich trage, was ich erzähle“, lässt die heute in Havanna | |
wohnende Autorin keinen Zweifel daran, dass sie weiterhin in Kuba leben | |
will. Auch wenn der Wandel, der mit der Annäherung an die USA unter Obama | |
sowie den zahlreichen neuen Besuchern aus aller Welt einherging, mit dem | |
Kalten Krieger Trump im Weißen Haus von außen nun kaum mehr beflügelt | |
werden dürfte. | |
12 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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